Soziale Kontrolle: Unterschied zwischen den Versionen

Zur Navigation springen Zur Suche springen
keine Bearbeitungszusammenfassung
Zeile 1: Zeile 1:


====Etymologie====
====Etymologie====
Zeile 8: Zeile 7:
====Definition(en)====
====Definition(en)====


Viele Missverständnisse rühren daher, dass derselbe Begriff von verschiedenen Wissenschaftlern in jeweils unterschiedlichen Bedeutungen benutzt wird. Manche beziehen den Begriff nur auf Reaktionen auf abweichendes Verhalten, andere hingegen auch auf präventive Maßnahmen wie die Erziehung; während manche eher an die interpersonale Interaktionsebene denken, beziehen andere auch die Makrophänomene der Ideologie und Herrschaft mit ein. Die folgende Auflistung zeigt die ganze Bandbreite der Bedeutungen, in denen S. gebraucht wird: Nr.1: "Social control - the art of so combining social forces as to give society at least a trend towards an ideal" (Vincent 1895/96, S. 488); Nr.2: "By Social Control, on the other hand, I mean that ascendancy over the aims and acts of the individual which is exercised on behalf of the group. It is a sway that is not casual or incidental, but is purposive and at its inception conscious. It is kept up partly by definite organs, formally constituted an supported by the will of society, and partly by informal spontaneous agencies that, consciously or unconsciously, serve the social interest and function under constant supervision from above" (Ross 1895/96, S. 519) - "A CONTROL that we have any right to call social has behind it practically the whole weight of society" (Ross 1901, S. 77); Nr.3: Soziale Kontrolle bezeichnet die Methoden, mit denen eine Gesellschaft "widerspenstige Mitglieder auf Vordermann bringt" (Berger/Luckmann 1969, S. 80); Nr.4: Social control is "whatever any individual or group does (in order) to have any other individual or group do something" (Lumley 1925, S. 6f.); Nr.5: "The theory of social control is the obverse of the theory of the genesis of deviant behavior tendencies. It is the analysis of those processes in the social system which tend to counteract the deviant tendencies, and of the conditions under which such pressure will operate" (Parsons 1951, S. 297); Nr.6: "Soziale Kontrolle stellt nicht einen getrennten Sektor des Gruppenlebens dar, ... sondern Kontrolle wohnt in größerem oder geringerem Maße allen Alltagsbeziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe inne ...Der Prozess, durch den Konformität erreicht wird, nennen wir soziale Kontrolle, wenn wir die Erfüllung von Normen im Auge haben" (Homans 1960, S. 94, 271); Nr.7: "Wir definieren Soziale Kontrolle als: soziale Reaktion auf Verhalten, das als abweichend definiert wird, und zwar sowohl Überanpassung an wie Verletzung von Normen" (Clark, Gibbs 1982, S. 157; org. 1965); Nr.8: "Soziale Kontrolle ist ein Handeln, das darauf zielt, abweichendes Verhalten künftig zu verhindern" (Peters 1989, S. 133); Nr.9: "Social control is what gives a social order its power. When effective, social control ritually reduces, expels, or constrains what is 'other' to the dominant organization of power within a specific historical period" (Pfohl 1998, S. 1). - Ein weiter Begriff der S. erscheint dann zweckmäßig, wenn man die Absicht hat, aus der Analyse gesellschaftlicher Bemühungen um die Herstellung von Konformität (und ihrer Lücken und Paradoxien) zur Erklärung von Abweichung, Kriminalität und Kriminalisierung zu gelangen. Dann wäre es gut, unter S. alle Ideologien, Wert- und Normsysteme sowie sozialen und technischen Arrangements einschließlich aller positiven und negativen Sanktionen zu verstehen, die der Verhinderung der Entstehung oder der Wiederholung von unerwünschtem Verhalten dienen (vgl. Scheerer, Hess 1997, S. 103 f.).
Viele Missverständnisse rühren daher, dass derselbe Begriff von verschiedenen Wissenschaftlern in jeweils unterschiedlichen Bedeutungen benutzt wird. Manche beziehen den Begriff nur auf Reaktionen auf abweichendes Verhalten, andere hingegen auch auf präventive Maßnahmen wie die Erziehung; während manche eher an die interpersonale Interaktionsebene denken, beziehen andere auch die Makrophänomene der Ideologie und Herrschaft mit ein. Die folgende Auflistung zeigt die ganze Bandbreite der Bedeutungen, in denen S. gebraucht wird: Nr.1: "Social control - the art of so combining social forces as to give society at least a trend towards an ideal" (Vincent 1895/96, S. 488); Nr.2: "By Social Control, on the other hand, I mean that ascendancy over the aims and acts of the individual which is exercised on behalf of the group. It is a sway that is not casual or incidental, but is purposive and at its inception conscious. It is kept up partly by definite organs, formally constituted an supported by the will of society, and partly by informal spontaneous agencies that, consciously or unconsciously, serve the social interest and function under constant supervision from above" (Ross 1895/96, S. 519) - "A CONTROL that we have any right to call social has behind it practically the whole weight of society" (Ross 1901, S. 77); Nr.3: Soziale Kontrolle bezeichnet die Methoden, mit denen eine Gesellschaft "widerspenstige Mitglieder auf Vordermann bringt" (Berger/Luckmann 1969, S. 80); Nr.4: Social control is "whatever any individual or group does (in order) to have any other individual or group do something" (Lumley 1925, S. 6f.); Nr.5: "The theory of social control is the obverse of the theory of the genesis of deviant behavior tendencies. It is the analysis of those processes in the social system which tend to counteract the deviant tendencies, and of the conditions under which such pressure will operate" (Parsons 1951, S. 297); Nr.6: "Soziale Kontrolle stellt nicht einen getrennten Sektor des Gruppenlebens dar, ... sondern Kontrolle wohnt in größerem oder geringerem Maße allen Alltagsbeziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe inne ...Der Prozess, durch den [[Konformität]] erreicht wird, nennen wir soziale Kontrolle, wenn wir die Erfüllung von Normen im Auge haben" (Homans 1960, S. 94, 271); Nr.7: "Wir definieren Soziale Kontrolle als: soziale Reaktion auf Verhalten, das als abweichend definiert wird, und zwar sowohl Überanpassung an wie Verletzung von Normen" (Clark, Gibbs 1982, S. 157; org. 1965); Nr.8: "Soziale Kontrolle ist ein Handeln, das darauf zielt, abweichendes Verhalten künftig zu verhindern" (Peters 1989, S. 133); Nr.9: "Social control is what gives a social order its power. When effective, social control ritually reduces, expels, or constrains what is 'other' to the dominant organization of power within a specific historical period" (Pfohl 1998, S. 1). - Ein weiter Begriff der S. erscheint dann zweckmäßig, wenn man die Absicht hat, aus der Analyse gesellschaftlicher Bemühungen um die Herstellung von Konformität (und ihrer Lücken und Paradoxien) zur Erklärung von Abweichung, Kriminalität und Kriminalisierung zu gelangen. Dann wäre es gut, unter S. alle Ideologien, Wert- und Normsysteme sowie sozialen und technischen Arrangements einschließlich aller positiven und negativen Sanktionen zu verstehen, die der Verhinderung der Entstehung oder der Wiederholung von unerwünschtem Verhalten dienen (vgl. Scheerer, Hess 1997, S. 103 f.).




====Vergangenheit====
====Vergangenheit====


In der Geschichte der Verwendung des Begriffs ist eine derartige "analytische", von präjudizierenden Elementen weitgehend freie Definition, immer mal wieder vorgeschlagen und benutzt worden. Überwiegend hatte man den Wert des Begriffs jedoch gerade in den positiven oder negativen Bewertungen gesehen, die man mit ihm verband. In der ersten und dritten Phase der Geschichte des Begriffs war das am deutlichsten. Die erste Phase reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit sah man in "social control" das ideale Mittel zur Harmonisierung individueller Interessen, um das Gemeinwohl zu befördern. Im Gegensatz zur unbewußten "natural" und zur autoritären "class" control bezeichnete "social control" (Def. 1 und 2) die Kunst, Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugungen und Zielvorstellungen dazu zu bringen, "to live closely together, and to associate their efforts with that degree of harmony we see about us" (Ross 1901, S. 3). - Unter der Ägide des Strukturfunktionalismus (Parsons) wurde S. nicht mehr explizit idealisiert; die implizit positive Bewertung von S. als eines Faktors der Stabilisierung des sozialen Systems, welche die zweite Phase in der Begriffsgeschichte charakterisierte, endete mit der Hegemonie des Strukturfuntkionalismus Mitte der 60er Jahre. Mit Herbert Marcuses Arbeit über "Neue Formen der sozialen Kontrolle" begann eine Phase, in der die umgekehrte Bewertung dominierte. Wer von sozialer Kontrolle sprach, bezog sich auf (meistens verschleierte) Herrschaftsmechanismen und (illegitime) Unterdrückungszusammenhänge. Anders als im Diskurs der Progressive Era war soziale Kontrolle nicht mehr die Bezeichnung eines von Reformkräften angestrebten Ideals, sondern der Höhepunkt der Anklage in einem Entlarvungsdiskurs. S. bezeichnete (illegitime) Mittel der Herrschafts- und Systemstabilisierung. Zu sagen, dass ein bestimmter Vorgang der sozialen Kontrolle diene, bedeutete zugleich, seine Herrschaftsfunktion zu entlarven ("Sozialpolitik als soziale Kontrolle" etc.). S. meinte die Eigenschaft der industriellen Gesellschaft, "dass sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen" (Marcuse 1964/67, S. 27). Oft waren es die Wissenschaftler, die den Begriff in diesem Sinne inflationär gebraucht und zu Schanden geritten hatten, die des Wortes in einer vierten Phase dann überdrüssig werden und es u.a. als Micky-Maus-Konzept verächtlich machen sollten. In den 80er Jahren wurde häufig vorgeschlagen, das Konzept aufzugeben und zu ersetzen durch Ausdrücke wie "Sozialdisziplinierung" bzw. "Exklusion". Es sollte sich aber zeigen, dass das mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war, die sich nicht ohne weiteres überwinden ließen. Einfacher war es da schon, den Begriff von polemischen Konnotationen aller Art zu befreien und ihn als rein analytisches Instrument zu benutzen. Das war immer mal wieder auch früher schon gefordert worden. Aber nun, in der fünften Phase, wurde diese Idee revitalisiert. Heute bezeichnet S. deshalb wieder öfter als früher "die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die abweichendes Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft ... verhindern oder einschränken" (Hartfiel 1972, S. 355) oder "die in der Hand einer Gesellschaft liegende Menge materieller und symbolischer Ressourcen zur Sicherstellung der Konformität des Verhaltens ihrer Mitglieder im Hinblick auf eine Menge von verbindlichen und sanktionierten Regeln und Prinzipien" (Boudon, Bourricaud 1992, S. 476). Die Untersuchung der S. interessiert sich für die Methoden, Funktionen und Lücken der Bemühungen um die Herstellung von Konformität und um die Prozesse und Kämpfe, die zur Entstehung von Kriminalität und Kriminalisierung führen. Die Erforschung der S. kreist um Fragen wie diese: wer definiert wessen Verhalten als unerwünscht, wer versucht dieses Verhalten warum und wie und mit welchen ungewollten Auswirkungen zu verhindern oder einzuschränken?
In der Geschichte der Verwendung des Begriffs ist eine derartige "analytische", von präjudizierenden Elementen weitgehend freie Definition, immer mal wieder vorgeschlagen und benutzt worden. Überwiegend hatte man den Wert des Begriffs jedoch gerade in den positiven oder negativen Bewertungen gesehen, die man mit ihm verband. In der ersten und dritten Phase der Geschichte des Begriffs war das am deutlichsten. Die erste Phase reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit sah man in "social control" das ideale Mittel zur Harmonisierung individueller Interessen, um das Gemeinwohl zu befördern. Im Gegensatz zur unbewußten "natural" und zur autoritären "class" control bezeichnete "social control" (Def. 1 und 2) die Kunst, Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugungen und Zielvorstellungen dazu zu bringen, "to live closely together, and to associate their efforts with that degree of harmony we see about us" (Ross 1901, S. 3). - Unter der Ägide des Strukturfunktionalismus (Parsons) wurde S. nicht mehr explizit idealisiert; die implizit positive Bewertung von S. als eines Faktors der Stabilisierung des sozialen Systems, welche die zweite Phase in der Begriffsgeschichte charakterisierte, endete mit der Hegemonie des Strukturfuntkionalismus Mitte der 60er Jahre. Mit Herbert Marcuses Arbeit über "Neue Formen der sozialen Kontrolle" begann eine Phase, in der die umgekehrte Bewertung dominierte. Wer von sozialer Kontrolle sprach, bezog sich auf (meistens verschleierte) Herrschaftsmechanismen und (illegitime) Unterdrückungszusammenhänge. Anders als im Diskurs der Progressive Era war soziale Kontrolle nicht mehr die Bezeichnung eines von Reformkräften angestrebten Ideals, sondern der Höhepunkt der Anklage in einem Entlarvungsdiskurs. S. bezeichnete (illegitime) Mittel der Herrschafts- und Systemstabilisierung. Zu sagen, dass ein bestimmter Vorgang der sozialen Kontrolle diene, bedeutete zugleich, seine Herrschaftsfunktion zu entlarven ("Sozialpolitik als soziale Kontrolle" etc.). S. meinte die Eigenschaft der industriellen Gesellschaft, "dass sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen" (Marcuse 1964/67, S. 27). Oft waren es die Wissenschaftler, die den Begriff in diesem Sinne inflationär gebraucht und zu Schanden geritten hatten, die des Wortes in einer vierten Phase dann überdrüssig werden und es u.a. als Micky-Maus-Konzept verächtlich machen sollten. In den 80er Jahren wurde häufig vorgeschlagen, das Konzept aufzugeben und zu ersetzen durch Ausdrücke wie "Sozialdisziplinierung" bzw. "Exklusion". Es sollte sich aber zeigen, dass das mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war, die sich nicht ohne weiteres überwinden ließen. Einfacher war es da schon, den Begriff von polemischen Konnotationen aller Art zu befreien und ihn als rein analytisches Instrument zu benutzen. Das war immer mal wieder auch früher schon gefordert worden. Aber nun, in der fünften Phase, wurde diese Idee revitalisiert. Heute bezeichnet S. deshalb wieder öfter als früher "die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die abweichendes Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft ... verhindern oder einschränken" (Hartfiel 1972, S. 355) oder "die in der Hand einer Gesellschaft liegende Menge materieller und symbolischer Ressourcen zur Sicherstellung der [[Konformität]] des Verhaltens ihrer Mitglieder im Hinblick auf eine Menge von verbindlichen und sanktionierten Regeln und Prinzipien" (Boudon, Bourricaud 1992, S. 476). Die Untersuchung der S. interessiert sich für die Methoden, Funktionen und Lücken der Bemühungen um die Herstellung von Konformität und um die Prozesse und Kämpfe, die zur Entstehung von Kriminalität und Kriminalisierung führen. Die Erforschung der S. kreist um Fragen wie diese: wer definiert wessen Verhalten als unerwünscht, wer versucht dieses Verhalten warum und wie und mit welchen ungewollten Auswirkungen zu verhindern oder einzuschränken?




83

Bearbeitungen

Navigationsmenü