Selbstkontrolle

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Selbstkontrolle bezeichnet die Fähigkeit Affekte zu beherrschen und das eigene Verhalten unabhängig von aktuell wahrgenommenen Reizen zu regulieren. Selbstkontrolle ist ein Spezialfall der sog. Selbstregulation, die die willentliche Steuerung menschlichen Handelnsbeschreibt. Selbstkontrolle tritt dann auf, wenn die Alternativen, für die sich eine Person entscheiden kann, im Konflikt miteinander stehen.

Selbst ist ein uneinheitlich verwendeter Begriff mit psychologischen, soziologischen, philosophischen und theologischen Bedeutungsvarianten. Kontrolle (frz. contrôle) 1. Überwachung, Aufsicht; 2. Prüfung, Probe. Selbstkontrolle meint die Fähigkeit eines Individuums, sich selbst in seinen Handlungen, Emotionen und Wünschen zu überwachen.

Mögliche Synonyme: Disziplin, Fassung, Haltung, Selbstbeherrschung.


Definition

Konzept der Selbstkontrolle in der Verhaltenstherapie

Zur Klärung des Konzepts der Selbstkontrolle sind aus Sicht der Verhaltenstherapie [1] folgende Begriffe wichtig:

Selbstmanagement ist die allgemeine Fähigkeit einer Person das eigene Verhalten unter Nutzung spezieller Strategien zu steuern bzw. zu verändern.

Selbstregulation beschreibt die Prozesse, die bei der Steuerung menschlichen Verhaltens ablaufen. Kanfer (1977, zitiert nach Senf & Broda, 2005) unterscheidet dabei drei Stufen: Selbstbeobachtung - Selbstbewertung - Selbstverstärkung. Diese Stufen können schnell und automatisiert oder beim Erlernen neuer komplexer Aktivitäten auch ganz explizit und langsam ablaufen.

Selbstkontrolle markiert einen Spezialfall der Selbstregulation. Der automatisierte Verhaltensablauf wird angesichts einer Problemsituation oder eines Konflikts unterbrochen. Es handelt sich um Selbstkontrolle, wenn die Person dann Verhaltensweisen zeigt, die im Prinzip nicht zu erwarten wären.

Es sind zwei Typen von Konflikten denkbar, die ein automatisiertes Verhalten unterbrechen können:

1."Widerstehen einer Versuchung" - Eine Person führt eine Handlung nicht aus, obwohl für diese eine höhere Auftrittswahrscheinlichkeit bestünde. Die Person entscheidet sich für den Verzicht oder den Aufschub einer Bedürfnisbefriedigung, um langfristig einen positiven Effekt zu erzielen (z.B. keinen Kuchen in der Bäckerei kaufen). Dieser Konflikttypus steht häufig im Zusammenhang mit Abhängigkeiten wie Übergewicht, Rauchen oder sonstigen Süchten.
2. "Heldenhaftes Verhalten" bzw. "Ertragen einer aversiven Situation" - Eine Person führt ein Verhalten aus, obwohl dieses Verhalten kurzfristig unter aversiver Kontrolle steht und damit auch eine niedrigere Auftrittswahrscheinlichkeit hat (z.B. Aufsuchen des Zahnarztes ohne akute Schmerzen). Die Person entscheidet sich einen unangenehmen Zustand zu ertragen, um langfristig positive Effekte zu erzielen.

Aus rein verhaltenstherapeutischer Sicht muss davon ausgegangen werden, dass eine Person in einer Situation dasjenige Verhalten wählt, das unter kurzfristiger Kontrolle steht. Offensichtlich sind Menschen aber dazu in der Lage, auch auf kurzfristige Verstärkung zu verzichten bzw. kurzfristig aversive Situationen zu ertragen, um langfristig Vorteile zu erzielen. Hartig (1973, zitiert nach Senf & Broda, 2005) verdeutlicht, dass Selbstkontrolle nur erklärbar ist, wenn vor der Durchführung von Selbstkontrollverhalten ein kognitiv-motivationaler Prozess angenommen wird. Diese Vorstellung beinhaltet die Annahme einer bewusstseinsfähigen und entscheidungsfähigen Person, die zur Selbstkontrolle in der Lage ist (London, 1969, zitiert nach Reinecker 1978, S. 21).

Im klinischen Bereich dient das Konzept der Selbstregulation dazu, Probleme der Selbstkontrolle bei hyperaktiven und impulsgestörten Kindern sowie bei Erwachsenen mit Ängsten, Abhängigkeiten, sexuellen Funktionsstörungen und Depressionen zu verstehen und zu behandeln. Auch wenn Selbstkontrolle oft erwünscht ist, kann ihre übermäßige Ausprägung dem spontanen und spielerischen Ausprobieren von Handlungsmöglichkeiten im Wege stehen (Bastine, 1998, S. 370 f). Ein hohes Maß an Selbstkontrolle unterdrückt auch Vieles, was das Leben ausmacht, bspw. spontanes und kreatives Einlassen auf einen Prozess. Trotzdem scheint Selbstkontrolle aus heutiger Sicht etwas absolut Erstrebenswertes bzw. „Normales“ zu sein (Prokop, 2010).


Selbstkontrolle in der Pädagogik

Die Kontrolle des eigenen Verhaltens und Erlebens ist ein volitionaler Prozess. Es beschreibt den Vorgang, wie mit Hilfe von Selbstkontrolle Absichten realisiert werden. Bestehende Handlungsbarrieren werden mit Unterstützung der Willenskraft überwunden. Im pädagogisch-psychologischen Zusammenhang bezeichnet Selbstkontrolle die aktive Unterdrückung bzw. Veränderung vorherrschender Verhaltenstendenzen. Selbstkontrollfähigkeiten ermöglichen erfolgreiches, dauerhaftes Lernen trotz attraktiver Handlungsalternativen, stützen bei der Überwindung von Frustration oder motivieren nach Misserfolgen. Selbstkontrolle ist ein wesentlicher Faktor bei der selbstregulierten Zielverfolgung: Sie entscheidet, ob zielorientierte Absichten auch tatsächlich umgesetzt werden (Schmeichel & Baumeister, 2004, zitiert nach Bertrams, Unger & Dickhäuser 2011).


Historie/Entwicklung des Begriffs

Reinecker (1978, S. 29) zu Folge lässt sich, historisch gesehen, keine exakte Geburtsstunde der Selbstkontrolle datieren. Auch wenn bereits in der Antike (Homer, Demosthenes) Ansätze für Selbstkontrolle auftauchen oder auch in Werken von Shakespeare Hinweise auf Selbstkontrolle zu finden sind, kann darauf nicht explizit Bezug genommen werden. Obwohl es geschichtlich wiederkehrend Hinweise auf Aspekte der Selbstkontrolle gibt (z.B. Asketiker), so werden die Selbstkontrolltechniken erst in der gegenwärtigen Tradition systematisch erfasst und einem theoretischen Paradigma zugeordnet.

Der Begriff stammt zum größten Teil aus der Verhaltenstherapie. Skinner [2] und andere Vertreter des Behaviorismus [3] hatten Schwierigkeiten, bestimmte Ereignisse, wie Gedanken, Vorstellungen oder Selbstverbalisationen mit ihren bestehenden Theorien zufriedenstellend zu erklären. Daraufhin erfolgte die Entwicklung des Konzeptes der Selbstkontrolle. Skinner (1953, zitiert nach Reinecker, 1978) erklärte Selbstkontrolle als die Fähigkeit eines Individuums, anstelle einer Reaktion mit einer hohen Auftrittswahrscheinlichkeit eine zu wählen, welche nur eine geringe Wahrscheinlichkeit hat. Skinner ordnete die Selbstkontrolle ausschließlich externen Kontrollmechanismen zu. Er meinte, dass die Reaktionen, welche auf Selbstkontrolle zurück zu führen sind, nicht durch interne Reize oder Konsequenzen zu erklären sind. Die Selbstkontroll-Reaktionen werden einzig durch äußere Gegebenheiten bestimmt.

Parallel zu Skinners Theorien gab es bereits in den 50er Jahren einige therapeutische Handlungsmethoden, die ursprünglich nichts mit Selbstkontrolle zu tun hatten, aus heutiger Sicht aber ebenfalls zu den kognitiven Techniken (siehe kognitive Verhaltenstherapie ) zählen. Beispielhaft ist hier Wolpe (1958, zitiert nach Reinecker, 1978, S. 30) zu nennen. Die von ihm entwickelte Technik des "Gedankenstoppens" ist ein Beispiel für eine Selbstkontrolltechnik. Wolpe entwickelte weitere Techniken, die vom Individuum selbst angewandt werden konnten. Das führte zu einer Verminderung der Therapeutenkontrolle hin zu einer zunehmenden Selbstkontrolle des Patienten.

Bandura bzw. seine Mitarbeiter erweiterten mit dem Konzept des Modelllernens [4] die klassische Verhaltenstherapie. Die Theorie des "Lernen am Modell" erforderte eine Erweiterung auf kognitive Prozesse. Bandura (1965, zitiert nach Reinecker, 1978) verstand darunter Lernvorgänge, die auf der Beobachtung des Verhaltens von menschlichen Vorbildern beruhen. Die tatsächliche Anwesenheit dieser Vorbilder (Modelle) ist dabei von untergeordneter Bedeutung. Bandura trug erheblich zu einer Fundierung des Konzepts der Selbstkontrolle bei.


Die Selbstkontrolltheorie von Gottfredson und Hirschi

"A General Theory of Crime" (GToC)

Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi, zwei US-amerikanische Soziologen und Kriminologen, beabsichtigten mit ihrem Werk "A General Theory of Crime" (1990), eine Theorie zu entwickeln, die Kriminalität in ihrer Ganzheit erfasst und erklärt: "It is meant to explain all crime, at all time, and, for that matter, many forms of behavior that are not sanctioned by the state" (Gottfredson & Hirschi, 1990, S. 117).

Die allgemeine Theorie der Kriminalität kann den kontrolltheoretischen Ansätzen zugeordnet werden. Das Besondere an der GToC ist, dass von der üblichen kriminologischen Fragestellung, warum sich Menschen nicht an die sozialen Regeln halten, abgewichen wird. Kontrolltheorien gehen davon aus normkonformes Verhalten als das unwahrscheinlichere Verhalten zu betrachten (Baier, 2005, S. 386). Demnach gilt es, nicht Abweichung zu erklären, sondern Konformität. Anhänger dieser Theorie meinen in der sozialen Kontrolle das wichtigste erklärende Moment konformen Verhaltens gefunden zu haben. Gottfredson und Hirschi, als wichtigste Vertreter der Kontrolltheorie, behaupten, alle Arten kriminellen Verhaltens einzig mit Hilfe der Variablen Selbstkontrolle und Gelegenheitsstrukturen erklären zu können (Seipel, 1999, S. 145). Wenn die Selbstkontrolle gering ist und die Gelegenheit günstig, so ist die Anfälligkeit für deviantes Verhalten hoch. Geringe Selbstkontrolle bedeutet, dass die rationale Entscheidungsfähigkeit des Betroffenen herabgesetzt ist und die kurzfristige Nutzenerwartung überwiegt. Verfügt der Betroffene über eine hohe Selbstkontrolle, dann führt der Vergleich der kurzfristigen und langfristigen Nutzenerwartung zu dem Ergebnis, dass sich abweichendes Verhalten auf lange Sicht nicht lohnt und deshalb unterlassen wird.


Menschenbild bei Gottfredson und Hirschi

Gottfredson und Hirschi (1990) beziehen sich ausdrücklich auf die klassische Tradition, die vor allem von Thomas Hobbes, Jeremy Bentham und Cesare Beccaria repräsentiert werden: "In this view, all human conduct can be understood as the self-interested, pursuit of pleasure or the avoidance of pain" (Gottfredons & Hirschi, 1990, S.5). Das klassisch-kriminologische Menschenbild geht davon aus, dass der Mensch rational handelt, um seine individuellen Interessen zu verfolgen. Dementsprechend geht jeder Handlung eine Kosten-Nutzen-Kalkulation voraus. Der Mensch zielt auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse ab und vermeidet Negativerlebnisse (Lamnek, 1997, S. 125). Gottfredson und Hirsche postulieren, dass prinzipiell alle Menschen zu abweichenden Verhaltensweisen motiviert sind. Deshalb bedarf es adäquater Mechanismen, um Menschen zu Konformität anzuhalten.


Selbstkontrolle nach Gottfredson und Hirschi

Gottfredson und Hirschi fokussieren bei der Erklärung abweichenden Verhaltens auf das Persönlichkeitsmerkmal Selbstkontrolle. Dieser Charakterzug habe maßgeblichen Einfluss darauf, ob sich Menschen konform oder abweichend verhalten. Der Begriff der Selbstkontrolle wird allerdings nicht explizit erläutert, sondern nur anhand der unterstellten Auswirkungen charakterisiert. Die Autoren folgen hier der einfachen Logik, dass bei abweichendem Verhalten eine geringe Selbstkontrolle vorliegt (Diedrich, 2013, S. 12).

Geringe Selbstkontrolle wird als Konstrukt verstanden, das sich aus sechs Komponenten zusammensetzt:

  1. Impulsivität: Diede beinhaltet die tendenzielle Unfähigkeit zu einer langfristigen Lebensplanung und zum Verzicht auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung. Es besteht eine überwiegende Orientierung im Hier und Jetzt.
  2. Affinität zu einfachen Aufgaben: Personen sind i.d.R. weder fleißig noch ausdauernd, bestimmte Handlungen auszuführen und versuchen schwierige Aufgaben zu vermeiden: "They provide money without work, sex without courtship, revenge without cort delays" (Gottfredson & Hirschi, 1990, S. 89).
  3. Risikoreiches Verhalten: Dieses Verhalten zeichnet eher abenteuerlustige und unvorsichtige Personen aus.
  4. Körperliche Aktivität: Kognitive und intellektuelle Kompetenzen sind weniger ausgeprägt.
  5. Selbstbezogenheit: „People with low self-control tend to be self-centered, indifferent, or insensitive to the suffering and needs of others“ (Gottfredson & Hirschi 1990, S. 89). Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass diese Personen auch unfreundlich oder unsozial sind. Im Gegenteil: Um ihre Bedürfnisse zu befriedigen können sie auch außerordentlich charmant und großzügig agieren.
  6. Gereiztheit: Diese Menschen sind mit einer geringen Frustrationstoleranz ausgestattet. Sie haben die Tendenz, Konflikte eher gewalttätig als kommunikativ zu lösen.

Gottfredson und Hirschi gehen davon aus, dass das Vorhandensein von geringer Selbstkontrolle nicht durch ein Merkmal identifiziert wird, sondern durch das gleichzeitige Auftreten aller sechs Merkmale.

Mangelnde Selbstkontrolle spielt eine zentrale Rolle in den kriminologischen Kontrolltheorien. Persönlichkeitsmerkmale werden bei dieser Erklärung kriminellen Verhaltens wieder stärker betont. Mangelnde Selbstkontrolle erhöht die Wahrscheinlichkeit abweichenden Verhaltens, führt aber nicht zwangsläufig dazu. Kriminelle Handlungen sind durch die Tendenz gekennzeichnet, die kurzfristige Befriedigung von Bedürfnissen unter Vernachlässigung langfristiger Konsequenzen zu bevorzugen und dabei hohe Risiken in Kauf zu nehmen. Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle zeigt sich darin, auf unmittelbare aufwandslose Befriedigung verzichten zu können. Die Menschen unterscheiden sich also im Ausmaß seiner Fähigkeit darin, sich selbst von kriminellen bzw. abweichenden Verhaltensweisen zurückhalten zu können (Lamnek, 1997, S. 142).


Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen

Laut Gottfredson und Hirschi (1990, S. 190) beeinflusst die Variable "crime opportunity" ebenfalls die Auftrittswahrscheinlichkeit von kriminellen Handlungen. Allerdings operationalisieren die Autoren diese Variable nicht deutlich. Der Zusammenhang zwischen "crime opportunity" und Selbstkontrolle wird nicht klar ausgearbeitet (Seipel, 1999, S. 147). Verschiedene Autoren interpretieren den Zusammenhang uneinheitlich. Grasmick et al. (1993, zitiert nach Seipel, 1999, S. 148) deuten den Zusammenhang folgendermaßen: "Individuen mit geringer Selbstkontrolle werden also im Vergleich zu Individuen mit hoher Selbstkontrolle in einer Situation günstiger Gelegenheitsstrukturen unterschiedlich handeln."


Entstehung der Selbstkontrolle nach Gottfredson und Hirschi

Die Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist eine relativ stabile, interindividuell variierende Eigenschaft, die in der Kindheit ausgeformt wird. Nach Gottfredson und Hirschi (1990, zitiert nach Lamnek, 1997) entsteht Selbstkontrolle "in einem Zusammenspiel von angeborenen Neigungen eines Kindes (!) und dessen Erziehung" (S.146). Je weniger angeborene Selbstkontrolle vorhanden ist, desto entscheidender ist die Erziehung. Innerhalb der Sozialisationsprozesse in der primären Bezugsgruppe werden die Voraussetzungen erworben, sich dem Werte- und Normsystem der Gesellschaft anzupassen. Die Erziehung ist für die Vermittlung von Selbstkontrollfähigkeiten entscheidend. Dazu müssen Eltern selbst zur Selbstkontrolle fähig sein. Niedrige Selbstkontrolle wird als ein natürlicher Anfangszustand bei Kinder betrachtet (Schulz et al., 2010, S. 116). Es geht darum, die Tendenz zu abweichendem Verhalten innerhalb der Familie (primäre Bezugsgruppe) durch folgende drei Minimalbedingungen zu begrenzen:

# Das Verhalten des Kindes muss beobachtet werden. # Deviantes Verhalten muss erkannt werden. # Das entsprechende Verhalten muss angemessen bestraft werden.

Eine effiziente Sozialisation bedeutet, dem an kurzfristiger Bedürfnisbefriedigung orientierten Kind die Bedeutung von langfristigen Konsequenzen nahe zu bringen. Gottfredson und Hirschi (zitiert nach Diedrich, 2013, S. 13) gehen davon aus, dass die Disziplinierung bis circa zum achten Lebensjahr möglich ist. Danach gäbe es kaum noch Möglichkeiten, den stabilen Charakterzug der niedrigen Selbstkontrolle zu beeinflussen. Daraus ergibt sich, dass den Erziehungspersonen die zentrale präventive Rolle zukommt: "The major "cause" of low self-control thus appears to be ineffective child rearing" (Gottfredson & Hirschi, 1990, S. 97).


Kritik

  • Es erfolgt keine explizite Definition von Selbstkontrolle. Hinzu kommt der Vorwurf der tautologischen (zirkulären) Argumentation.
  • Der Familie kommt bei der Entstehung von Delinquenz die wesentliche Bedeutung zu. Wenn Delinquenz festgestellt wird, erfolgt gleichzeitig eine eindeutige Schuldzuweisung an die Familie, insbesondere an die Mutter (Albrecht, 1983, zitiert nach Lamnek, 1997, S. 155). Daraus ergibt sich nach Lamnek eine "neokonservative Pädagogik", die ausschließlich repressive Mittel für die Erziehung vorschlägt. Weder der Staat hätte die Mittel, Kriminalität zu beeinflussen (bspw. durch Erhöhung der Sanktionswahrscheinlichkeit), noch soziale Maßnahmen hätten Einfluss. Die Eigenschaft der Selbstkontrolle wird als stabil beschrieben und eine Beeinflussung sei nur in jungen Jahren möglich.
  • Gottfredson und Hirschi verwehren sich gegen eine Differenzierung verschiedener Arten abweichenden Verhaltens. Demzufolge existiert auch keine Unterscheidung zwischen angemessenem und unangemessenem abweichendem Verhalten. Diedrich (2013) kritisiert deshalb: "Jegliches innovative, sozialkritische oder emanzipatorische Verhalten steht im Verdacht, Ausdruck der Charakterschwäche einer niedrigen Selbstkontrolle zu sein" (S.16)


Literatur

Baier, D. (2005). Abweichendes Verhalten im Jugendalter. Ein empirischer Vergleich verschiedener Erklärungsansätze. ZSE: Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 25(4), 381-398.

Bastine, R. (1998). Klinische Psychologie: Band 1 (3. Auflage). Stuttgart: Kohlhammer.

Bertrams, A., Unger, A. & Dickhäuser, O. (2011). Momentan verfügbare Selbstkontrollkraft - Vorstellung eines Messinstrumentes und erste Befunde aus pädagogisch - psychologischen Kontexten. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 25 (3), 185-196.

Diedrich, I. (2013). Die Kontrolltheorie nach Travis Hirschi - Eine Diskussionsvorlage. URL: http://www.material.or-so.de/Travis_Hirschi_Soziale_Kontrolltheorie.pdf (abgerufen am 28.02.2014)

Gottfredson M.R. & Hirschi T. (1990). A Genereral Theory of Crime. Stanford: Stanford University Press.

Lamnek, S. (1997). Neue Theorien abweichenden Verhaltens. (25., durchgesehene Auflage). München: Fink.

Prokop, A. (2010). Aggression, Scham und metakognitive Fähigkeiten: zur Mikroanalyse der Kultur der Kontrolle. Berlin: Lit.

Reinecker, H. (1978). Selbstkontrolle. Verhaltenstheoretische und kognitive Grundlagen. Techniken und Therapiemethoden. Otto Müller Verlag Salzburg.

Schulz, S., Eifler S. & Baier, D. (2010). Wer Wind sät, wird Sturm ernten. Die Transmission von Gewalt im empirischen Theorienvergleich. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, (2011) 63, 111-145.

Seipel, C. (1999). Die Bedeutung von Gelegenheitsstrukturen in der» General Theory of Crime «von Michael R. Gottfredson und Travis Hirschi. Soziale Probleme, 10, 144-165.

Senf, W. & Broda, M. (HRSG). (2005). Praxis der Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch (3., völlig neu überarbeitete Auflage). Stuttgart: Georg Thieme Verlag.


Weblinks

http://www.pedocs.de/volltexte/2012/5678/pdf/ZSE_2005_4_Baier_Abweichendes_Verhalten_D_A.pdf