ROTA 66

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Die ROTA 66 (Rondas Ostensivas Tobias de Aguiar) ist eine Einheit der Policia Militar in Sao Paulo, Brasilien. Sie gilt einerseits als Eliteeinheit, wird andererseits aber auch als "Todesschwadron mit Killerinstinkt" bezeichnet. Ihr werden zahllose extralegale Tötungen insbesondere von Jugendlichen vorgeworfen.

ROTA

Das rund 820 Mann starke Polizeibattaillon hat die Aufgabe, in prekären Situationen schnell einzugreifen (Unruhen, Stadtguerilla etc.). Die Einheit benutzt dunkelgraue PKW mit einem schwarzen Streifen und dem Schriftzug "ROTA". Damit hebt sie sich von der rot-weiß-schwarzen Bürgerpolizei Sao Paulos ab.

Die Truppe erhält viel Unterstützung in der Öffentlichkeit. Obwohl sie nicht grundlos als "Todesschwadrone mit Killerinstinkt" oder als ein "außer Kontrolle geratenes staatliches Respressionsorgan" bezeichnet wird, vermittelt sie vielen Bürgern den Eindruck, dass sie effektiv gegen das Verbrechen vorgehe.

Es existieren kaum Angaben über die sozialpolitischen Gründe ihres Fortbestehens, die Ziele ihrer Einsätze, die gesellschaftliche Funktion der Gruppe etc. Ebenso unklar ist ihre Entstehungsgeschichte. Es fehlen Studien mit Informationen über die Einsätze und Mordzahlen, darüber wer die politischen Hintermänner sind und inwiefern sie in den polizeilich-militärischen Apparat eingebunden sind. Lediglich Claudio Barcellos hat sich diesen Problemen gewidmet und in seinem Buch "ROTA 66 - A história da polícia que mata" (zu deutsch: ROTA 66 - die Geschichte der Polizei die tötet) thematisiert.

Ein Beispiel für das Vorgehen der ROTA ist der Fall von J. T. und E. N. im Jahr 2006. Im Mai 2006 tötete die ROTA die beiden Personen während eines angeblichen Schusswechsels. J. T. und E. N. wurde vorgeworfen, ein Auto gestohlen zu haben, weshalb es zu einer Verfolgungsjagd mit der Polizeieinheit kam. Laut Aussagen der ROTA-Polzisten stiegen die beiden Verfolgten schließlich aus dem Auto und eröffneten das Feuer auf die Einheit. Durch das Rückfeuer der ROTA kamen die beiden Personen ums Leben. Wie spätere Autopsieberichte zeigten, konnten keine Schmauchspuren an den Händen der Opfer gefunden werden, was darauf hindeutet, dass ihrerseits keine Schüsse abgegeben worden waren. Stattdessen stellte man fest, dass J. T. und E. N. aus nächster Nähe erschossen wurden, in der Karosserie der ROTA-Fahrzeuge keine Einschussspuren gefunden werden konnten und auch die Zeugenaussagen zu den Aussagen der Polizisten im Widerspruch stehen. Dies ist nur einer von zahlreichen Fällen, bei denen potentielle Straftäter ums Leben kommen. Die ROTA verweist im Rahmen dieser Einsätze stets darauf, in Notwehr gehandelt zu haben, da seitens der verfolgten Personen angebliche Widerstandsleistungen bei der Festnahme erfolgten.

Namenspratron Rafael Tobias de Aguiar

Rafael Tobias de Aguiar (1795-1857) wurde als Sohn einer Bauernfamilie in Sorocaba geboren. Trotz seiner Herkunft begann er ein Studium in Sao Paulo und wurde zu einem bekannten und einflussreichen Mann in der brasilianischen Politik sowie im Militär.

Im Jahr 1821, als er sich für ein Amt als brasilianischer Abgeordneter zur Wahl stellte, trat de Aguiar erstmals in die Öffentlichkeit. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er einer der liberalen Staats- und Regierungschefs und wurde 1827 zum Direktor der Landesregierung gewählt. Darüber hinaus bekleidete de Aguiar zwei Mal das Amt des Präsidenten der Provinz Sao Paulo. Da er sein Gehalt regelmäßig an Schulen und wohltätige Organisationen spendete, wurde ihm der Titel des "Brigadeiro Honorário de império" verliehen.

1842 führte er gemeinsam mit seinem Schulfreund Antonio Diogo Feijo die liberale Revolution an. Ziel dieser Revolution war es, den Aufstieg der Konservativen während der frühen Amtszeit von Dom Pedro II zu bekämpfen. Im Mai 1842 wird de Aguiar von den Rebellen zum zwischenzeitlichen Präsident von Sorocaba ernannt. Sorocaba war im Zuge der Revolution zu einer provisorischen Hauptstadt der Rebellen geworden. Gemeinsam mit einem Heer von 1500 Männern fiel de Aguiar in Sao Paulo ein, um Baron de Monte Alegre, den Präsidenten der Provinz, zu stürzen.

Vor der Schlacht heiratete de Aguiar Domitilla de Castro Canto e Melo, die ehemalige Geliebte von Dom Pedro I, welche bereits sechs Kinder mit diesem hatte.

Schließlich wurde de Aguiar vom Militär der Imperialmacht besiegt und flüchtete nach Rio Grande do Sul, wo er sich der Rebellenvereinigung Guerra dos Farrapos anschloss. Später wurde er in Palmeira das Missoes inhaftiert, jedoch vom Fortaleza da Laje in Rio de Janeiro bald darauf begnadigt und konnte 1844 das Gefängnis verlassen, um nach Sao Paulo zurückkehren. Dort wurde er von einer begeisterten Menge empfangen.

In Brasilien wird de Aguiar als Schutzpatron der Policia Militar verstanden, weshalb sein Name auch das erste Batallion derselben (ROTA) bezeichnet.

Als einer der populärsten Führer der liberalen Partei von Sao Paulo starb de Aguiar im Oktober 1857 infolge einer schweren Krankheit. Noch heute gilt er als eine der bedeutensten Persönlichkeiten der nationalen Geschichte Brasiliens.

Policia Militar

Die Policia Militar in Brasilien, ist der Gendarmerie (frz. "gens d'armes" = "die Bewaffneten") eines Bundesstaates gleichzusetzen. Der Begriff ist historisch geprägt und bezeichnet seit 1890 die Milizen der einzelnen Bundesstaaten. Die Polcia Militar entspricht nicht dem eigentlichen Charakter einer Militärpolizei. Sie differenziert sich von der üblichen Militärpolizei sowohl in ihrer Funktion, als auch darin, dass sie den Zivilbehörden unterstellt ist. Insgesamt ist die Policia Militar eine 400.000 Mann starke Einheit, von der allein 100.000 zur Policia Militar des Staates Sao Paulo gehören. Die Tätigkeitsfelder der Milizen sind zum Teil länderspezifisch, da die Führungs- und Kontrollaufsicht Aufgabe der Langesregierungen ist. Die Policia Militar übernimmt eher Aufagben, die mit denen der deutschen Schutzpolizei vergleichbar sind. So gilt sie auch als Garant für die Einhaltung der Gesetze und nimmt die Aufgabe der Gefahrenabwehr wahr. Die Mitglieder der Policia Militar sind in der Regel deutlich zu erkennen an spezifischen Uniformen, Helmen etc.

Das Massaker in Carandiru

Das Gefängnis Casa de Detenção de São Paulo – im Volksmund bekannt unter dem Namen ‚Carandiru‘ – wurde 1956 für die Aufnahme von ca. 3000 Häftlingen erbaut. Schnell hatte sich diese Zahl verdoppelt. Bis zu seiner Schließung im Jahr 2002 beherbergte das Gefängnis mehr als doppelt so viele Häftlinge. Zu dem Problem der Überbelegung kam, dass die Insassen nicht entsprechend ihrer Deliktsschwere oder ihres Urteils zugeteilt wurden. So saßen Häftlinge der U-Haft gemeinsam mit bereits abgeurteilten Häftlingen ein, was nicht selten zu Auseinandersetzungen führte. Die gemeinsame Unterbringung wurde in den 1980er Jahren per Gesetzt zwar verboten, in der Gefängnispraxis von Carandiru jedoch ignoriert. „Brazil’s worst prison“ ist im Jahre 1992 Ort des schlimmsten Gefängnismassakers Brasiliens geworden. Im Zellenblock 9 des Gefängnisses kam es aufgrund einer Auseinandersetzung zweier Häftlinge zu Tumulten in der gesamten Insassenschaft. Das Gefängnispersonal verlor recht schnell den Überblick und die Kontrolle über die Situation und zog sich zurück. Darüber hinaus lösten sie Alarm aus, sodass für die Gefangenen bald keine einzige Fluchtmöglichkeit mehr bestand. Oberst Ubiratan Guimaraes, postierte 320 Polizisten der Policia Militar (darunter auch Männer der ROTA) vor den Mauern des Gefängnisses. Über Megafone war man bemüht, den Gefangenen die Vorbereitungen außerhalb des Gefängnisses zu schildern. Diese gaben daraufhin mit weißen Laken schwenkend das Zeichen, keine Gegenwehr leisten zu wollen. Entgegen der Anordnungen des Gefängnisdirektors gab Guimaraes eigens den Befehl das Gefängnis zu stürmen. Das Resultat dieses Befehls waren 111 getötete Häftlinge. Die Polizisten schossen vorwiegend auf Kopf und Brust und zielten wahllos auf jeden der sich ihnen in den Weg stellte. Bemerkenswert ist jedoch, dass lediglich Häftlinge getötet oder verletzt wurden, die Polizisten jedoch unversehrt blieben. Die Aussage der Policia Militar, die Schüsse auf die Insassen seien in Folge von Provokationen erfolgt, lassen sich entkräften. Untersuchungen konnten zeigen, dass die Häftlinge allesamt unbewaffnet waren und 13, an toten Häftlingen gefundene Waffen, diesen offenbar durch die ROTA zugesteckt wurden. Überlebende berichten, dass die Polizisten auf jeden Insassen schossen, vor allem aber auf solche, die sich versteckten oder solche die sich deutlich ergaben und nicht wehrten. Acht Jahre später wurde Carandiru erneut zum Schauplatz einer Rebellion. Gangmitglieder haben sich mit Hilfe von Mobiltelefonen organisiert und zu Aufständen aufgerufen. Diese fanden in 27 Gefängnissen im Staate Sao Paulo statt. Es kam zu Geiselnahmen von Besuchern, um bessere Unterbringungsbedingungen beim Personal zu erpressen. Im Jahre 2002 wurde das Gefängnis schließlich geschlossen, da es immer mehr zu einem Symbol der desaströsen Gefängnispolitik geworden ist.

Das Massaker in Carandiru gilt rückblickend, als das spektakulärste Menschenrechtsverbrechen Brasiliens. Vor der Schließung des Gefängnisses, fanden die Forderungen von Menschenrechtsorganisationen, nach Abschaffung der Folter und Ahndung von Menschenrechtsverbrechen im gesamten Land kein Gehör. In Folge der 111 getöteten Häftlinge in Carandiru bestand lange Zeit die Frage, welches Gericht für das Verfahren gegen Guimaraes zuständig sei. Fünf Jahre nach dem Massaker, im April 1997, wurde entschieden, dass Verfahren vor einem Zivilgericht durchzuführen. Problematisch war jedoch, dass Guimaraes zu dem Zeitpunkt als Landtagsabgeordneter politische Immunität besaß und das Verfahren somit nicht eingeleitet werden konnte. Nach eigenen Angaben zufällig, ist Guimaraes mit der Wahlnummer 111 in den Landtag eingezogen. Diese Zahl wurde von Menschenrechtlern kritisch hinterfragt und beurteilt. Es wurde schließlich angenommen, dass diese Nummer kein Zufall war, sondern bewusst gewählt wurde. Trotz des Massakers war Guimaraes in der Bevölkerung Sao Paulos beliebt und so gehen viele Menschenrechtsorganisationen davon aus, dass er nicht trotz, sondern gerade wegen des Massakers gewählt worden war. Dies ist durchaus auch darauf zurüczuführen, dass die Menschenrechtsorganisationen weiten Teilen der Bevölkerung ein Dorn im Auge waren. Sie setzten sich für bessere Haftbedingungen ein und galten demnach als "Verteidiger des Verbrechens". Das Volk hat daher das brutale Vorgehen der Polizei gebilligt und akzeptiert. Weitere vier Jahre später wurde Guimaraes schließlich zu 632 Jahren Haft verurteilt, welche aufgrund eines Rechtsmittelverfahrens, eingeleitet durch Guimaraes Anwälte, vorerst ausgesetzt wurden. Die Menschenrechtsorganisationen waren vor allem in den Jahren 1964-1984, in denen sich Braisilien in einer Militärdiktatur befand, missbilligt worden. Erst mit der Redemokratisierung Brasiliens nahm die Akzeptanz bezüglich dieser Gruppen zu. Medienberichte und Bücher verhalfen der Bevölkerung dazu, einen Einblick in die Zustände vor Ort zu erhalten. Seither fordern diverse Kräfte das Einschreiten gegen Menschenrechtsverbrechen und vor allem bei denen solchen Ausmaßes. Darüberhinaus besteht die Forderung nach einer bürgernahen Polizei und Resozialisierung durch die Inhaftierung. Diesen Forderungen wird trotz der Schließung Carandirus, keine Folge geleistet. Weiterhin werden Menschenrechtsverbrecher freigesprochen, es werden Menschen verfolgt, während andere geschützt werden. Dieses Vorgehen scheint Resultat einer sogenannten "Law and Order Politik" zu sein. Darunter ist eine Politik zu verstehen, welche sich vor allem der inneren Sicherheit eines Landes als Mittel bedient. Es sei daher legitim, Grundrechte einzuschränken oder abzubauen. Im Jahre 2003 sprach die Gouverneurin von Rio de Janeiro folgende Worte: "Wir wollen nicht das jemand umkommt, aber wenn jemand sterben muss, dann derjenige, der schlechtes in die Gesellschaft bringt". Dieser Ausspruch verdeutlich wiederholt die Problematik, dass Polizeieinheiten wie die ROTA, durchaus wahllos (potenzielle) Verbrecher erschießen können und ihre Taten somit gerechtfertigt sind. Durch den Fall des Carandiru-Gefängnisses wurde die ROTA weltweit berühmt und ist für ihr brutales Vorgehen berüchtigt.

Claudio Barcellos

Barcellos wurde 1950 in Porto Alegre geboren und lebte das Leben eines rebellischen Jugendlichen. Aufgewachsen in der Kultur der Gegenbewegung veranstaltete er mit seinen Freunden, illegale Autorennen, kiffte und hörte die Rolling Stones. Dieser Personenkreis, in dem Barcellos groß wurde, war ebenfalls von den Einsätzen der ROTA betroffen. Mit 25 Jahren war er noch Journalist bei einer kleinen Zeitung in Sao Paulo. Weitere 20 Jahre später zählt man ihn zu den besten Journalisten Brasiliens. In seinem wohl bekanntesten Werk - "ROTA 66 - Mord in Sao Paulo", berichtet Barcellos von Treibjagden und Massakern der Einheit. Er deckt sie auf, besuchte Tatorte, befragte Zeugen, wälzt sich durch zahlreiche Archive und Zeitungen, besucht die Gerichtsmedizin und anaylsiert die Machenschaften dieser Elitetruppe. Durch seine Recherchen verlor Barcellos zwar seinen Job, erhielt diverse Morddrohungen und brachte sich so manches Mal in Gefahr, doch lieferte er dafür ein Buch voller Fakten und Erfahrungen über das, was die Einheit bis heute geworden ist. Darüber hinaus ehrt es ihn, dass durch seine Recherchen einige Mörder verurteilt werden konnten. Für seine Mühen erhielt er schließlich einen Literaturpreis, sowie diverse Auszeichnungen und Menschenrechtspreise. Ein ebenfalls durchaus erwähnenswertes Werk ist "Strategia del Terrore", geschrieben von Ettore Biocca. Dieses ist im Jahr 1974 erschienen und enthält detaillierte Beschreibungen zur Entstehungsgeschichte von Todesschwadronen. Darüber hinaus verbindet Biocca die Geschichte staatlicher und halbstaatlicher Repression mit der Analyse des Systems der sozialen Ungerechtigkeit in Brasilien.


Literatur

  • Barcellos, Cláudio (1994) Mord in São Paulo: den Todesschwadronen auf der Spur. Aus dem brasilian. portug. v. Sabine Müller-Nordhoff, Lamuv Verl., Göttingen 1994, ISBN 3-88977-358-3.

Weblinks

--Kathleen 14:00, 17. Aug. 2012 (CEST) --Wiebke 14:11, 17. Aug. 2012 (CEST)