Selbstbestimmungsrecht der Völker

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Das "Selbstbestimmungsrecht der Völker" ist ein völkerrechtliches Prinzip, demzufolge jedes Volk das Recht hat, frei, also unabhängig von ausländischen Einflüssen, über seinen politischen Status, seine Staats- und Regierungsform und seine wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu entscheiden. Wenn sich das Selbstbestimmungsrecht konkreter Völker aber auf die Loslösung aus einem Staat und auf die Gewinnung staatlicher Eigenständigkeit richtet, dann sorgt das gegenläufige Prinzip der territorialen Integrität der Staaten in der Regel dafür, dass das Selbstbestimmungsrecht der Völker an seine Grenzen stößt.

Unter welchen besonderen Bedingungen sich aus dem Selbstbestimmungsrecht ein Sezessionsrecht ergeben kann, ist umstritten.


Rechtsgrundlagen

Die Charta der Vereinten Nationen proklamiert das Selbstbestimmungsrecht der Völker im "Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker". Auch die beiden UN-Menschenrechtspakte von 1966 stellen gleich zu Beginn fest: "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung."

Das bedeutete z.B. für die Kolonien der europäischen Staaten, dass jedes von einem Kolonialstaat beherrschte Volk das Recht hatte, über sein Schicksal selbst zu entscheiden (Dekolonialisierung, staatliche Unabhängigkeit).

Einschränkungen des Selbstbstimmungsrechts

Ob hingegen auch Völker, die zusammen mit anderen Völkern in einem Staat leben, aufgrund ihres Selbstbestimmungsrecht einen eigenen Staat verlangen und rechtmäßig die Sezession betreiben können, ist eine wesentlich kompliziertere Frage.

Nach herrschender Meinung lässt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker grundsätzlich kein Recht zur Abspaltung und Gründung eines eigenen Staates (Sezession) herleiten. Das Selbstbestimmungsrecht könne und müsse innerhalb des Staates seinen Ausdruck finden: also in dem Recht auf die eigene Sprache, auf innerstaatlichen Minderheitenschutz, auf die Respektierung der jeweiligen Kultur und so weiter. Diesem Recht entspricht eine Pflicht der Regierung, die Rechte der Völker auf dem staatlichen Territorium zu achten und zu gewährleisten.

Der Grund für diese Begrenzung des Selbstbestimmungsrechts liegt in dem (gegenläufigen) Prinzip der territorialen Integrität aller Staaten - einer Grundvoraussetzung für halbwegs funktionierende internationale Beziehungen und für ein einigermaßen funktionierendes Völkerrecht. Das Prinzip der Respektierung der territorialen Integrität aller Staaten bedeutet z.B. auch, dass jeder Staat grundsätzlich das Recht hat, gegen separatistische Bestrebungen notfalls auch mit der jeweils erforderlichen Anwendung von polizeilicher oder militärischer Gewalt vorzugehen. Andere Staaten haben nach der UN-Charta die Pflicht, "jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete ... Androhung oder Anwendung von Gewalt" zu unterlassen.

Ausnahmen vom Prinzip der territorialen Integrität

Nach herrschender Meinung kann das Selbstbestimmungsrecht nur dann die Abspaltung vom Staatsverband und die Gründung eines eigenen Staates rechtfertigen, wenn eine (ethnische) Gruppe in einer Weise diskriminiert wird, die ein Verbleiben im bisherigen Staatsverband als unzumutbar erscheinen lässt.

Wann die Verhältnisse "unzumutbar" sind, ist oft umstritten. Die USA und einige andere Staaten nahmen eine solche Extremsituation z.B. im Falle "Kosovo" an. Russland konterte mit der Rechtfertigung einer Sezession in den Fällen "Abchasien" und "Südossetien". In beiden Fällen argumentierte die jeweilige Gegenseite mit dem Prinzip der territorialen Integrität, während die Protagonisten der Unabhängigkeit behaupteten, dass die Sezession aufgrund einer existenziellen Gefährdung der betreffenden Ethnien gerechtfertigt sei.

Einzelfälle

  • Den Tataren wurde 1992 vom russischen Verfassungsgericht verboten, ein Referendum über die völkerrechtliche Selbständigkeit Tatarstans durchzuführen. Dass sich eine deutliche Mehrheit dann doch für die staatliche Selbständigkeit aussprach, wurde ignoriert.
  • Die russische Verfassung von 1993 garantiert sowohl das Selbstbestimmungsrecht der Völker als auch die "historisch gewachsene staatliche Einheit". Das russische Verfassungsgericht bestätigte 1995 das Selbstbestimmungsrecht der Tschetschenen und erkannte auch an, dass Verstöße gegen die Menschenrechte und gegen das humanitäre Völkerrecht den Tschetschenen berechtigten Grund zur Klage gäben. Es erklärte aber auch, dass das Selbstbestimmungsrecht der Tschetschenen trotzdem nicht bis zur Sezession führen dürfe. In einem Sondervotum wurde die Ansicht vertreten, die territoriale Einheit Russlands dürfe nicht gewaltsam gegen den in gesetzlicher Form geäußerten Willen des Volkes durchgesetzt werden (Nußberger 2008).


Literatur

  • Blumenwitz, Dieter (1980) Die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Menschenrechte und Selbstbestimmung unter Berücksichtigung der Ostdeutschen. Felix Ermacora, Dieter Blumenwitz, Jens Hacker, Herbert Czaja. Bonn: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, S. 21 ff.
  • Krähnke, Uwe (2007) Selbstbestimmung. Zur gesellschaftlichen Konstruktion einer normativen Leitidee, Weilerswist: Velbrück.
  • Nußberger, Angelika (2008) Berechtigte Kränkung. Russland und das Selbstbestimmungsrecht "seiner" Völker. FAZ 28.08.08: 8.
  • Young, Iris M. (2006) Global Challenges: War, Self-Determination and Responsibility for Justice. London: Blackwell.

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