Pseudoerinnerung

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Wenn ein Mensch sich an ein Ereignis erinnert, das er nie tatsächlich erlebt hat, spricht man von einer Pseudoerinnerung.

Entstehung von Pseudoerinnerungen

Der Induktion komplexer Pseudoerinnerungen geht in der Regel die Annahme des Befragers voraus- einem Therapeuten, einem Polizisten, einer Erzieherin, einem Familienangehörigen o.a.- dass ein Geschehnis in der Vergangenheit des Befragten stattgefunden haben muss. Von diesem wolle der Befragte entweder nicht berichten oder aber er kann oder will sich nicht an dieses erinnern. Diese Vorannahme beruht häufig auf Beobachtungen oder Informationen des Befragers, die ihm Auffälligkeiten im Verhalten des Befragten aufzeigen. Bei Kindern können dies z.B. Wutausbrüche, sozialer Rückzug, nächtliches Einnässen, Verschlechterung der schulischen Leistungen usw. sein, die einen Beobachter zu der Annahme kommen lassen kann, das Kind habe sexuelle Gewalt erfahren. Dabei ist zu bedenken, dass ein so genanntes „Missbrauchssyndom“ wissenschaftlich nicht belegt ist. Durch verschiedene suggestive Fragetechniken kann beim Befragten suggestiver Druck entstehen, der ihn sozial erwünscht antworten lässt. Besonders junge Kinder sind leicht suggestiv zu beeinflussen. Suggestive Fragetechniken sind u.a. das Ignorieren von Verneinungen oder wiederholtes Nachfragen zum verneinten Sachverhalt, außerdem Schilderungen ähnlicher Ereignisse bei anderen Menschen wie in diesem Fall vermuteten („Geschichte vom anderen Kind“). Das Schildern-Lassen eines Missbrauchs in der „Als ob“-Technik oder die (nicht zutreffende) Bemerkung, der Fragende wisse über die Geschehnisse bereits Bescheid sind ebenso Methoden der so genannten Aufdeckungsarbeit. Bei Kindern ist außerdem der Einsatz so genannter anatomisch korrekter Puppen eine suggestive Technik, die unsinnig ist, da bei sehr jungen Kindern das Verständnis fehlt, eigene Erfahrungen an einem Objekt zu repräsentieren.

Ähnliche Phänomene

  • Bogus vets (Pseudoveteranen): dabei handelt es sich um Menschen, die von PTBS berichten, die sie angeblich im Vietnam-Krieg erlitten hätten, obwohl sie nachweislich niemals dort stationiert waren.
  • Fantasy proneness (Fantasieneigung): es gibt nach Wilson und Barber (1983) Menschen, die zwanghaft dazu neigen, sich vollkommen in ihren Tagträumen und Fantasien zu verlieren.
  • Pseudologia Phantastica: Unterform der narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Zeichnet sich aus durch zwanghaftes Geschichtenerzählen, dranghaftes Lügen in Verbindung mit Störungen der Impulskontrolle und dem Fehlen von Schuld- und Schamgefühlen bei Aufdeckung der Lügen.

Abgrenzung zu „Recovered Memories“

Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das in therapeutischen Settings ab den achtziger Jahren verstärkt auftrat. Bis dato herrschte Konsens darüber, dass Missbrauchserfahrungen oder traumatische Erlebnisse von den Opfern bzw. Betroffenen relativ mühelos erinnert wurden. Nun traten im Zuge aufdeckend arbeitender Therapieformen (z.B. Hypnotherapie) zunehmend Erinnerungsbilder bei Patienten auf, die zunächst diffus waren, in weiterer Arbeit mit dem Therapeuten schließlich klarer, deutlicher und detailreicher wurden. Häufig richteten sich die Missbrauchsvorwürfe gegen Familienmitglieder, es gab aber auch Fälle, in denen Patienten von satanischen Ritualen oder Entführungen durch Außerirdische berichteten. Im Zuge dessen bildeten sich zwei Gruppen innerhalb der American Psychiatric Association, die ihre Positionen als „scepticals“ und „true believers“ verteidigten. Gedächtnispsychologisch ist das Auftreten von „Recovered Memories“ bis heute nicht ausreichend belegt. Es existieren Erklärungsmodelle von z.B. von van der Kolk et al. (1) und Kandel et al. (2), die besagen, dass Traumata nur partiell verarbeitet werden und Teile der Informationen im Arbeitsgedächtnis verbleiben, von wo aus sie als „Flashbacks“ o.ä. wieder offenbar werden (1), bzw. es werden hormonelle Ursachen im Hirnstoffwechsel angenommen, die nach stressreichen Ereignissen einen negativen Einfluss auf die Erinnerungsfähigkeit haben (2). Auf der anderen Seite geht ein Großteil der derzeit forschenden Gedächtnispsychologen davon aus, dass Erinnerungen nicht wie auf einer Festplatte gespeichert werden, sondern modifizierbar sind und damit in ihrer Zuverlässigkeit in Frage gestellt werden können.

Entwicklung des Begriffs

Entgegen landläufiger Meinung ist der Begriff kein wissenschaftlicher, sondern ein PR-Produkt. Populär wurde er nach Gründung einer Organisation, die sich der Erforschung von Pseudoerinnerungen verschrieben hatte. Das Ehepaar Peter und Pamela Freyd suchte per Zeitungsannonce andere Elternpaare, die von ihren Kindern - in ihren Augen- fälschlicherweise des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurden. So war es Peter Freyd durch seine Tochter Jennifer ergangen, die nach einer Psychotherapie behauptete, von ihm im Zeitraum zwischen drei und sechzehn Jahren missbraucht worden zu sein. Die Freyds wurden Begründer der gemeinnützigen Stiftung „False Memory Syndrome Foundation“, der sich auch Humanwissenschaftler anschlossen. Dem gegenüber stellt sich die amerikanische Psychologin und Harvard-Professorin Judith Herman, die über das Thema „Trauma and recovery“ forschte und die eine Verfechterin der „Recovered Memory“-Theorie ist. Sie bezeichnet die Opfer sexuellen Missbrauchs als „survivors“ -einem Begriff, der bis dahin Holocaust-Überlebenden vorbehalten war. Kritiker der „False-Memory-Syndrome-Foundation“ werfen dieser vor, den Tätern eine Plattform zu geben.

Kriminologische Relevanz

Eine amerikanische Studie besagt, dass 90% aller in den USA stattgefundenen Fehlurteile auf unzuverlässigen bzw. falschen Zeugenaussagen beruhen. Das Falschinformationsparadigma von Loftus und Palmer (1974) besagt, dass Gedächtnisverzerrungen durch in die Irre führende Fragen hervorgerufen werden können. Loftus, eine der bekanntesten Gedächtnisforscherinnen der Welt, hat in zahlreichen Experimenten bewiesen, dass es sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern relativ leicht ist, falsche (Kindheits-) Erinnerungen zu induzieren („Heißluftballon“-Experiment, „Verloren im Kaufhaus“-Experiment“, „Bugs Bunny in Disneyland“- Experiment usw.). Die Erforschung von Pseudoerinnerungen und Gedächtnistäuschungen aller Art haben einen wichtigen Belang für die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen und Befragungstechniken bei der Polizei und vor Gericht. Zahlreiche in Psychotherapien aufgedeckte Missbrauchserfahrungen, die unter Umständen auf Pseudoerinnerungen zurückzuführen sind, finden ihren Weg vor Gericht. Da sie nur schwer von tatsächlich erinnerten Ereignissen abgrenzbar sind (z. B. durch eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung), ist es notwendig, auf einige Indikatoren zu achten, die für eine Pseudoerinnerung sprechen. So sind Erinnerungen an Ereignisse, die vor dem dritten Lebensjahr stattgefunden haben sollen, anzuzweifeln, da sie dem empirisch überprüften Konzept der infantilen Amnesie widersprechen. Auch ist immer der Entstehungsprozess einer Aussage zu betrachten.

Montessori- und Wormser Missbrauchsprozesse

In den neunziger Jahren gab es in Deutschland zwei öffentlichkeitswirksame Prozesse wegen Missbrauchs an Kindern, die beide mit Freisprüchen endeten. In beiden Fällen wurden Tatverdächtige grausamster Gewalttaten gegen Kinder angeklagt. Grundlagen der Anklagen waren die Aussagen der Kinder. Die Erstbefrager waren neben den Eltern Mitarbeiterinnen von Kinderschutzorganisationen wie „Zartbitter e.V.“ und „Wildwasser e.V.“. Diese wandten nachweislich suggestive Fragetechniken an, die nicht darauf abzielten, ob überhaupt etwas geschehen sei, sondern, wie und in welchem Maße der schon vorangenommene Missbrauch stattgefunden habe. Damit wurden die Aussagen der Kinder, die von Befragung zu Befragung deutlicher, detailreicher, aber auch bizarrer wurden, unbrauchbar. Speziell in den Wormser Prozessen wurden die für die Kinder psychisch belastenden Fragetechniken in ihrer Wirkung deutlich: Hier beschuldigte ein fünfjähriges Mädchen nach einjähriger intensiver Befragung auch die mit dem Fall betrauten Polizisten, die das Kind befragten, des sexuellen Missbrauchs. In seinem Urteil vom 30.7.1999 hat der Bundesgerichtshof Mindeststandards bei der Begutachtung kindlicher Zeugen festgelegt (AZ 1 StR 618 / 98). Die langfristigen Folgen der Wormser Prozesse stellen sich so da, dass sechs Kinder nie zu ihren Eltern zurückkehrten, weil sie durch ihre induzierten Erinnerungen nachhaltig davon überzeugt waren, die grausamen Geschehnisse wirklich erlebt zu haben. Sie wurden gemeinsam in dem Kinderheim „Spatzennest“ im pfälzischen Ort Ramsen untergebracht. Dessen Leiter, der in den Wormser Prozessen als Zeuge der Anklage gegen die Eltern ausgesagt hatte, wurde im November 2011 zu einer Haftstrafe von fünf Jahren und acht Monaten verurteilt. Der Tatvorwurf lautete schwerer sexueller Missbrauch. Das Kinderheim ist mittlerweile geschlossen.

Was Erwachsene angeht, die (im Rahmen einer Therapie) eine Pseudoerinnerung an ein traumatisches Erlebnis entwickeln und sich selbst fortan als Opfer betrachten, so gibt Stoffels zu bedenken, dass die Diagnose PTBS in der heutigen Zeit inflationär angewendet wird. War ursprünglich der Begriff des Traumas ausschließlich Personen zugesprochen, die KZ-Terror, Krieg, Folter, Unfälle, Gewalt oder Naturkatastrophen überlebt haben, so wird heutzutage Menschen ein Trauma diagnostiziert, die eine Krebsdiagnose erhalten, auf einer Intensivstation behandelt wurden, arbeitslos, pensioniert oder geschieden werden, Lärm oder Mobbing ausgesetzt sind oder schlichtweg altern. Mittlerweile sprechen Ärzte von einer Prävalenz von 7% in der Bevölkerung, die eine PTBS haben. Bruckner spricht von der „Viktimisierung“ der Gesellschaft, die es Menschen ermöglicht, sich als selbsternanntes Opfer von den Widrigkeiten des eigenen Lebens abzuwenden. Das Opfer-Sein sei eine Modeerscheinung, von der sich jemand Trost, Zuwendung und Ansprüche auf Wiedergutmachung erhoffe. Auch Garland stellt die These auf, dass in den modernen „High Crime Societies“ das Opfer mit seinen Interessen und Gefühlen eine entscheidende Rolle spielt, sowohl bei der Entstehung neuer Strafgesetze als auch in der medialen Verwertung individueller Schicksale von Opfern. Stoffels spricht vom „Trauma als Faszinosum“ und von „der Sehnsucht, ein Opfer zu sein“.

Kritik

Aus konstruktivistischer Sicht gibt es keine „echten“ Erinnerungen, da jegliche Wahrnehmungen auf Interpretationen beruhen und es nicht möglich ist, perfekte Abbilder der Realität zu speichern. Judith Herman nennt die Erkenntnisse von Elisabeth Loftus über induzierte Erinnerungen unseriös und spricht vom „Missbrauch des Missbrauchs“. Stoffels wird u.a. von Pross dahingehend kritisiert, dass er durch polemische Darstellung spektakulärer Fallbeispiele das Misstrauen zwischen Therapeut und Patient schüre und damit den Zugang zu wahrhaftig verdrängten Traumata erschwere.

Quellen

  • Bruckner, P.: Ich leide, also bin ich - die Krankheit der Moderne - Eine Streitschrift - Verlag Büchergilde Gutenberg 1997
  • Diekmann, I.; Schoeps, J.H.(Hrsg.): Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein. Pendo Verlag Zürich 2002
  • Erdmann, K.: Induktion von Pseudoerinnerungen bei Kindern. Möglichkeiten und Grenzen aussagepsychologischer Diagnostik bei suggerierten Aussagen. Dissertation an der FU Berlin, 2001.
  • Herman, J.L.: Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Verlag Droemer Knaur, München 1994
  • Knecht, T.: Erfunden oder wiedergefunden? – Zum aktuellen Stand der „Recovered-Memory“-Debatte. Schweiz Med Forum 2005;5:1083-1087
  • Loftus, E.; Pickrell, J.: The formation of false memories. Psychiatric Annals 1995; 25
  • Ludewig, R.; Tavor, D.; Baumer, S.: Wie können aussagepsychologische Erkenntnisse Richtern, Staatsanwälten und Anwälten helfen? AJP/PJA 11/2011
  • Pross, C.: Fingierte posttraumatische Belastungsstörung – ein Beitrag zur Debatte über „False Memory“ ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin 3. JG. (2005) HEFT 2
  • Steller, M.; Volbert, R.: Psychologie im Strafverfahren- Ein Handbuch. Verlag H.Huber Bern 1997
  • Stoffels, H.; Ernst, C.: Erinnerung und Pseudoerinnerung -Über die Sehnsucht, Traumaopfer zu sein. Nervenarzt 2002
  • Stoffels, H.: Das Trauma zwischen Faszinosum und therapeutischer Herausforderung. Med Sach 103, 5/2007