Rückwirkung

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In der Rechtswissenschaft bezeichnet der Begriff der Rückwirkung den Geltungsanspruch einer Norm für einen Sachverhalt, der zeitlich vor ihrem Inkrafttreten lag. Beispiel: ein Gesetz sieht die Todesstrafe für "xyz" vor - und zwar auch dann, wenn "xyz" vor dem Inkrafttreten des Gesetzes begangen wurde. Die herrschende Ansicht zur Rückwirkung im Strafrecht lautet: "Im Strafrecht gilt ein absolutes Rückwirkungsverbot" ([[1]]. Rückwirkung würde einer der Grundbedingungen freiheitlicher Verfassungen, dem Prinzip der Verlässlichkeit der Rechtsordnung, widersprechen. Jeder soll generell darauf vertrauen können, dass sein rechtmäßiges Handeln später nicht nachteilig wirkt. In der Rechtswirklichkeit finden sich dennoch viele Fälle von Rückwirkung, und zwar auch im Strafrecht.

Terminologie

Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichts unterscheidet echte und unechte Rückwirkung.

  • Echte Rückwirkung liegt vor, wenn der Gesetzgeber Rechtsfolgen an einen abgeschlossenen Sachverhalt anknüpft. Eine solche Rückwirkung verstößt grundsätzlich gegen das rechtsstaatliche Gebot des Vertrauensschutzes. Entsprechend liegt kein Verstoß vor wenn ein Vertrauen nicht schutzwürdig war, weil entweder zum dem Zeitpunkt auf den das Gesetz zurückwirkt, mit einer entsprechenden Regelung zu rechnen war (BVerfGE 30, 387) oder die Rechtslage unklar und verworren oder lückenhaft war oder in einem Maße systemwidrig und unbillig, so daß ernsthafte Zweifel an deren Verfassungsmäßigkeit bestanden (BVerfGE 30, 388) oder kein oder nur ganz unerheblicher Schaden verursacht wird (BVerfGE 30, 389).

Die echte Rückwirkung tritt ein, wenn der Beginn des zeitlichen Anwendungsbereichs eines Gesetzes auf einen Zeitpunkt festgelegt ist, der vor dem Zeitpunkt liegt, zu dem das Gesetz gültig wird. Hierbei findet ein nachträglich ändernder Eingriff in einen abgeschlossenen, der Vergangenheit angehörigen Sachverhalt statt. Eine echte Rückwirkung würde einer der Grundbedingungen freiheitlicher Verfassungen, dem Prinzip der Verlässlichkeit der Rechtsordnung (Rechtssicherheit), widersprechen und ist daher nicht zulässig. Grundsätzlich muss jeder darauf vertrauen können, dass ihm ein rechtmäßiges Handeln nicht zu einem späteren Zeitpunkt nachteilig angelastet wird (Vertrauensschutz). Ausnahmen werden jedoch gemacht, wenn das Vertrauen des Bürgers nicht schutzwürdig ist, er also mit einer Neuregelung rechnen musste, ein nichtiges Gesetz durch eine neue Regelung ersetzt wird, zwingende Gründe des Gemeinwohls die Rückwirkung erfordern, ein nur formell verfassungswidriges Gesetz formell ordnungsgemäß mit Rückwirkung neu beschlossen wird oder aber die bisherige Gesetzeslage unklar und verworren ist, denn im letzten Fall kann ein schutzwürdiges Vertrauen von vornherein nicht bestanden haben.


  • Unechte Rückwirkung liegt vor, wenn der Gesetzgeber an einen in der Vergangenheit begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen Sachverhalt anknüpft. Für Gesetze mit unechter Rückwirkung bestehen keine besonderen Anforderungen (siehe BVerfGE 30, 386).

Bei der unechten Rückwirkung treten die Rechtsfolgen eines Gesetzes erst nach Verkündung der Norm ein, ihr Tatbestand erfasst aber Sachverhalte, die bereits vor der Verkündung "ins Werk gesetzt wurden" (BVerfGE 31, 275 (292), BVerfGE 72, 200 (242)). Die Regelungen knüpfen in dieser Variante an gegenwärtigen, noch nicht abgeschlossenen Sachverhalten mit Rechtsfolgen für die Zukunft an, wodurch die betroffene in der Vergangenheit erworbene Rechtsposition dann nachträglich entwertet wird. Soweit die unechte Rückwirkung zwar grundsätzlich möglich ist, so ist bei einer Interessen- und Güterabwägung unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes, der Grundrechte und vom Sinn und Zweck des Gesetzes durch z.B. Übergangsregelungen dem Betroffenen Vertrauensschutz dann zu gewähren, wenn sein schutzwürdiges Vertrauen auf den bisherigen Rechtszustand überwiegt.

Der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts unterscheidet nicht zwischen echter und unechter Rückwirkung, sondern zwischen Rückbewirkung von Rechtsfolgen und einer vom Rückwirkungsbegriff selbständigen tatbestandlichen Rückanknüpfung. Rückbewirkung = Die Rechtsfolgen einer Norm sollen für einen bestimmten Zeitraum eintreten, der vor der Verkündigung liegt (zeitlicher Anwendungsbereich).


Außerdem gibt es noch die sog. "Tatbestandliche Rückanknüpfung": Für künftige Rechtsfolgen knüpft eine Norm in ihrem Tatbestand an Umstände aus der Zeit vor Verkündung der Norm an (sachlicher Anwendungsbereich). Wir vom Bundesverfassungsgericht als unechte Rückwirkung behandelt.

Rückwirkungsverbot

Das Rückwirkungsverbot (lat.: lex retro non agit) verbietet grundsätzlich staatliche Akte, die rechtliche Normen oder Verfahren so ändern, dass an vergangenes Handeln nun eine andere Folge geknüpft wird. Problematisch ist dabei, dass der Adressat der Norm sich zum Zeitpunkt seines ursprünglichen Verhaltens nicht auf diese Folge einstellen konnte. Vertrauensschutz bedeutet Schutz des Vertrauens in die Beständigkeit und Nachhaltigkeit der Gesetze. Wer von einem Gesetz betroffen ist, kann auf die Geltung der Vorschrift vertrauen. Daraus folgt ganz generell auf jeden Fall: Gänzlich unzulässig ist eine Rückwirkung im Strafrecht.

Außerhalb des Strafrechts kommt eine Ausnahme vom Rückwirkungsverbot nur dann in Betracht:

  • wenn das Vertrauen des Bürgers nicht schutzwürdig ist, er also mit einer Neuregelung rechnen musste oder
  • wenn er berechtigterweise überhaupt nicht vertrauen durfte
  • zwingende Gründe des Gemeinwohls die Rückwirkung erfordern
  • ein nichtiges Gesetz durch eine neue Regelung ersetzt wird oder
  • die bisherige Rechtslage unklar war.

Rückwirkungsverbot im Strafrecht (nulla poena sine lege)

  • Weimarer Republik

Die Weimarer Republik kannte zahlreiche Verletzungen des Rückwirkungsverbots im Strafrecht. Zitat Evans (2005: 147): "Die Ermächtigung zum Erlassen von Notverordnungen war nur für außerordentliche Notfälle vorgesehen. Als erster Reichspräsident machte Ebert ausgiebigen Gebrauch von diesem Instrument, das er bei nicht weniger als 136 verschiedenen Gelegenheiten benutzte. So setzte er rechtmäßig gewählte Regierungen in Sachsen und in Thüringen ab, als sie seiner Meinung nach zu Unruheherden zu werden drohten. Noch gefährlicher war eine rückdatierte Verordnung während des Bürgerkriegs im Ruhrgebiet 1920, worin Ebert nachträglich Verstöße gegen die öffentliche Ordnung mit der Todesstrafe ahndete und viele Exekutionen für Rechtens erklärte, die Freikorpsverbände und Reichswehr an Angehörigen der Roten Armee vollstreckt hatten. In beiden Fällen wurden diese Vollmachten gegen vermeintliche Bedrohungen der Republik von links eingesetzt, während sie gegen die Gefahr von rechts so gut wie gar nicht zur Anwendung kamen."


Rückwirkung im Verwaltungsrecht

Im Verwaltungsrecht begegnet oftmals die Rückwirkung von Verwaltungsakten. So wirkt die Rücknahme (§ 48 VwVfG) eines rechtswidrigen Verwaltungsakts entweder auf den Zeitpunkt zurück, in dem er erlassen und wirksam wurde (ex tunc) oder er verliert seine Wirkung für die Zukunft (ex nunc) (§ 48 Abs. 1 Satz 1 VwVfG). Während der Widerruf eines rechtmäßigen Verwaltungsakts (§ 49 VwVfG) i. d. R. nur für die Zukunft (ex nunc) gilt. Auch hier kann aber ein Verwaltungsakt, bei Geld bzw. Sachleistungen unter bestimmten Voraussetzungen, für die Vergangenheit widerrufen werden (§ 49 Abs. 3 VwVfG).

Rückwirkung im Völkerrecht

Eine besondere Rolle spielt die Rückwirkung von Gesetzen im Völkerrecht. Laut Art.7 Abs.2 der Europäischen Menschenrechtskonvention wird durch das Rückwirkungsverbot nicht ausgeschlossen, „dass jemand wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt oder bestraft wird, die zur Zeit ihrer Begehung nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war.“ Hierzu zählt beispielsweise Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auf dieser rechtlichen Basis ist beispielsweise die Bestrafung von Diktatoren möglich.

Literatur

  • Evans, Richard J. (2005) Das Dritte Reich. Aufstieg. München: dtv.

Weblinks

http://www.europarecht.uni-goettingen.de/Paper22.pdf (PDF-Datei; 209 kB)