Labeling Approach: Unterschied zwischen den Versionen

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1. Der Begriff ''label'' (engl.) geht auf das Alt-Französische ''label'', ''lambel'' (später ''lambeau'') zurück und wurde dort wahrscheinlich von dem Fränkischen ''labba'' oder dem wortverwandten ''lappa'' aus dem Althochdeutschen abgeleitet.<br>
1. Der Begriff ''label'' (engl.) geht auf das Alt-Französische ''label'', ''lambel'' (später ''lambeau'') zurück und wurde dort wahrscheinlich von dem Fränkischen ''labba'' oder dem wortverwandten ''lappa'' aus dem Althochdeutschen abgeleitet.<br>
In seiner ursprünglichen Verwendung bedeutete er soviel wie Fetzen oder Lumpen und wurde dann später für Zettel verwendet, die zur Kennzeichnung an verschiedenste Objekte befestigt wurden. Dementsprechend kann label ''n'' heute wörtlich mit Etikett, Kennzeichnung oder Markierung bzw. label-ing ''v'' mit etikettieren, kennzeichnen oder markieren übersetzt werden.
In seiner ursprünglichen Verwendung bedeutete er soviel wie Fetzen oder Lumpen und diente später auch der Bezeichnung für Zettel, die zur Kennzeichnung an verschiedenste Objekte befestigt wurden. Dementsprechend kann label ''n'' heute wörtlich mit Etikett, Kennzeichnung oder Markierung bzw. label-ing ''v'' mit etikettieren, kennzeichnen oder markieren übersetzt werden.
Der Begriff ''approach'' (engl.) ''n'', geht auf das Mittelenglische ''approchen'' zurück. Abgeleitet wurde er vom Alt-Französischen ''aprochier'' (jetzt ''approcher'') und wurde dort von dem Lateinischen ''appropiare'' übernommen. In seiner wörtlichen Übersetzung bedeutet er soviel wie Annäherung ''n'' bzw. ''v'' sich annähern an, an etwas herantreten.
Der Begriff ''approach'' (engl.) ''n'', geht auf das Mittelenglische ''approchen'' zurück. Abgeleitet wurde er vom Alt-Französischen ''aprochier'' (jetzt ''approcher'') und wurde dort von dem Lateinischen ''appropiare'' übernommen. In seiner wörtlichen Übersetzung bedeutet er soviel wie Annäherung ''n'' bzw. ''v'' sich annähern an, an etwas herantreten.


 
2. Der Begriff L.A. umschreibt eine in den 50er-Jahren aufgekommene und Ende der 60er-Jahren in Deutschland rezepierte kriminalsoziologische Strömung, deren Vertreter im Gegensatz zu früheren Erklärungsversuchen [[abweichendes Verhalten]] nicht als Merkmal individueller Anlagen oder Qualität einer bestimmten Handlung, sondern als das Produkt gesellschaftlicher Definitions- und Zuschreibungsprozesse qualifizieren.<br>
2. Der Begriff L.A. umschreibt eine in den 50er-Jahren aufgekommene und Ende der 60er-Jahren in Deutschland rezepierte kriminalsoziologische Strömung, deren Vertreter im Gegensatz zu vorangegangenen Erklärungsversuchen abweichendes Verhalten nicht als Merkmal individueller Anlagen oder Qualität einer bestimmten Handlung, sondern als das Produkt gesellschaftlicher Definitions- und Zuschreibungsprozesse qualifizieren.<br>
In den Labeling-Ansätzen wird also nicht mehr nach täter- oder situationsspezifischen Ursachen für abweichendes bzw. kriminelles Verhalten gefragt, sondern danach, wie sich der Prozess der [[Kriminalisierung]] vollzieht. Sehr unterschiedlich wird dabei auf makrosoziologischer Ebene mit der Definitions- und Selektionsmacht der Kontrollinstanzen und /oder mikrosoziologisch mit der stigmatisierenden Wirkung von Sanktionen bzw. deren Einfluss auf den Verlauf einer kriminellen Karriere argumentiert. Allen gemein ist aber, dass es die sozialen Reaktionen auf bestimmte Verhaltensweisen sind, die den zentralen Bezugspunkt für die Erklärung abweichenden Verhaltens Einzelner bzw. der Konstitution von Kriminalität in der Gesellschaft insgesamt bilden und in diesem Zusammenhang der Einfluss der sozialen Kontrolle (vgl. >[[soziale Kontrolle]]) in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen und Ausprägungen zum Gegenstand der Überprüfung gemacht wird.<br>
In den Labeling-Ansätzen wird also nicht mehr nach täter- oder situationsspezifischen Ursachen für abweichendes bzw. kriminelles Verhalten gefragt, sondern danach, wie sich der Prozess der Kriminalisierung vollzieht. Sehr unterschiedlich wird dabei auf makrosoziologischer Ebene mit der Definitions- und Selektionsmacht der Kontrollinstanzen und /oder mikrosoziologisch mit den Erfahrungen von Etikettierung und Stigmatisierung als Ursache für die Verfestigung devianter Verhaltensmuster argumentiert. Allen gemein ist aber, dass die Bedeutung der sozialen Reaktion auf bestimmte Verhaltensweisen den zentralen Bezugspunkt für die Erklärung abweichenden Verhaltens Einzelner bzw. der Konstitution von Kriminalität in der Gesellschaft insgesamt bildet und in diesem Zusammenhang der Einfluss der sozialen Kontrolle in ihren unterschiedlichsten Erscheinungsformen und Ausprägungen zum Gegenstand der Überprüfung gemacht wird.<br>
Die Ansicht, dass „Abweichung“ und „Kriminalität“ nicht länger als deskriptive Kategorien gelten können, deren Erscheinung sich an objektiven Kriterien festmachen lässt, sondern vielmehr das Rechts- und Normenverständnis als solches und die bei der Beurteilung eines Verhaltens als "abweichend" bzw. "kriminell" maßgebenden Definitions- Interpretations- und Aushandlungsprozesse zum Gegenstand der Analyse gemacht werden müssen, markiert einen klaren Bruch zum Selbstverständnis der traditionellen Kriminologie mit ihrer Anbindung an staatliche und juristische Institutionen, da es v.a. das Handeln der Akteure der sozialen Kontrolle ist, welches hier in den Fokus gerät. Aus diesem Grund hat sich für diese Perspektive auch die Bezeichnung „neu“, „kritisch“ bzw. in Bezug auf spätere Ausführungen auch „radikal“ durchgesetzt.<br>
Die Ansicht, dass „Abweichung“ und „Kriminalität“ nicht länger als deskriptive Kategorien gelten können, deren Erscheinung sich an objektiven Kriterien festmachen lässt, sondern vielmehr das Rechts- und Normenverständnis als solches und die dort stattfindenden Definitions- Interpretations- und Aushandlungsprozessen zum Gegenstand der Analyse gemacht werden müssen, markiert einen klaren Bruch zum Selbstverständnis der traditionellen Kriminologie und ihrer Anbindung an staatliche und juristische Institutionen, da es v.a. das Handeln der Akteure der sozialen Kontrolle ist, welches hier in den Fokus gerät. Aus diesem Grund hat sich für diese Perspektive auch die Bezeichnung „neu“, „kritisch“ bzw. in Bezug auf spätere Ausführungen auch „radikal“ durchgesetzt.<br>
Die z. T. sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Labeling-Ansätze machen es nahezu unmöglich, so etwas wie eine allgemeine Argumentationslinie für diese Perspektive aufzuzeigen. Sehr verallgemeinert wird zunächst argumentiert, dass „Abweichung“ in einer Gesellschaft erst dadurch entsteht, als dass bestimmte Verhaltensweisen von den formellen wie auch den informellen  Kontrollinstanzen zunächst so definiert werden (Fokussierung der Normsetzungsebene) und eben diese Definition dann personen- bzw. gruppenspezifisch unterschiedlich angewendet, das Merkmal insofern nur bestimmten Personen(-kreisen) zugeschrieben wird (Fokussierung der Normanwendungsebene). Relevant werden in diesem Zusammenhang schichtspezifische Unterschiede und Aspekte politischer bzw. allgemein gesellschaftlicher [[Macht]], die es bestimmten Personen(-gruppen) überhaupt erst ermöglicht, andere „erfolgreich“ als abweichend definieren bzw. behandeln zu können.<br>
Die z. T. sehr unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen der Labeling-Ansätze machen es nahezu unmöglich, so etwas wie eine allumfassende Argumentationslinie für diese Perspektive aufzuzeigen. Sehr verallgemeinert formuliert wird zum einen die Auffassung vertreten, dass „Abweichung“ in einer Gesellschaft erst dadurch entsteht, als dass bestimmte Verhaltensweisen von den formellen wie auch den informellen  Kontrollinstanzen zunächst als „abweichend“ definiert werden (Fokussierung der Normsetzungsebene) und diese Definition dann personen- bzw. gruppenspezifisch unterschiedlich angewendet, das Merkmal insofern nur bestimmten Personen(-kreisen) zugeschrieben wird (Fokussierung der Normanwendungsebene). Relevant werden in diesem Zusammenhang schichtspezifische Unterschiede und Aspekte politischer bzw. allgemein gesellschaftlicher Macht, die es bestimmten Personen(-gruppen) überhaupt erst ermöglicht, andere „erfolgreich“ als abweichend definieren bzw. behandeln zu können.<br>
An diese durch bestimmte Instanzen bzw. Personen vorgenommene Etikettierung anderer als "kriminell" knüpfen wiederum weitere Ansätze an, indem sie die ''Wirkung'' eben dieser Zuschreibung ''auf individueller Ebene'' problematisieren. Hervorgehoben werden hier die Schwierigkeiten und Probleme, die sich für die Betroffenen daraus ergeben, öffentlich als abweichend oder kriminell abgestempelt worden zu sein. <br>
Anderen Ansätzen hingegen wird die Annahme zugrunde gelegt, dass die auf eine Person erfolgreich angewendete Definition „Abweichung“ und die damit verbundene gesellschaftliche Degradierung eine Sich-Selbsterfüllende-Prophezeihung („selffulfilling-prophecy“) bei dem Betroffenen in Gang setzt, der zufolge er sich zunehmend selbst als Abweichler begreift, dieser ihm zugeschriebenen Rolle entsprechend handelt und so immer weiter in die kriminelle Rolle hineingedrängt wird.<br>
Je nachdem, wo die Schwerpunkte der Argumentation gesetzt werden, wird der L.A. auch als Definitions-, Etikettierungs- oder Reaktionsansatz und aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem früher vorherrschenden ätiologischen ([[Ätiologie]]) Bezugsrahmen in der Kriminologie z.T. auch als Kontrollparadigma bezeichnet (zum Paradigmenstreit vgl. u.a. Keckeisen 1976, 23ff. ; Lamnek 1997, 25ff.).
Je nachdem, wo die Schwerpunkte der Argumentation gesetzt werden, wird der L.A. auch als Definitions-, Etikettierungs- oder Reaktionsansatz und aufgrund seiner Unvereinbarkeit mit dem früher vorherrschenden ätiologischen ([[Ätiologie]]) Bezugsrahmen in der Kriminologie z.T. auch als Kontrollparadigma bezeichnet (zum Paradigmenstreit vgl. u.a. Keckeisen 1976, 23ff. ; Lamnek 1997, 25ff.).


 
3. Die Entwicklung des L.A. kann hier nur überblicksartig anhand der Annahmen derer erfolgen, die in ihren Ansätzen richtungsweisende Ausführungen gemacht haben und in der Literatur daher auch ganz überwiegend als Hauptvertreter dieser Strömung angeführt werden:
3. Die Entwicklung des L.A. kann hier nur überblicksartig anhand der Annahmen derer erfolgen, die in ihren Ansätzen richtungsweisende Ausführungen gemacht haben und daher wohl als Hauptvertreter dieser Strömung zu nennen sind:
''Frank Tannenbaum'' war 1938 der erste, der mit der Formulierung „''the young delinquent becomes bad, because he is defined as bad''“ (vgl. 1951, 17) auf die Bedeutung sozialer Reaktionen für abweichendes Verhalten hingewiesen hat, jedoch damit kaum Beachtung fand. Populär geworden ist der L.A. erst durch das Wiederaufgreifen diesen Gedankens durch ''Edwin M. Lemert'' und ''Howard S. Becker'' (1951). Welcher von beiden als der eigentliche Wiederentdecker des L.A. gilt, ob ''Lemert'' mit der erstmaligen Formulierung der für den (gemäßigten) L.A. zentralen ''Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz'' oder ''Becker'', dessen  Formulierung “''the deviant is one to whom that label has been successfully applied: deviant behavior is behavior that people so label''“ (vgl. 1963, 9) dem L.A. möglicherweise erst seine Bezeichnung verliehen hat, ist strittig. Jedenfalls haben beide etwa zeitgleich ihre Arbeiten publiziert.<br>
Frank Tannenbaum war 1938 der erste, der mit der Formulierung „''the young delinquent becomes bad, because he is defined as bad''“ (vgl. 1951, 17) auf die Bedeutung sozialer Reaktionen für abweichendes Verhalten hingewiesen hat, jedoch diesbezüglich kaum Beachtung fand. Populär geworden ist der L.A. erst durch das Wiederaufgreifen diesen Gedankens durch ''Edwin M. Lemert'' und ''Howard S. Becker'' (1951). Welcher von beiden als der eigentliche Wiederentdecker des L.A. gilt, ob ''Lemert'' mit der erstmaligen Formulierung der für den (gemäßigten) L.A. zentralen ''Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz'' oder ''Becker'', dessen  Formulierung “''the deviant is one to whom that label has been successfully applied: deviant behavior is behavior that people so label''“ (vgl. 1963, 9) dem L.A. möglicherweise erst seine Bezeichnung verliehen hat, ist strittig. Jedenfalls haben beide etwa zeitgleich ihre Arbeiten publiziert.<br>
Unter Zugrundelegung der Annahmen der durch ''George H. Mead'' geprägten ''Theorie des symbolischen Interaktionismus'' beschreibt Lemert, wie Reaktionen des sozialen Umfeldes auf das ''ursprünglich abweichende Verhalten'' einer Person -welches er ''primäre Devianz'' nennt- in dem Adressaten das Bewusstsein hervorgerufen können, „abweichend“ zu sein, dieser sodann in Bemühung um die Konsistenz seiner Identität beginnt, sich der ihm zugeschriebenen Rolle anzupassen und weitere Ausgrenzungen und stärkere Stigmatisierungen schließlich dazu führen können, dass der Betroffene sein Selbstbild soweit ändert, dass er seine neue soziale Rolle akzeptiert und infolgedessen weitere Abweichungen zeigt. Diese ''weitergehenden Abweichungen'' sind es dann, die er als ''sekundäre Devianz'' bezeichnet (1975,434f.).<br>
Unter Zugrundelegung der Annahmen der durch ''George H. Mead'' geprägten ''Theorie des symbolischen Interaktionismus'' beschreibt Lemert, wie Reaktionen des sozialen Umfeldes auf das ''ursprünglich abweichende Verhalten'' einer Person, welches er ''primäre Devianz'' nennt – angeführt werden in diesem Zusammenhang Bestrafung, Isolierung und soziale Kontrolle – in dem Adressaten das Bewusstsein hervorgerufen können, „abweichend“ zu sein, dieser sodann in Bemühung um die Konsistenz seiner Identität beginnt, sich der ihm zugeschriebenen Rolle anzupassen und weitere Ausgrenzungen und stärkere Stigmatisierungen schließlich dazu führen können, dass der Betroffene sein Selbstbild soweit ändert, dass er seine neue soziale Rolle akzeptiert und infolgedessen weitere Abweichungen zeigt. Diese ''weitergehenden Abweichungen'' sind es dann, die er als ''sekundäre Devianz'' bezeichnet (1975,434f.).<br>
Der primären Devianz schreibt er dabei insgesamt eine nur untergeordnete Rolle zu ; die für ihn maßgebliche (sekundäre) Devianz manifestiert sich erst in Handlungen, die der Betroffene vornimmt, weil er aufgrund des ihm verliehenen Etiketts „kriminell“ (zunehmend) zu der Überzeugung gelangt, dass entsprechende Verhaltensmuster ohnehin von ihm erwartet werden. Die Verfestigung krimineller Verhaltensmuster vollzieht sich dabei in einem Aufschaukelungsprozess zwischen immer stärker werdenden Stigmatisierungen seitens der Gesellschaft auf der einen und der Anpassung des Betroffenen an die Rolle des Abweichlers auf der anderen Seite und kann in der stärksten Ausprägung zu einer völligen „Reorganisation des Selbst“ und damit der Übernahme einer kriminellen Identität führen.<br>
Der primären Devianz schreibt er dabei insgesamt eine nur untergeordnete Rolle zu ; die für ihn maßgebliche (sekundäre) Devianz manifestiert sich erst in Handlungen, die der Betroffene vornimmt, weil er aufgrund des ihm verliehenen Etiketts „kriminell“ (zunehmend) zu der Überzeugung gelangt, dass entsprechende Verhaltensmuster ohnehin von ihm erwartet werden. Die Verfestigung krimineller Verhaltensmuster vollzieht sich dabei in einem Aufschaukelungsprozess zwischen immer stärker werdenden Stigmatisierungen seitens der Gesellschaft auf der einen und der Anpassung des Betroffenen an die Rolle des Abweichlers auf der anderen Seite und kann in der stärksten Ausprägung zu einer völligen „Reorganisation des Selbst“ und damit der Übernahme einer kriminellen Identität führen.<br>
Auch Becker argumentiert in seinem Modell der „abweichenden Laufbahn“ damit, dass die Sanktionierung der als abweichend definierten Verhaltensweisen aufgrund ihrer Stigmatisierungswirkung zu einer Reduzierung der Möglichkeiten des Betroffenen führt, sich normkonform zu verhalten (vgl. 1975,23ff.) erweitert dieses jedoch um einen weiteren Gedanken, indem er über den Aspekt der ''Zuschreibung'' des Merkmals „Abweichung“ und den sich daraus ergebenen Problemen für die Betroffenen hinaus auch den der ''Normsetzung'' in seine Theorie mit einbezieht: Seiner Meinung nach enthält keine Verhaltensweise per se die Qualität „Abweichung“, sondern wird erst von den Normsetzern einer Gesellschaft als eine solche definiert ; insofern plädiert er auch dafür, in Fällen von Normverstößen zunächst von ''Regelverletzungen'' zu sprechen (vgl. 1975, 21f). Wirksam wird diese Definition aber erst mit ihrer Anwendung, wobei insofern selektiv vorgegangen wird, als dass gleichartige Verhaltensweisen situations- und personenspezifisch unterschiedlich – als entweder abweichend oder nicht-abweichend – definiert werden.<br>
Auch Becker argumentiert in seinem Modell der „abweichenden Laufbahn“ damit, dass die Sanktionierung der als abweichend definierten Verhaltensweisen aufgrund ihrer Stigmatisierungswirkung zu einer Reduzierung der Möglichkeiten des Betroffenen führt, sich normkonform zu verhalten (vgl. 1975,23ff.) erweitert dieses jedoch um einen weiteren Gedanken, indem er über den Aspekt der ''Zuschreibung'' des Merkmals „Abweichung“ und den sich daraus ergebenen Problemen für die Betroffenen hinaus auch den der ''Normsetzung'' in seine Theorie mit einbezieht: Seiner Meinung nach enthält keine Verhaltensweise per se die Qualität „Abweichung“, sondern wird erst von den Normsetzern einer Gesellschaft als eine solche definiert ; insofern plädiert er auch dafür, in Fällen von Normverstößen zunächst von ''Regelverletzungen'' zu sprechen (vgl. 1975, 21f). Wirksam wird diese Definition aber erst mit ihrer Anwendung, wobei insofern selektiv vorgegangen wird, als dass gleichartige Verhaltensweisen situations- und personenspezifisch unterschiedlich – als entweder abweichend oder nicht-abweichend – definiert werden.<br>
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Die Ende der 60er- Anfang der 70er - Jahre beginnende Rezeption des L.A. in Deutschland ist der Verdienst von ''Fritz Sack'' mit der Formulierung seines radikalen Ansatzes (1968).
Die Ende der 60er- Anfang der 70er - Jahre beginnende Rezeption des L.A. in Deutschland ist der Verdienst von ''Fritz Sack'' mit der Formulierung seines radikalen Ansatzes (1968).
Als „radikal“ deswegen bezeichnet, weil er im Gegensatz zu anderen Vertretern jede Ursachenforschung ablehnt und ausschließlich auf Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Gesellschaft als Grund für das Auftreten von Kriminalität in der Gesellschaft abstellt. Seinen Annahmen, die er 1968 als „''Neue Perspektiven in der Kriminologie''“ vorgestellte, liegen die v.a. durch ''Harold Garfinkel'', ''Aaron V. Cicourel'' und ''Harvey Sacks'' geprägten Grundzüge der ''Ethnomethodologie'' zugrunde, welche ihrerseits die der ''Phänomenologie'' von ''Alfred Schütz'' mit denen des ''symbolischen Interaktionismus'' verbindet.
Als „radikal“ deswegen bezeichnet, weil er im Gegensatz zu anderen Vertretern jede Ursachenforschung ablehnt und ausschließlich auf Definitions- und Zuschreibungsprozesse der Gesellschaft als Grund für das Auftreten von Kriminalität in der Gesellschaft abstellt. Seinen Annahmen, die er 1968 als „''Neue Perspektiven in der Kriminologie''“ vorgestellte, liegen die v.a. durch ''Harold Garfinkel'', ''Aaron V. Cicourel'' und ''Harvey Sacks'' geprägten Grundzüge der ''Ethnomethodologie'' zugrunde, welche ihrerseits die der ''Phänomenologie'' von ''Alfred Schütz'' mit denen des ''symbolischen Interaktionismus'' verbindet.
Vorangestellt wird die Behauptung, dass abweichendes Verhalten ''ubiquitär'', d.h. gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilt, also eine normale Erscheinung ist und erst durch die Instanzen der sozialen Kontrolle die Entscheidung getroffen wird, wem das Attribut „abweichend“ tatsächlich zugeschrieben wird.<br>
Vorangestellt wird die Behauptung, dass abweichendes Verhalten [[''ubiquitär'']], d.h. gleichmäßig über alle Bevölkerungsschichten verteilt, also eine normale Erscheinung ist und erst durch die Instanzen der sozialen Kontrolle die Entscheidung getroffen wird, wem das Attribut „abweichend“ tatsächlich zugeschrieben wird.<br>
Strafrechtlichen Normen erkennt er insofern ein eigenständiges Definitionspotential ab, als dass die Qualifizierung eines Verhaltens als „abweichend“ seiner Meinung nach entscheidend von der Interpretation des darunter subsumierten Sachverhaltes durch die Parteien eines Rechtsstreites (mit-) beeinflusst wird (vgl. 1968,465). Es ist für ihn somit nicht das Geschehen als solches, sondern die Interpretation und Rekonstruktion desselben, wodurch Kriminalität in der Gesellschaft erzeugt wird.<br>
Strafrechtlichen Normen erkennt er insofern ein eigenständiges Definitionspotential ab, als dass die Qualifizierung eines Verhaltens als „abweichend“ seiner Meinung nach entscheidend von der Interpretation des darunter subsumierten Sachverhaltes durch die Parteien eines Rechtsstreites (mit-) beeinflusst wird (vgl. 1968,465). Es ist für ihn somit nicht das Geschehen als solches, sondern die Interpretation und Rekonstruktion desselben, wodurch Kriminalität in der Gesellschaft erzeugt wird.<br>
Da die Definitions- und Selektionsmacht der – vor allem, aber nicht ausschließlich – formellen  Kontrollinstanzen geeignet ist, die soziale Struktur ständig neu zu produzieren, plädiert Sack dafür, Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als ein „negatives Gut“ analog zu den positiven Gütern wie Vermögen oder Einkommen zu verstehen, dessen Verteilung ebenso ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist wie solche, die die Verteilung positiver Güter in einer Gesellschaft regeln (1968,469f.). Die Zuweisung in kriminelle Rollen hinein hängt dabei seiner Meinung nach maßgeblich von der sozialen Schicht und der Familiensituation des Betroffenen ab, da Personen aus schlechten sozialen Verhältnissen  eher von anderen als abweichend bzw. als kriminell definiert werden, als Personen höherer Schichten.(vgl.1968,472f.). Diese Selektionsmechanismen konstruieren Sacks Meinung nach so die „soziale Realität“ dessen, was in einer Gesellschaft auf der einen Seite als normgerechtes und auf der anderen als abweichendes Verhalten gilt (1968,475).<br>  
Da die Definitions- und Selektionsmacht der – vor allem, aber nicht ausschließlich – formellen  Kontrollinstanzen geeignet ist, die soziale Struktur ständig neu zu produzieren, plädiert Sack dafür, Kriminalität nicht als ein Verhalten, sondern als ein „negatives Gut“ analog zu den positiven Gütern wie Vermögen oder Einkommen zu verstehen, dessen Verteilung ebenso ein Produkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung ist wie solche, die die Verteilung positiver Güter in einer Gesellschaft regeln (1968,469f.). Die Zuweisung in kriminelle Rollen hinein hängt dabei seiner Meinung nach maßgeblich von der sozialen Schicht und der Familiensituation des Betroffenen ab, da Personen aus schlechten sozialen Verhältnissen  eher von anderen als abweichend bzw. als kriminell definiert werden, als Personen höherer Schichten.(vgl.1968,472f.). Diese Selektionsmechanismen konstruieren Sacks Meinung nach so die „soziale Realität“ dessen, was in einer Gesellschaft auf der einen Seite als normgerechtes und auf der anderen als abweichendes Verhalten gilt (1968,475).<br>  
Wie oben schon angedeutet, sind eine Vielzahl weiterer Ansätze mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen formuliert worden, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden können. Insofern als weiterer Vertreter aus dem angloamerikanischen Raum ist noch ''Edwin M. Schur'' anzuführen.<br>
Wie oben schon angedeutet, sind eine Vielzahl weiterer Ansätze mit ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen formuliert worden, die in diesem Artikel nicht berücksichtigt werden können. Als weitere Vertreter aus dem angloamerikanischen Raum sind hier insofern nur noch ''Edwin M. Schur'' und ''Thomas Scheff'' anzuführen.<br>
Für den deutschsprachigen Raum ist v.a. noch ''Stephan Quensel'' zu nennen, der in seinem „''Teufelskreis-Modell''“ den Labeling-Gedanken mit psychoanalytischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen verbindet (1970, 377ff.). In seinem 8-stufigen Modell beschreibt er, wie verschiedene Phasen fehlgeschlagener Interaktionen zwischen Jugendlichen und den Instanzen sozialer Kontrolle die Verfestigung abweichenden Verhaltens zur Folge haben können.<br>
Für den deutschsprachigen Raum ist v.a. noch ''Stephan Quensel'' zu nennen, der in seinem „''Teufelskreis-Modell''“ den Labeling-Gedanken mit psychoanalytischen und sozialisationstheoretischen Überlegungen verbindet (1970, 377ff.). In seinem 8-stufigen Modell beschreibt er, wie verschiedene Phasen fehlgeschlagener Interaktionen zwischen Jugendlichen und den Instanzen sozialer Kontrolle die Verfestigung abweichenden Verhaltens zur Folge haben können.<br>
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass delinquentes wie kriminelles Verhalten von Jugendlichen immer der Versuch ist, ein bestehendes Problem zu lösen (1970,377.). Bleibt dieses (ursprüngliche) Problem ungelöst und kommt es infolge weiterer Abweichungen zu stärkeren Stigmatisierungen, verfestigt sich die kriminelle Karriere. Der Prozess der Kriminalisierung wird dabei je eher und wahrscheinlicher eintreten bzw. voranschreiten, desto stärker die Sozialisationsbelastungen und -bedingungen des Jugendlichen sind, desto früher dessen kriminelle Karriere begonnen hat und desto später dabei das (ursprüngliche) Problem erkannt wurde sowie je fehlgeschlagener die Reaktion auf die Abweichung ausgefallen ist.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist, dass delinquentes wie kriminelles Verhalten von Jugendlichen immer der Versuch ist, ein bestehendes Problem zu lösen (1970,377.). Bleibt dieses (ursprüngliche) Problem ungelöst und kommt es infolge weiterer Abweichungen zu stärkeren Stigmatisierungen, verfestigt sich die kriminelle Karriere. Der Prozess der Kriminalisierung wird dabei je eher und wahrscheinlicher eintreten bzw. voranschreiten, desto stärker die Sozialisationsbelastungen und -bedingungen des Jugendlichen sind, desto früher dessen kriminelle Karriere begonnen hat und desto später dabei das (ursprüngliche) Problem erkannt wurde sowie je fehlgeschlagener die Reaktion auf die Abweichung ausgefallen ist.


4. Kritik haben die Vertreter des L.A. vor allem aus zwei Richtungen erfahren:  
4. Kritik haben die Vertreter des L.A. vor allem aus zwei Richtungen erfahren:  
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> wird ausgeführt
> wird ausgeführt


 
5. Die seit der Rezeption in einer Vielzahl durchgeführten empirischen Untersuchungen zum L.A. lassen sich nicht annähernd dokumentieren. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass sich diese sog. Instanzenforschung auf das Handeln nahezu aller Institutionen sozialer Kontrolle erstreckt hat, wobei es insbesondere die Polizei war, die hier ein „geradezu exponential wachsendes“ Forschungsinteresse auf sich gezogen hat (so Sack 1993, 504). Nach anfänglichen Untersuchungen zur Selektivität bei Verdachtsgewinnung und Kriminalisierung, wie u.a. die von Feest/Lautmann (1971) oder Feest/Blankenburg (1972), wurde der Blick später auch auf Faktoren gerichtet, die einen generellen Einfluss auf die Ausfüllung polizeilicher Handlungsspielräume haben können (vgl. Lehne 1993, 393, der hier u.a. die Rekrutierung und Ausbildung sowie die Organisationsstruktur der Polizei nennt).<br>
5. Die seit der Rezeption in einer Vielzahl durchgeführten empirischen Untersuchungen zum L.A. lassen sich nicht annähernd dokumentieren. An dieser Stelle bleibt nur zu sagen, dass sich diese sog. Instanzenforschung auf das Handeln nahezu aller Institutionen sozialer Kontrolle erstreckt hat, wobei es insbesondere die Polizei war, die hier ein „geradezu exponential wachsendes“ Forschungsinteresse auf sich gezogen hat (so Sack 1993, 504). Nach anfänglichen Untersuchungen zur Selektivität bei Verdachtsgewinnung und Kriminalisierung, wie u.a. bei Feest/Lautmann (1971) oder Feest/Blankenburg (1972), wurde der Blick später auch auf Faktoren gerichtet, die einen generellen Einfluss auf die Ausfüllung polizeilicher Handlungsspielräume haben können (vgl. Lehne 1993, 393, der hier u.a. die Rekrutierung und Ausbildung sowie die Organisationsstruktur der Polizei nennt).<br>
Wie für die Polizei (>vgl. [[Polizei]], Polizeiforschung) haben sich im Gefolge des L.A. auch um die Justiz bzw. das Handeln aller der am Strafverfahren beteiligten Vertreter (vgl. >[[Justiz]], Justizforschung) und später auch um das Anzeigeverhalten eigenständige Forschungsfelder etabliert.<br>
Wie für die Polizei (>vgl. [[Polizei]], Polizeiforschung) haben sich im Gefolge des L.A. auch um die Justiz bzw. das Handeln aller der am Strafverfahren beteiligten Vertreter (vgl. >[[Justiz]], Justizforschung) und später auch um das Anzeigeverhalten eigenständige Forschungsfelder etabliert.<br>
Weiter zu nennen und nur beispielhaft aufgeführt sind zudem Studien in den Bereichen der Sozialarbeit wie von ''Manfred Brusten'' (1973) und ''Helge Peters'' / ''Helga Cremer-Schäfer'' (1975), zu Stigmatisierungsprozessen in Schulen wie von ''Manfred Brusten'' / ''Klaus Hurrelmann'' (1973) sowie zur Stigmatisierung durch Heimerziehung (vgl. Bürger, 1990).<br>
Weiter zu nennen und nur beispielhaft aufgeführt sind zudem Studien in den Bereichen der Sozialarbeit wie von ''Manfred Brusten'' (1973) und ''Helge Peters'' / ''Helga Cremer-Schäfer'' (1975), zu Stigmatisierungsprozessen in Schulen wie von ''Manfred Brusten'' / ''Klaus Hurrelmann'' (1973) sowie zur Stigmatisierung durch Heimerziehung (vgl. Bürger, 1990).<br>
Allerdings lässt sich trotz der Fülle an durchgeführten Untersuchungen keine klare Aussage über die Gültigkeit des L.A. treffen. Grund für die z. T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse (den Einfluss des L.A. bestätigend u.a. Feest/Blankenburg 1972 ; verneinend hingegen Boy 1984, Bürger 1990) sind wohl die Vielseitig- und Vielschichtigkeit der den Studien zugrundegelegten Fragestellungen und die bereits oben genannten gestaltungstheoretischen und methodischen Probleme.<br>
Allerdings lässt sich trotz der Fülle der durchgeführten Untersuchungen keine klare Aussage über die Gültigkeit des L.A. treffen. Grund für die z. T. sehr unterschiedlichen Ergebnisse (den Einfluss des L.A. z.T. bestätigend Feest/Blankenburg 1972 ; verneinend hingegen Boy 1984, Bürger 1990) sind wohl die Vielseitig- und Vielschichtigkeit der den Studien zugrundegelegten Fragestellungen und die bereits oben genannten gestaltungstheoretischen und methodischen Probleme.<br>
Anzumerken bleibt jedoch, dass spätere Untersuchungen z. T.  hochsignifikante Ergebnisse bzgl. kausaler Beziehungen zwischen Stigmatisierung und krimineller Karriere hervorgebracht haben (vgl. u.a. Kaplan 1980) und in diesem Zusammenhang wohl auch unbestritten ist, dass solche Ergebnisse wesentlich zu der Verbreitung des Diversionsgedankens (vgl. >[[Diversion]]) beigetragen haben.
Anzumerken bleibt jedoch, dass spätere Untersuchungen z. T.  hochsignifikante Ergebnisse bzgl. kausaler Beziehungen zwischen Stigmatisierung und krimineller Karriere hervorgebracht haben (vgl. u.a. Kaplan 1980) und in diesem Zusammenhang wohl auch unbestritten ist, dass solche Ergebnisse wesentlich zu der Verbreitung des Diversionsgedankens (vgl. >[[Diversion]]) beigetragen haben.


6. Versucht man die Bedeutung bzw. den Einfluss dieses ja doch verhältnismäßig jungen Ansatzes zu bilanzieren, muss bemerkt werden, dass er für sich gesehen längst nicht mehr so populär ist wie noch in den 70-er Jahren.<br>
6. Versucht man die Bedeutung bzw. den Einfluss dieses ja doch verhältnismäßig jungen Ansatzes zu bilanzieren, muss bemerkt werden, dass er für sich gesehen längst nicht mehr so populär ist wie noch in den 70-er Jahren.<br>
So stellt Peters in seiner Bilanz für den deutschsprachigen Raum fest, dass während zu jener Zeit „noch jede Randgruppe unter die etikettierungstheoretische Perspektive gerückt wurde, derartige Arbeiten in den 80-er Jahren schon zu suchen waren“ und ätiologisches Denken die Disskussion wieder beherrscht (vgl. 1996, 107). Ähnlich formulieren ''Raymond Paternoster'' und ''Lee Ann Iovanni'' für den angloamerikanischen Raum, dass seine Gültigkeit vor dem Hintergrund der Kritiken immer mehr in Frage gestellt und er 1985 schließlich für tot erklärt wurde (vgl. 1984, 359).<br>
So stellt ''Peters'' seiner Bilanz für den deutschsprachigen Raum die Feststellung voran, dass während zu jener Zeit „noch jede Randgruppe unter die etikettierungstheoretische Perspektive gerückt wurde (...), derartige Arbeiten in den 80-er Jahren schon zu suchen waren“ und ätiologisches Denken die Disskussion wieder beherrscht (vgl. 1996, 107). Ähnlich formulieren ''Raymond Paternoster'' und ''Lee Ann Iovanni'' für den angloamerikanischen Raum, dass die Gültigkeit des L.A. vor dem Hintergrund der Kritiken immer mehr in Frage gestellt und er 1985 schließlich für tot erklärt worden sei (vgl. 1984, 359).<br>  
''Peters'' führt diese „feststellbare Abneigung von Kriminologen, sich am labeling zu orientieren“ (so 1996, 107) nicht auf die vermeintlichen Mängel des Ansatzes, sondern darauf zurückführt, dass „die Kriminalitätsentwicklung den Kriminologen immer weniger Chancen bietet, ihre Gesellschaftskritik über den L.A. zu artikulieren“ (a.a.O.), womit er eine faktische Parteilichkeit eingesteht. Insbesondere die seit den 80-Jahren aufgekommene Gewalt von rechts sei es gewesen, welche die Etikettierungstheoretiker entmutige, denn „wer sähe Skinheads gern als Adressaten der Stigmatisierung von Instanzen sozialer Kontrolle, als deren Konstrukt?“ (vgl. 1996, 113.).<br>
Nach ''Peters'' lässt sich die „feststellbare Abneigung von Kriminologen, sich am labeling zu orientieren“ (so 1996, 107) nicht auf die vermeintlichen Mängel des Ansatzes, sondern darauf zurückführen, dass „die Kriminalitätsentwicklung den Kriminologen immer weniger Chancen bietet, ihre Gesellschaftskritik über den L.A. zu artikulieren“ (vgl. a.a.O.), womit er eine faktische Parteilichkeit eingesteht. Insbesondere die seit den 80-Jahren aufgekommene Gewalt von rechts sei es gewesen, welche die Etikettierungstheoretiker entmutige, denn „wer sähe Skinheads gern als Adressaten der Stigmatisierung von Instanzen sozialer Kontrolle, als deren Konstrukt?“ (vgl. 1996, 113.).<br>
> wird ausgeführt
> wird ausgeführt




7. Zusammenhänge mit anderen Begriffen
7. Die Zusammenhänge des L.A. mit anderen kriminologischen Begriffen sind vielfältig. <br>
 
''Allgemein'' kann seine Rezeption als der wohl "konsequenteste Ausdruck einer Neuorientierung der Kriminologie in Richtung der Einbeziehung der sozialen Kontrolle (vgl. >[[soziale Kontrolle]]) in die Analyse der Kriminalität" betrachtet werden (so Sack 1993, 332.), wie sie sich in Abgrenzung zur traditionellen die ''kritische Kriminologie'' (vgl. >[[Kriminologie]]) zur Aufgabe gemacht hat.
Seinen ''Grundannahmen'' nach verweist er u.a. auf die Begriffe der [[Zuschreibung]] und Etikettierung sowie auf die Konzepte der [[Selektion]], der [[Stigmatisierung]] und hier der Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz ( vgl. >[[Devianz]]) sowie auf den der kriminellen Karriere.
''In gestaltungstheoretischer Hinsicht'' gewinnen seine Annahmen heute v.a. in Verbindung mit der ''marxistischen'' und der ''konfliktorientierten Kriminologie'' an Bedeutung. <br>
''In kriminalpolitischer Hinsicht ''lässt sich eine Linie zum [[''Abolitionimus'']] ziehen. Dies insofern, als dass die Abschaffung bestimmter staatlicher Kontrollstrategien als dessen Zielsetzung wohl die stringenteste Umsetzung der rechts- bzw. kriminalpolitischen Forderung des L.A. nach Begrenzung staatlicher Machtausübung darstellt (vgl. zu den Zusammenhängen der beiden Strömungen Schumann 1985, 19ff.).<br>
''In forschungsmethodischer Hinsicht '' waren es v.a. die ''qualitativen Verfahren'' (vgl. [[qualitative Methoden]]), die von der Rezeption des L.A. stark profitiert haben, da die Frage danach, wie die Wirklichkeit von Abweichung und Kriminalität durch Interaktionen mit den Instanzen sozialer Kontrolle hervorgebracht wird oder danach, wie abweichende Laufbahnen durch Etikettierungsprozesse erst in Gang gesetzt oder auch verfestigt werden, qualitative Forschungsdesigns zumindest nahe legen, wenn nicht sogar zwingend erforderlich machen (vgl. Meuser / Löschper 2002, Abs 4 und 5).


8. Die kriminologische Relevanz des L.A. lässt sich nicht messen. Auch wenn seitens der Kritiker wiederholt sein „Scheitern“ postuliert wurde, bleibt festzuhalten, dass die Kriminologie mit seiner Rezeption um eine Perspektive erweitert worden ist, deren Grundzüge in keiner Analyse mehr unberücksichtigt bleiben können. Um es mit ''Fritz Sack'' auf den Punkt zu bringen, besteht sein Verdienst darin „mit dem Insistieren auf die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Kriminologie die soziologische und politische Dimension der Kriminalität auch in ihren Alltagserscheinungen und Mikrostrukturen“ zur Geltung gebracht zu haben (so 1993, 504).<br>
8. Die kriminologische Relevanz des L.A. lässt sich nicht messen. Trotz aller Kritiken bleibt festzuhalten, dass die Kriminologie mit seiner Rezeption um eine Perspektive erweitert worden ist, deren Grundzüge in keiner Analyse mehr unberücksichtigt bleiben können. Um es mit ''Fritz Sack'' auf den Punkt zu bringen, besteht sein Verdienst darin „mit dem Insistieren auf die Bedeutung der sozialen Reaktion für die Kriminologie die soziologische und politische Dimension der Kriminalität auch in ihren Alltagserscheinungen und Mikrostrukturen“ zur Geltung gebracht zu haben (so 1993, 504).<br>
Die kriminalpolitische Relevanz des L.A. mit seiner Forderung nach Nicht-Intervention bzw. einem „Weniger“ zeigt sich in der Bedeutung der alternativen Reaktionen zum Strafrecht und Diversionsprogrammen.
Die kriminalpolitische Relevanz des L.A. mit seiner Forderung nach Nicht-Intervention bzw. einem „Weniger“ zeigt sich in der Bedeutung der alternativen Reaktionen zum Strafrecht und Diversionsprogrammen.


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*Luhmann, N.,: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1985.
*Luhmann, N.,: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie. Frankfurt a. M. 1985.
*Paternoster, R./Iovanni, L.: The Labeling Perspective and Delinquency : An Elaboration of the Theory and an Assessment of the evidence, in: Justice Quarterly 1989, S. 359-394.  
*Paternoster, R./Iovanni, L.: The Labeling Perspective and Delinquency : An Elaboration of the Theory and an Assessment of the evidence, in: Justice Quarterly 1989, S. 359-394.  
*Meuser, M. / Löschper, G.: Einleitung : Qualitative Forschung in der Kriminologie (26 Absätze), in: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (On-line Journal) 3 (1)/2002, verfügbar über: http://www.qualitative-research.net/fqs/fqs.htm (Zugriff am 19. 01. 2006).
*Opp, K. D.: Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie: Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: KrimJ 1972, S.32-52.  
*Opp, K. D.: Die "alte" und die "neue" Kriminalsoziologie: Eine kritische Analyse einiger Thesen des labeling approach, in: KrimJ 1972, S.32-52.  
*Peters, H.: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich : der labeling approach, in: KrimJ 1996, S.107-115.  
*Peters, H.: Als Partisanenwissenschaft ausgedient, als Theorie aber nicht sterblich : der labeling approach, in: KrimJ 1996, S.107-115.  
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