Selbstabwertungs-Theorie

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Die von Howard B. Kaplan (1975, 1980) entwickelte Theorie der Selbstabwertung ('Self-Derogation Theory') erklärt delinquentes Verhalten mit der Suche nach Selbstbestätigung. Wenn ein Mensch in seiner konventionellen Bezugsgruppe hauptsächlich ein negatives Bild von sich selbst zurückgemeldet bekommt und Gefahr läuft, dieses unbefriedigende Bild von sich selbst zu verinnerlichen, dann wächst seine Bereitschaft, sich alternative Quellen positiver Selbstbewertung zu suchen, und zwar besonders in Bereichen, die abseits der konventionellen Anerkennungsbereiche (Schule, Beruf etc.) liegen.

Die Grundidee lässt sich folgendermaßen ausdrücken: "Wenn es für eine Person innerhalb ihres konventionellen Rahmens keine oder nur wenige Möglichkeiten gibt, eine positive Selbsteinstellung zu entwickeln, dann sinkt die Bereitschaft, den konventionellen Verhaltenserwartungen zu entsprechen. In dieser Situation werden alternative Quellen positiver Selbstbewertung gesucht, einschließlich unkonventioneller, devianter oder krimineller Verhaltensweisen" (Eifler 2002: 74).

Mit anderen Worten: die Ablehnung der eigenen Person aufgrund negativer affektiver Komponenten des Selbstkonzepts (self-attitudes, self-feelings) erhöht die Bereitschaft zur Abweichung und damit auch die Wahrscheinlichkeit delinqenten Verhaltens. Dabei wird die Beziehung zwischen der Selbstablehnung einer Person (self-rejection) und kriminellem Handeln (behavior) durch die Verhaltensdisposition (disposition to deviance) vermittelt.

Grundlage

Menschen haben das Bedürfnis "to maximize the experience of positive self-attitudes and to minimize the experience of negative self-attitudes" (Kaplan 1980: 8). Das ist das Motiv der Selbstachtung (self-esteem motive). Wird ihr Selbstgefühl angegriffen, so bieten sich drei Strategien an, bei denen jeweils Delinquenz eine Rolle spielen kann:

  • Vermeidung (avoidance): manche delinquenten Verhaltensweisen erlauben es, Personen und Situationen aus dem Weg zu gehen, die negative Selbst-Gefühle hervorrufen könnten
  • Angriff (attack): Gewaltdelikte, Vandalismus und Diebstahl können unmittelbare Angriffe auf die Quellen negativer Einflüsse sowie den Ausdruck von Verachtung gegenüber den Normen ermöglichen, die diese negativen Selbst-Gefühle hervorriefen
  • Ersatz (substitution): Bandendelinquenz und Drogenhandel können Zugehörigkeit zu alternativen Normen- und Wertesystemen manifestieren, die jene Normen ersetzen, die für das negative Selbstkonzept der Akteure verantwortlich waren.

Einordnung

Die Theorie der Selbstabwertung ist eine mikroperspektivische Devianztheorie, die individuelle Unterschiede im Hinblick auf Delinquenz mittels einer Theorie des Selbst, bzw. der Identität, zu erklären versucht. Sie ist etwas stärker psychologisch orientiert als die eher soziologische Subkulturtheorie von Albert K. Cohen (1955), der inhaltlich allerdings auf ganz ähnliche Weise davon ausging, "dass Jugendliche der Unterschicht, die die Verhaltenserwartungen der Mittelschicht internalisiert haben, diesen jedoch nicht entsprechen können, in delinquentem und kriminellem Handeln alternative Statuskriterien bzw. Verhaltensanforderungen vorfinden, nach denen sie leben und positive Selbstbewertungen erfahren können" (Eifler 2002: 75).

Der Nutzen der Delinquenz liegt für die Täter nicht in dem direkten Gewinn, den sie aus der Tat ziehen, sondern in dem (potentiellen) Zugewinn an Selbstwertgefühl, den die Begehung ihnen einbringen soll. Eine Frage, der noch weiter nachgegangen werden könnte, lautet: wie realistisch ist diese Erwartung? Lassen sich Bedingungen nennen, unter denen die Wahrscheinlich eines Aufgehens dieses Kalküls hoch/gering ist?

Die Theorie bietet Schnittstellen zur Subkulturtheorie, zur Control Balance Theory von Charles Tittle (1995), zu Aspekten der Theorie von Jack Katz (1988) und der General Strain Theory von Agnew (1992). Zur empirischen Bewährung vgl. Tittle 2000: 62.

Literatur

  • Cohen, Albert K. (1955) Delinquent Boys. The Culture of the Gang, New York: Macmillan.
  • Eifler, Stefanie (2002) Kriminalsoziologie. Bielefeld: transcript.
  • Kaplan, Howard B. (1975) Self-Attitudes and Deviant Behavior. Pacific Palisades, Ca.: Goodyear.
  • Kaplan, Howard B. (1978) Self-Attitudes and Deviant Response. Social Forces 54: 788-801.
  • Kaplan, Howard B. (1980) Toward a General Theory of Deviant Behavior, in: ders., Hg., Deviant Behavior in Defense of Self. New York: Academic Press: 3-37.
  • Kaplan, Howard B. (1995) Drugs, crime, and other deviant adaptations. In: Kaplan, Hg., Drugs, crime and other deviant adaptations: Longitudinal studies. New York: Plenum.
  • Kaplan, Howard B. & Mitchell B. Peck (1992) Self-Rejection, Coping Style, and Mode of Deviant Response. Social Science Quarterly 73: 903-919.
  • Kaplan, H.B. & C. Lin (2000) "Deviant Identity as a Moderator of the Relation between Negative Self-Feelings and Deviant Behavior." Journal of Early Adolescence 20(2): 150-177.
  • Stiles, B.L. & H.B. Kaplan (2004) “Adverse Social Comparison Processes and Negative Self-Feelings: A Test of Alternative Models.” Social Behavior and Personality: An international journal, 32 (1) 31-44.
  • Wells, L. Edward (1989) Self-Enhancement Through Delinquency: A Conditional Test of Self-Derogation Theory. Journal of Research in Crime and Delinquency, Vol. 26, No. 3: 226-252. DOI: 10.1177/0022427889026003003