Oury Jalloh

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BlackLivesMatter protest Berlin 2020-06-27 14

Oury Jalloh (* 2.6.1968 in Sierra Leone, † 7.1.2005 in Dessau) lebte vier Jahre in Deutschland, bevor er auf einem Polizeirevier unter ungeklärten Umständen ums Leben kam. Ein Strafprozess gegen Polizisten endete am 8.12.2008 mit einem Freispruch. Danach erklärte der Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt, Holger Hövelmann, SPD, ein Disziplinarverfahren gegen die beiden Polizisten an. Weiterhin erklärte er: “Ich möchte für mich persönlich, aber auch im Namen der gesamten Polizei des Landes Sachsen-Anhalt erneut meine Trauer und meine Beschämung darüber ausdrücken, dass ein Mensch in der Obhut der Polizei einen so schrecklichen Tod gestorben ist.”


Leben

Jalloh hatte einen Asylantrag gestellt. Dabei hatte er als Geburtsjahr 1983 angegeben, um bessere Chancen zu haben. Der Antrag wurde trotzdem abgewiesen. Sein Aufenthalt wurde nur noch geduldet. Mit einer Deutschen hatte er ein Kind. Die Mutter gab das Kind zur Adoption frei.

Sterben

Polizeiversion

Jalloh war alkoholisiert und stand unter dem Einfluss von Kokain. Mehrere Frauen, die von ihm belästigt worden waren, riefen die Polizei. Diese nahm Jalloh bei einer Personenkontrolle in Gewahrsam. Gegen die Festnahme leistete er Widerstand. Er wurde gefesselt. Er verbrachte zweieinhalb Stunden in einer Zelle unter Kontrolle von Polizeibeamten. Die letzte Überprüfung der gefliesten Zelle erfolgte ca. 10 Minuten vor Ausbruch des Feuers. Jalloh setzte dann selbst seine Matratze in Brand. Er starb.

Der Dienstgruppenleiter konnte mittels einer Sprechanlage die Zelle abhören. Wegen eines Telefonats stellte der Beamte die Anlage zwischenzeitlich leise. Später hörten er und eine Kollegin „plätschernde Geräusche“, während gleichzeitig der Rauchmelder Alarm auslöste. Er schaltete den Feueralarm vollständig ab, weil die Rauchmelder schon mehrfach falsch angeschlagen hätten. Als später der Lüftungsschalter anschlug und das „Plätschern“ lauter wurde, machte er sich auf den Weg zur Zelle. Wegen der Rauchentwicklung gelang es nicht, den an den Zellenboden gefesselten Gefangenen zu retten.

Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen

Einen Monat später wurde der Tod von Jalloh der Öffentlichkeit bekannt. Im Mai 2005 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen zwei Polizeibeamte wegen fahrlässiger Tötung. Der Todesfall hätte sich bei zügigerem Eingreifen vermeiden lassen. Die Polizisten sagten zunächst aus, die Taschen Jallohs gründlich durchsucht zu haben und lediglich Taschentücher gefunden zu haben. Der schon mehrfach wegen Drogendelikten aufgefallene Jalloh habe sich mehrfach zur Wehr gesetzt und dabei mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen. Mit 2,98 Promille Alkohol, Cannabis und Kokain im Blut sei er zunehmend aggressiv geworden.

Gegen den später freigesprochenen Dienstgruppenleiter lief seit Mai 2005 ein Verfahren wegen Körperverletzung mit Todesfolge, weil dieser den Feueralarm mehrfach abgeschaltet habe, obwohl durch die Sprechanlage Schreie von Jalloh zu vernehmen gewesen seien. Laut innenpolitischem Sprecher der PDS-Landtagsfraktion von Sachsen-Anhalt, Matthias Gärtner, sei die Brandmeldeanlage nach den Angaben einer Polizistin, die sich zum Tatzeitpunkt im Zimmer des Dienstgruppenleiters befunden habe, am 14. September 2004 repariert worden und seitdem fehlerfrei gelaufen. Die Polizistin widerrief diese Aussage jedoch später.

Feuerwehrleute bezeugten, die Leiche in ausgestrecktem Zustand gefunden zu haben. Erst danach erwähnte die Polizeidirektion Dessau dem Innenausschuss des Landtages gegenüber, dass der Gefangene an Händen und Füßen in der Schlichtzelle fixiert worden sei. Die polizeilichen Vorschriften erlauben eine solche Fixierung nur bei möglicher Selbstgefährdung des Inhaftierten. Im Prozess sagte der behandelnde Bereitschaftsarzt aus, dass er empfohlen habe, Jalloh zu fixieren, da dieser jede Gelegenheit genutzt habe, mit dem Kopf zu stoßen und sich zu verletzen [3].

Die Obduktion ergab, dass der Gefangene in der auf über 350 Grad Celsius erhitzten Zelle an einem Hitzeschock gestorben war. In der Zelle fand das Landeskriminalamt Magdeburg später ein wenig versehrtes Feuerzeug, welches auf einer ersten Tatort-Asservatenliste gefehlt hatte[4]. Mit der Begründung mangelnder Indizien für die vorsätzliche Tat eines Dritten geht die Staatsanwaltschaft Dessau davon aus, dass der Afrikaner die Matratze selbst angezündet habe. Laut dem Innenministerium von Sachsen-Anhalt hatte die Matratze einen nach Herstellerangaben schwer entflammbaren Bezug aus Kunstleder, jedoch könne eine Beschädigung des Überzuges nicht ausgeschlossen werden. Eine solche Beschädigung kann laut Staatsanwalt Folker Bittmann die Matratze leichter entflammbar machen. Die Putzfrau des Reviers erinnerte sich an keine Vorschäden am Kunstleder und die Brandgutachten gehen nicht davon aus, Jallohs brennende Kleidung hätten die Matte entflammen können.

Die von der Rechtsanwältin der Nebenklage beantragte Röntgenuntersuchung lehnte die Staatsanwaltschaft ab. Nach Rücksprache mit dem Rechtsmedizinischen Institut bestand kein Anlass für weitere Untersuchungen. Die Vernehmungsprotokolle verzeichnen jedoch „Handgreiflichkeiten“ zwischen Polizei und Gefangenem und die Mitteldeutsche Zeitung berichtete über gebrochene Handgelenke. Unklar ist auch nach Aussagen der Anwältin die Herkunft des Feuerzeugs. Die Asservatenliste vom 10. Januar führt das Utensil nicht auf, sondern erst die Liste vom 11. Januar. Mehrere Initiativen finanzierten eine zweite Obduktion, so dass die für den 29. März geplante Freigabe des Leichnams ausgesetzt wurde.

Der gerichtsmedizinische Befund aus Frankfurt am Main ergab bei dieser zweiten Obduktion[4] einen Bruch des Nasenbeins, zerstörte Trommelfelle und Einbrüche an den Siebbeinplatten der Nase. Zum Zeitpunkt dieser Obduktion war jedoch aufgrund der Brandschäden sowie möglicherweise nachträglichen Artefakte durch die erste Untersuchung keine Aussage zum genauen Todeszeitpunkt oder einer eventuellen Schädigung innerer Organe mehr möglich.

Nach Veröffentlichung der Ergebnisse in den Medien behaupteten Innenministerium und Generalstaatsanwaltschaft, die Unterlagen nicht zu kennen. Die Naumburger Behörde wies am 6. Juni 2005 auch ausdrücklich darauf hin, es sei „ungesetzlich, wesentliche Teile der Anklageschrift oder anderer amtlicher Schriftstücke eines Strafverfahrens ihrem Wortlaut nach zu veröffentlichen, bevor sie in der Gerichtsverhandlung erörtert worden sind oder das Verfahren abgeschlossen ist“. Im Oktober 2005 verwies das Landgericht Dessau das Verfahren zurück an die zuständige Staatsanwaltschaft mit der Forderung nach weiteren Ermittlungen. Die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg (Saale) hatte am 6. Juni 2005 das Landgericht zur weiteren Entscheidung angerufen.

Eine Polizistin, welche bislang als wichtige Zeugin aufgetreten war, zog inzwischen ohne weitere Begründung ihre eigene Aussage zurück. Schon im Oktober 2002 verstarb in Dessau unter demselben Dienstgruppenleiter ein Gefangener im Polizeigewahrsam. Laut Polizeibericht erlag der Häftling inneren Verletzungen, welche er schon vor der Festnahme erlitten hatte. Die Umstände blieben zum größten Teil ungeklärt. Der Dienstgruppenleiter wurde nach dem zweiten Todesfall zunächst nach Wittenberg versetzt und dann vom Dienst suspendiert. Auch die beiden anderen Angeklagten wurden vorläufig in andere Dienststellen versetzt.

Prozess

Am 27. März 2007 begann vor dem Landgericht Dessau der Prozess. Der zuständige Dienstgruppenleiter muss te sich wegen Körperverletzung mit Todesfolge verantworten, der mitangeklagte Kollege wegen fahrlässiger Tötung. Anstatt der ursprünglich angesetzten sechs Prozesstage dauerte der Prozess 59 Tage.

Die Staatsanwaltschaft argumentierte, Jalloh habe trotz der Fesselung ein Feuerzeug aus seiner Hose geholt, ein Loch in die kunstlederne Matratze gebohrt und den darin befindlichen Schaumstoff zu entzünden. Der durchsuchende Polizeibeamte habe das Feuerzeug übersehen. Der Dienstgruppenleiter ignorierte den mehrfach ausgelösten Feueralarm minutenlang. Bei einer sofortigen Reaktion, so die Anklageschrift, „hätte er Ouri Jalloh das Leben retten können“.

Am 8. Dezember 2008 wurden die Angeklagten schließlich aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Das Gericht hätte „trotz intensivster Bemühungen“ den Fall nicht aufklären können, so der vorsitzende Richter. Die Verkündung führte zu einem Tumult unter wütenden Afrikanern unter den Zuschauern.

Reaktionen in der Öffentlichkeit

  • Zwei Wochen nach Oury Jallohs Tod (22. Januar) organisierte die Initiative Oury Jalloh eine Demonstration in Dessau und forderte eine schnelle Aufklärung.
  • Acht Wochen nach dem Todesfall, am 3. März 2005, bedauerte der Landtag Sachsen-Anhalt den Vorfall.
  • Am 26. März 2005 fand eine Trauerkundgebung statt.
  • Am 5. August 2005 fand eine Anhörung zum Fall in Dessau mit den Anwälten der Nebenklage statt.
  • Am 4. Januar 2006 wurde die Dokumentation „Tod in der Zelle - Warum starb Oury Jalloh“ von Marcel Kolvenbach und Pagonis Pagonakis in der ARD ausgestrahlt.
  • Am 7. Januar 2006 fand in Dessau zum einjährigen Todestag von Oury Jalloh eine Mahnwache unter dem Motto »Die Öffentlichkeit hat ein Recht auf Aufklärung!« statt.
  • Am 1. April 2006 fand in Dessau unter dem Motto „Break the silence - Gegen rassistische Staatsgewalt, Vertuschung und Straflosigkeit“ eine Demonstration statt, an der sich ca. 1000 Menschen beteiligten.
  • Am 20. Dezember 2006 kam es bei Dessau und in Wolfen zu zwei Anschlägen, zu denen sich laut Bundesanwaltschaft die linksextremistische militante gruppe (mg) bekannte: Das Haus eines leitenden Polizeibeamten aus dem Polizeirevier, in dem Jalloh starb, wurde mit Farbe beschmiert und die Garage eines Arztes, der Jalloh untersucht haben soll, wurde in Brand gesetzt.[9][10]

Reaktion der NPD

Unter der Überschrift „Ein Afrikaner zündet sich an und schuld ist mal wieder die Polizei“, erschien am 2. April 2005 auf einer NPD-Webseite ein Artikel über den verbrannten Asylbewerber. Oury Jalloh wurde von der NPD als „Missetäter“ bezeichnet, „beköstigt und alimentiert vom deutschen Volk, dazu freie medizinische Versorgung und allerlei sonstige soziale Vergünstigungen“. Der Tod des Asylbewerbers wurde wie folgt beschrieben: „Kein Mensch konnte damit rechnen, dass der Herr Asylant mittels des am Körper versteckten Feuerzeuges binnen weniger Minuten die Matratze auf 350 Grad Celsius erhitzt. Und das sind schließlich Temperaturen, die selbst für einen an Hitze gewohnten Westafrikaner eindeutig zu viel sind.“ Der für die Veröffentlichung des Artikels verantwortliche Jens B., Mitglied des NPD-Kreisverbandes Magdeburg, wurde wegen ebendieser Äußerungen am 18. Mai 2006 wegen Volksverhetzung in Tateinheit mit übler Nachrede vom Amtsgerichts in Oschersleben zu einer Geldstrafe verurteilt. [11]

Rezeption (Auswahl)

Filme

  • Marcel Kolvenbach, Pagonis Pagonakis: Tod in der Zelle – Warum starb Oury Jalloh? 2006; ausgezeichnet mit dem Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2006.
  • Simon Jaikiriuma Paetau: Oury Jalloh. Dokumentation, 2008; ausgezeichnet mit dem Deutschen Menschenrechts-Filmpreis 2008 und dem Deutschen Jugendvideopreis 2009.[1]
  • Tatort: Verbrannt, Spielfilm, NDR, 2015. Buch: Stefan Kolditz, Regie: Thomas Stuber. Der Spielfilm bezieht sich in fiktionalisierter Form auf die Geschichte des Todes von Oury Jalloh.[2]

Radio

  • Margot Overath: Verbrannt in Polizeizelle Nummer 5. Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh in Dessau, Feature. Regie: Nikolai von Koslowski Prod.: MDR/DLF/NDR 2010.[3]
  • Margot Overath: Oury Jalloh – Die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalles, Feature. Regie: Nikolai von Koslowski, Prod.: MDR/NDR/WDR 2014.
  • Margot Overath: Oury Jalloh und die Toten des Polizeireviers Dessau, 5-teilie Feature-Reihe. Regie: Nikolai von Koslowski. Prod.: WDR 2020.

Musik

  • Funny van Dannen: Saharasand, 2009, Lied vom gleichnamigen Album
  • Irie Révoltés: Des Fois, 2010, auf dem Album Mouvement Mondial
  • Waving the Guns: Alle Gründe sind bekannt, 2014, aus der EP Fachkräftemangel
  • Fard, Snaga: Du hast Recht 2, 2014, auf dem Album Talion 2: La Rabia
  • Carmel Zoum feat. Msoke & Mal Elevé: Oury Jalloh, 2015
  • Enno Bunger: Wo bleiben die Beschwerden?, 2015, auf dem Album Flüssiges Glück
  • Irie Révoltés: Jetzt ist Schluss, 2015, auf dem Album Ruhe vor dem Sturm
  • Matondo: Oury Jalloh #DasWarMord, 2015
  • Refpolk feat. Kutlu (Microphone Mafia): Niemand wird vergessen/Hiç unutmadik (2015), auf dem Album Klippe
  • TickTickBoom: Maulfesseln – Lyrics Pyro One, Sookee, auf dem Album Herzschlag
  • Vizediktator: Dessau, 2015, auf der EP Rausch
  • Das Flug: Deutsche Polizei, 2016, auf dem Album Zerstören
  • Frittenbude – Oury, 2016, auf dem Sampler Refugees welcome – Gegen jeden Rassismus
  • Feine Sahne Fischfilet: Dreck der Zeit (1. Strophe), 2018
  • Disarstar: Robocop, 2019, auf dem Album Bohemien
  • Die Bullen: Nacht in Dessau, 2019, auf dem Album Einigkeit und Recht und Sicherheit
  • Nura: Niemals Stress mit Bullen, 2021
  • Danger Dan: Das ist alles von der Kunstfreiheit gedeckt, 2021

Weblinks

  • Prozessbeobachtung
  • Pressespiegel
  • Foto-Dokumentation: Protest am letzten Prozesstag, 8. Dezember 2008
  • Zynische Sprüche über einen Toten, taz, 7. Juni 2005
  • Hilflos, Berliner Zeitung, 28. März 2007
  • Vertuschungen und verschwundene Beweismittel, Telepolis, 27. Juni 2008

Quellen

3. Neurologe entlastet angeklagte Polizisten. In: Spiegel Online vom 8. Mai 2007 4. a b c Che's Warlog, 7. Januar 2008: Ist Sachsen-Anhalt ein Schurkenstaat? 5. Prozeß wegen fahrlässiger Tötung. In: Junge Welt vom 24. März 2007 6. a b Verbrannt in einer Zelle. Prozess gegen Polizisten. In: Frankfurter Rundschau vom 27. März 2007 8. Pressekonferenz der internationalen „Prozessbeobachter_innen“ vom 19. März 2007 9. Bundesanwalt ermittelt gegen „Militante Gruppe“. In: Volksstimme vom 29. Dezember 2006 10. Feuertod ruft linke Radikale auf den Plan. In: Mitteldeutsche Zeitung vom 28. Dezember 2006 11. Hetze nach Feuertod in der Polizeizelle. In: Berliner Zeitung vom 19. Mai 2006.

  1. Oury Jalloh. jugendvideopreis.de, Kurzprofil des Films; abgerufen am 13. November 2013.
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