Schattenreich des Rechts

Als legales Zwischenreich oder als Schattenreich des Rechts bezeichnet Nils Minkmar (2012) jenen Bereich innerhalb der Staaten, die sich selbst als Rechtsstaaten definieren, in dem es keine Rechtsstaatlichkeit gibt. Der Gedanke an diesen Bereich bereitet denjenigen ein tiefes und unklares Unbehagen, deren Glauben, in einem Rechtsstaat zu leben, tief verwurzelt ist. Er konfrontiert sie mit ihrem verdrängenden Bewußtsein, aber auch mit dem Phänomen des Wiedergängers einer nicht eingestandenen Schuld.

"Dieses Schattenreich gibt es: Gegen seinen eingekerkerten mutmaßlichen Informanten Bradley Manning ist bis heute kein Verfahren eröffnet worden - ebenso wenig gegen die Häftlinge in Guantánamo Bay. Es gibt ein ganzes Archipel mit Gefangenen und Verdächtigen, die dem öffentlichen Strafverfahren entzogen sind. - Nicht vergehende Fälle, Skandale ohne Auflösung und Verbrechen ohne Strafe, die permanente Verbannung in ein zweifelhaftes Zwischenreich, das ist das Merkmal, das der Fall Assange mit den beunruhigenden, schlimmsten Taten unserer Zeit teilt. Darum ist er so albtraumhaft verstörend. Es ist das Phänomen des Wiedergängers.
"Unser verdrängendes Bewusstsein. - Wir haben von Kindheit an das Rechtsstaatsprinzip internalisiert und vertrauen darauf, dass auf die Schuld eine Strafe folgt, dass Unrecht verfolgt und Unschuld beschützt wird. Das ist ein zentraler Teil unseres psychischen Immunsystems, so sehr, dass wir oft auf das Verfahren allein vertrauen, also glauben, dass eine Anklage schon auf die Schuld hinweist, nach dem Sprichwort 'Wo Rauch ist...'. Die gleiche Operation vollzieht unser Bewusstsein auch umgekehrt: Wenn keine Strafe erfolgt, dann wird es schon kein Verbrechen gewesen sein."
"Man muss sich noch einmal das Video ansehen, mit dem Wikileaks und Assange berühmt wurden, eine Aufnahme aus der Pilotenkanzel eines Kampfhubschraubers. Der Pilot nimmt an, dass es sich bei dem Kamerateam der Agentur Reuters um Aufständische handele, die Kamera eine Waffe und das Stativ ein Granatwerfer sei. Der Pilot feuert, aber einige suchen Deckung. Der Hubschrauber fliegt um den Block und feuert noch mal, bis alle tot sind. Das war ungefähr in jener Phase des Irak-Kriegs, in der Präsident Bush seine Sonderbeauftragte fragte, wie es denn dort so sei, im Irak. Sie antwortete: 'Die Hölle, Mister President.' Bis heute wurde niemand für diese Toten zur Rechenschaft gezogen. Keine Anklagen, keine Verfahren für jene, die sie dort hingeschickt haben."
"In der vergangenen Woche schrieb der Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu einen vielbeachteten Beitrag im 'Observer'. Er begründetet darin seine verspätete Absage einer Podiumsdiskussion, an der auch Tony Blair teilnehmen sollte. Und er trifft den Kern unseres verdrängenden Bewusstseins, wenn er feststellt, dass wegen des ungerechtfertigten, illegalen Angriffskrieges auf den Irak ein Verfahren vor dem internationalen Gerichtshof in Den Haag stattfinden müsste. Hunderttausende tote irakische Zivilisten, gefallene amerikanische und britische Soldaten, Verwundung und Verstümmelung, Zerstörung und Vertreibung gab es, ohne dass die dafür in schmerzvollen historischen Prozessen herausgearbeiteten Bedingungen und Verfahren beachtet worden wären."
"Aus Interviews mit damals entscheidenden Personen wissen wir, dass der Entschluss zum Angriff auf den Irak der Suche nach Gründen vorausging. Man entschloss sich, so Wolfowitz, die Gefahr durch Massenvernichtungswaffen in den Vordergrund zu spielen, um größere Unterstützung zu mobilisieren, aber der Entschluss stand da schon fest. Man kann sich das alles im Netz in der exzellenten Zusammenstellung „Leading to war“ kostenlos ansehen und zugleich erkennen, was man vergessen hat. - Ohne diese Lügen keine Folter in Abu Ghraib und Guantánamo, keine Videos und Dokumente von Kriegsverbrechen, kein Verrat von Geheimnissen, kein Wikileaks und kein Assange. Es ist das ursprüngliche Verbrechen. Das Drama um Assange ist das Symptom unseres schlechten Gewissens, wie ein wiederkehrender Albtraum. Assange verweist auf Bradley Manning, der auf Rumsfeld, Bush, Cheney und Blair verweist. Sie müssen vor ein ordentliches Gericht, alle."

Der Fall Assange taugt zum Symbol unserer Zeit - so Minkmar - weil "er nicht vergeht, sondern in einem legalen Zwischenreich aufgehoben ist. Es ist nicht abzusehen, wann Assange diese Botschaft verlässt, seine Zelle, die er dem drohenden amerikanischen Schattenreich vorzieht."

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