RSVP Prognoseinstrument

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Das „Risk for Sexual Violence Protocol“- kurz R S V P - ist ein Prognoseinstrument zur Einschätzung von zukünftiger sexueller Gewalt eines bereist strafrechtlich in Erscheinung getretenen Sexualstraftäters. Es handelt sich hierbei um einen strukturierten Leitfaden, der eine Weiterentwicklung des Prognoseinstruments SVR20 [1] darstellt.

Entstehung

Es gibt mittlerweile eine Vielzahl an Prognoseinstrumenten, unter denen man wählen kann und die in der Praxis unterschiedlich eingesetzt werden. Das Risk for Sexual Violence Protocol (RSVP) wurde in der Originalversion im Zeitraum von 1999 bis 2003 von S.D. Hart, P.R. Kropp und D.R. Laws in Kanada, Vancouver entwickelt und ist ein Manual, dass das Risiko für sexuelle Gewalt beurteilt. Das Manual wurde vom Institut für Forensische Psychiatrie Haina e.V. [2] ins Deutsche übersetzt und 2008 in Deutschland herausgegeben. Im Vergleich zu anderen bereits angewendeten Prognoseinstrumenten hat das RSVP neue Merkmale, bei denen fallspezifische Informationen und das Erheben von Risikoszenarien angewendet werden. Die verstärkte Beachtung von Risikofaktoren sowie die getrennte Beurteilung derer im Hinblick auf ihr Vorliegen und die Relevanz, stellen neue Merkmale dar, die sich vom Vorgänger SVR-20 unterscheiden. Sinn und Zweck des RSVP ist es, durch eine umfassende Risikoeinschätzung etwaiger erneuter sexueller Gewalt, präventive Maßnahmen entwickeln zu können. Dabei werden Männer ab dem 18. Lebensjahr untersucht, die bereits in der Vorgeschichte sexuelle Gewalt ausgeübt oder derer verdächtigt waren.

Anwendungsgebiet

Das RSVP findet in diversen Feldern seine Anwendung. Im Vorfeld von Gerichtsverhandlungen oder einer Haftstrafe kann es für das Strafmaß hilfreich sein, das Risiko erneuter Straftaten einzuschätzen. Für die Aufnahmediagnostik bei einer strafrechtlichen Unterbringung gemäß §§ 63/64 StGB (Anordnung einer Maßregel) ist es für die weitere Therapie oder Behandlung hilfreich, um mögliche Maßnahmen und Therapieinhalte zu bestimmen. Bei einer Entlassung des Probanden aus einer Unterbringung aus dem Straf- oder Maßregelvollzug wird es genutzt, um weitere Weisungen und Auflagen festzulegen und somit Kontrollmechanismen zu implementieren. Ein weiteres Gebiet ist die Forschung, wo das RSVP den Zweck hat, die Validität eines einzelnen Risikofaktors für sexuelle Gewalt zu untersuchen. Bei Lockerungsentscheidungen von Sexualstraftätern im Maßregelvollzug stellt es ein gutes Instrument dar, um mögliche Risiken festzustellen und gegebenenfalls das Risikomanagement anzupassen. Voraussetzung des Gutachters, der das Manual als Prognoseinstrument anwendet ist, dass er über Fachwissen über sexuelle Gewalt sowie diagnostische und psychiatrische Expertise verfügen sollte.

Aufbau und Durchführung

Das RSVP ist in sechs Schritte unterteilt, an die sich der Gutachter orientiert.

Schritt 1: Fallinformationen

Zunächst sollte sich der Gutachter mit der Frage beschäftigen, welche Informationen er benötigt, wie er diese sammelt und für welchen Zweck sowie in welchem Kontext er die Prognose erstellen muss. Die Informationssammlung erfolgt dann durch das Einholen von Primär- und Sekundärdaten. Hier werden zum einen Daten aus erster Hand erhoben, indem der Proband direkt untersucht wird und zum anderen erfolgt eine Sichtung aller bereits vorhandenen Akten, wie z.B. Krankenakte, Gerichtsakte, Bundeszentralregister etc. Im RSVP-Manual ist eine Mustercheckliste als Orientierung beigefügt.

Schritt 2: Vorliegen der Risikofaktoren

Hier wird anhand der 22 individuellen Risikofaktoren, die sich wiederrum in fünf Bereiche (Vorgeschichte sexueller Gewalt, psychische Anpassung, psychische Störung, soziale Anpassung und Führbarkeit) unterteilen, eine Codierung durch den Gutachter vorgenommen. Dabei ist zwischen den Zeitfenstern „früher vorhanden: mehr als 1 Jahr“ und „in der letzten Zeit vorhanden: während des Jahres“ zu unterscheiden. Bei der Codierung wird eine Dreipunkte-Skala benutzt, die in „Ja“, „?“ und „Nein“ geteilt ist. Das „?“ bildet hier den Risikofaktor ab, der teilweise oder möglicherweise vorhanden ist, jedoch nicht genau zu identifizieren ist oder über den keine Informationen vorliegen.

Schritt 3: Relevanz von Risikofaktoren

Für jeden codierten Risikofaktor wird die Relevanz ermittelt. Wenn zwischen dem Risikofaktor und der Ausübung von sexueller Gewalt ein kausaler Zusammenhang besteht, stellt dies für die weitere Planung der relevanten Kontrollen, Überwachung oder Behandlung eine Notwendigkeit dar. Auch hier findet die Codierung durch die Dreipunkte-Skala ihre Anwendung. Das „?“ bedeutet, dass ein Risikofaktor zwar vorliegt, dieser jedoch unklar oder limitierte Relevanz für die weitere Entwicklung hat.

Schritt 4: Risikoszenarien

Die Entwicklung und Beschreibung unterschiedlicher Szenarien, welche die Wahrscheinlichkeit von erneut angewendeter sexueller Gewalt darstellen, werden beim vierten Schritt vom Gutachter inszeniert. An dieser Stelle muss die Frage gestellt werden, was es zukünftig zu verhindern gilt. Erst dann können im weiteren Verlauf präventive Maßnahmen entwickelt werden. „Ein Szenario ist keine Vorhersage darüber, was passieren wird, sondern eine Projektion von dem, was passieren könnte“(RSVP Manual, S. 35).

Schritt 5: Risikomanagement-Strategien

Die bereits erarbeiteten Risikofaktoren und Risikoszenarien werden präzise betrachtet. Für jedes Szenario gibt der Gutachter Empfehlungen für den Umgang mit diesen Risikofaktoren. Es empfiehlt sich, die unterschiedlichen professionellen Helfersysteme mit ein zu beziehen. Wie viel Kontrolle notwendig ist, sollte im Verhältnis zu dem zu erwartenden Risiko stehen.

Schritt 6: Zusammenfassende Beurteilung

Der Gutachter beurteilt das Gesamtrisiko, welches von dem Probanden ausgeht, indem er die Priorität des Falls, das Risiko eines schweren körperlichen Schadens, alle weiteren identifizierten Risiken sowie die Notwendigkeit von Maßnahmen und den Termin zur Wiedervorlage vorschlägt und kommuniziert. Die Kodierung zur Risikoeinschätzung erfolgt auch hier nach einer Dreipunkte-Skala. Diese führt von „niedrig oder Routine“ über „mittel oder erhöht“ bis zu „hohes oder dringendes“ Risiko. Sind keine Interventions- oder Kontrollstrategien erforderlich, bedeutet dies „niedrig“ oder „Routine“. Wird eine höhere Überwachungsfrequenz des Probanden empfohlen, wird dies mit „mittel“ oder „erhöht“ kodiert. Ein „hohes“ oder „dringendes“ Risiko liegt vor, wenn ein Gefährdungspotential erkennbar ist und man erneute Sexualdelikte erwarten kann. Dabei gilt, je mehr Risikofaktoren im jeweiligen Fall vorhanden sind, desto höher ist das von dem Probanden zu erwartende Risiko.

Kriminologische Relevanz

Im Jahre 1933 wurde der Maßregelvollzug in das bestehende Strafgesetz in Deutschland aufgenommen. Seither wird die Frage nach der Kriminalprognose an die Psychiater gestellt. Es ist zu entscheiden, ob jemand in den Maßregelvollzug untergebracht wird (psychiatrisches Krankheitsbild, Entziehungsanstalt, Sicherungsverwahrung) und wann der Betroffene aus der Institution zu entlassen ist. Die Frage nach der bestehenden/vorliegenden Gefährlichkeit geht einher mit der Einschätzung, ob eine Fortdauer der Unterbringung zu vollziehen oder eine Entlassung aus der Unterbringung verantwortbar ist.

Durch die Veränderung des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten (Änderung vom 26.01.1998; SexdelBekG, BGBl Teil I S.160) [3] hat sich der Fokus auf die Rückfallprognose von Sexualstraftätern verschärft. Es gilt zu prüfen, wer wird wann und unter welchen Umständen, mit welchem Delikt rückfällig und wie kann dies verhindert werden? (vgl. Nedopil: 2004, S. 70) Sowohl individuelle Merkmale (wer) als auch zeitliche Dimensionen (wann) gilt es zu differenzieren und zu erkennen. Die situative Bedingtheit eines Rückfalls sollte erfasst werden, um anhand dessen, adäquate Interventionen zu entwickeln. In einigen Bundesländern wurde die "Haft-Entlassenen-Auskunfts-Datei-Sexualstraftäter" (HEADS) [4] eingerichtet, um den Informationsaustausch zwischen der Justiz, Polizei und dem Maßregelvollzug zu verbessern. Die Gesellschaft hat gerade in der Behandlung von Sexualstraftätern ein hohes Interesse daran, zukünftig erneute sexuelle Straftaten auszuschließen, wenn es darum geht, einen Straftäter zu resozialisieren.

Weiterhin ist das öffentliche Interesse an den Verurteilungen der Sexualstraftäter groß. Die emotionale Beteiligung und die Gedanken an die Geschädigten spielen eine wesentliche Rolle, wenn es um die Darstellung des Täters geht und damit einhergehend um die zu verhängende Strafe. Der Konflikt zwischen „für immer wegsperren“ und dem eigentlichen Resozialisierungsauftrag spielt dabei eine wesentliche Rolle. Betrachtet man hierbei den Labeling - Ansatz von Sack (1968), dann kann davon ausgegangen werden, dass durch den Zuschreibungsprozess und die Rollenzuweisung sowie die damit verbundene Verfolgung, Etikettierung und Diskriminierung der Straftäter durch die Gesellschaft, eher weitere delinquente Verhaltensweisen gefördert werden. Das Interesse der Wahrscheinlichkeitsvorhersage für einschlägige Straftaten wird daher immer höher. In der öffentlichen Debatte finden immer wieder Diskussionen über mögliche Kontrollmaßnahmen von entlassenen Sexualstraftätern statt. Die Nachfrage nach präventiven Maßnahmen wird immer größer. Das Dilemma, zwischen dem Gewährleisten eines angemessenen rechtlichen und praktischen Umgangs mit den Tätern und dem Sicherstellen des erreichbaren Schutzes für potentielle Opfer, ist in der Praxis allgegenwärtig. In den Massenmedien wird der Fokus auf Sexualstraftäter gelegt, wenn diese entlassen und erneut eine Sexualstraftat begehen. Das diese aber Einzelfälle darstellen und die Statistik andere Daten an die Öffentlichkeit bringt, wird meist außer Acht gelassen. Ähnlich wie bei Lombroso (1835-1909), der die Klassifikation des Straftäters anhand organischen Ursachen festmachte und diesen als unmoralisch und triebgesteuert betitelte, findet sich auch in der heutigen Gesellschaft oftmals die Meinung über den stereotypen Sexualstraftäter wieder: Sofern der Sexualstraftäter die Gelegenheit hat, wird er sich an Frauen und Kinder vergehen. Der Ansatz der Aufklärung, Transparenz und präventiven Maßnahmen könnten das Bild, das in der Gesellschaft herrscht, nachhaltig verändern. Es gibt nicht „den klassischen Sexualstraftäter“. (vgl. Niemeczek, 2015, S.41 ff)

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das RSVP dazu beiträgt, das Risiko erneuter sexueller Gewalt eines Straftäters differenziert zu erfassen. Es ist darauf ausgelegt, Risikofaktoren zu beachten und diese im Hinblick auf ihr Vorliegen und die Relevanz zu betrachten, um darauf aufbauend Methoden und präventive Maßnahmen als Risikomanagement für die Vermeidung von Sexualdelikten zu entwickeln. Diese zielen es im Hinblick auf Überwachung, Behandlung (Rehabilitationsstrategien), mögliche Kontrollen (durch Auferlegung von Weisungen und Auflagen) sowie Planungen zum Opferschutz ab.

Literatur

  • Elz, Jutta, Legalbewährung und kriminelle Karrieren von Sexualstraftätern- Sexuelle Mißbrauchsdelikte, Wiesbaden 2001, Bd. 33 KrimZ, Kriminologische Zentralstelle e.V., S. 13, 14
  • Hart, Stephen D., Kropp, P. Randall und Laws, D. Richard unter Mitarbeit von Klaver, Jessica, Logan, Caroline und Watt, Kelly A. (2008) RSVP (The Risk for Sexual Violoence Protocol) Eine strukturierte Leitlinie für die Vorhersage und das Risikomanagement von sexuellen Gewalttaten, Vancouver, Canada 2003; deutsche Übersetzung und Herausgabe durch Euckner, Sabine und Müller-Isberner, Rüdiger, Institut für Forensische Psychiatrie Haina e.V., Haina 2008
  • Nedopil, Norbert, Rückfallprognose bei Straftätern – Neue Gesichtspunkte für eine alte Fragestellung, Regensburg 2004, S. 70-91. In: Felber, W., Sutarski, S., Lammel, M.: Jahresheft für Forensische Psychiatrie, Kriminalprognosen – psychiatrische und juristische Sicht, 1. Jahrgang 2004
  • Nedopil, Norbert, Prognosen in der Forensischen Psychiatrie – Ein Handbuch für die Praxis, Lengerich 2005
  • Nedopil, Norbert Forensische Psychiatrie: Schutz oder Risiko für die Allgemeinheit?, Mönchengladbach 2004, In: Schöch, H., Jehle, J.-M.: Angewandte Kriminologie zwischen Freiheit und Sicherheit, Bd. 109, S. 347-356
  • Niemeczek, Anja, Tatverhalten und Täterpersönlichkeit von Sexualdelinquenten – Der Zusammenhang von Verhaltensmerkmalen und personenbezogene Eigenschaften, Wiesbaden 2015, S. 15, 16 und 42-46
  • Nowara, Sabine,: Sexualstraftäter und Maßregelvollzug – Eine empirische Untersuchung zu Legalbewährung und kriminellen Karrieren., Wiesbaden 2001, KrimZ, Kriminologische Zentralstelle e.V., Bd. 32, S. 11-13, 130-137
  • Seifert, Dieter, Gefährlichkeitsprognosen – Eine empirische Untersuchung über Patienten des psychiatrischen Maßregelvollzugs, Darmstadt 2007, S. 17-23

Weblinks