Sozialpsychologie des Massenmords

Definition

Die Sozialpsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie. Die "Sozialpsychologie des Massenmords" befasst sich mit der Frage, wie aus bisher normangepassten Personen "Massenmörder" werden (können).

Erläuterung

Ausgangspunkt ist der Befund, dass die große Mehrzahl (ca. 95%) der Täter staatlich organisierter Massenmorde keine individuellen Pathologien aufweist und sich selbst auch "human" und "anständig" zu verhalten glaubt, wenn sie ihre Tötungsarbeit ausführt - so wie andere Menschen ihre jeweilige berufliche Tätigkeit.

Von Bedeutung sind insbesondere die Ergebnisse des Milgram-Experimentes und das Stanford Prison Experiment (SPE). Stanley Milgram fand eine überraschend hohe Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität. Philip Zimbardo demonstrierte die Bedeutung situativer Dynamiken.

In jüngster Zeit wies der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer (Forschungsprofessor an der Universität Witten/Herdecke und Leiter des Zentrums zur Gedächtnisforschung am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen) auf die Bedeutung des gesellschaftlichen Referenzrahmens für die Bestialisierung unter dem Gewand des Humanen hin.

So können sich Massenmörder in Uniform - wie etwa die Angehörigen von SS-Einsatzgruppen bei einer sog. Judenaktion, während derer sie binnen zwei Tagen mehr als 30 000 Menschen einschließlich Greise, Frauen und Babies erschossen - für anständig und sogar mitmenschlich halten, weil sie z.B. nur tun, was notwendig ist, um die eigene Familie vor den Feinden zu retten, oder weil sie "nicht über das Maß hinaus" schössen und stets an ihre eigenen Kinder dächten. Ähnliche Neutralisierungstechniken spielen in allen staatlich verstärkten Makro-Verbrechen und insbesondere kriegsbegleitenden Massenmorden und Genoziden eine Rolle.

Welzer arbeitet Regelmäßigkeiten des Prozesses heraus, der zu Massenmorden führt. Zuerst, so Welzer, gebe es das diffuse Gefühl, dass ein Problem existiere; dann definiere sich eine "Wir-Gruppe" in Absetzung von "den Anderen" und führe das Problem auf die "Anderen" zurück. Werde eine Gruppe erst einmal mit dem Problem identifiziert, dann sei es nicht mehr weit bis zum Massenmord.

Siehe auch

Mehrfachmord

Literatur

Bastian, Till (2000): Das Jahrhundert des Todes. Zur Psychologie von Gewaltbereitschaft und Massenmord im 20. Jahrhundert. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen.

Gaupp, Robert (1914): Zur Psychologie des Massenmords. Hauptlehrer Wagner von Degerloch. Eine kriminalpsychologische und psysiatrische Studie. Nebst einem Gutachten von R. Wollenberg. Springer, Berlin.

"Ohne Moral lässt sich kein Genozid durchführen." Faz.Net-Artikel vom 4.9.2005, Interview mit Harald Welzer. http://www.faz.net/s/Rub268AB64801534CF288DF93BB89F2D797/Doc~E998F5A93BD6C442CA472A3ABFD330AC0~ATpl~Ecommon~Scontent.html

Simon, Edgar (1925): Zur Psycholgoie des Massenmordes. Noske, Borna-Leipzig.

Welzer, Harald (2005) Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden.