Objektive Zurechnung

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In Deutschland - wie anderswo auch - ist es zwar grundsätzlich (z.B. als Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, fahrlässige Tötung o.ä.) strafbar, einen anderen Menschen umzubringen, doch gibt es eine Reihe von rechtlich tolerierten Ausnahmen. So kann man zum Beispiel, auch wenn eine Handlung kausal für den Tod einer Person war, die Verknüpfung zwischen Handlung und Konsequenz dadurch unterbrechen, dass man die Handlungsfolge dem Akteur nicht zurechnet. Eine Methode, dies zu erreichen, nennt sich objektive Zurechnung. Danach ist eine Handlungsfolge, bzw. ein "Erfolg" (wie z.B. der Tod eines Menschen) dann nicht "das Werk des Täters", wenn der Täter zwar eine conditio sine qua non für den Erfolg gesetzt hat, wenn die von ihm geschaffene Gefahr aber nicht "rechtlich missbilligt" war - oder aber, wenn diese zwar rechtlich missbilligt war, es aber nicht gerade diese Gefahr war, deren Realisierung den Tod des Menschen herbeigeführt hat. (Das gilt auch für andere Delikte als für Delikte gegen das Leben.)

Bei folgenden Fallgruppen fehlt es bereits an der Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr:

  • Fehlende Beherrschbarkeit der Gefahr: Sie liegt dann vor, wenn der Schadenseintritt außerhalb des menschlichen Beherrschungsvermögens liegt – so beispielsweise bei Naturkatastrophen oder abergläubisch motivierten Handlungen. Lehrbuchsbeispiel: Neffe N überredet seinen Erbonkel zu einer Flugreise, in der Hoffnung, dass das Flugzeug abstürzt. Tatsächlich kommt der Onkel bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
  • Erlaubtes Risiko: Ein erlaubtes Risiko bzw. sozialadäquates Verhalten ist dann gegeben, wenn zwar eine Gefahr geschaffen wird, diese aber von der Rechtsordnung hingenommen wird, um ein gedeihliches menschliches Zusammenleben überhaupt erst möglich zu machen. Hierunter fallen typischerweise gefährliche Verhaltensweisen wie z.B. der Straßenverkehr, der auch bei Einhaltung aller Verkehrsvorschriften eine Gefahr für Leib und Leben darstellt. Auch der genannte Erbonkel-Fall lässt sich hiermit erfassen. So ist zwar das Überreden zur Benutzung eines Flugzeuges eine Risikoschaffung (es könnte abstürzen), aber dennoch sozialadäquat und daher keine Schaffung einer rechtlich missbilligten Gefahr.
  • Eigenverantwortliche Selbstgefährdung: An einer rechtlich missbilligten und damit relevanten Gefahrschaffung fehlt es auch bei einer eigenverantwortlichen Selbstgefährdung. Wer bei einem anderen eine eigenverantwortlich gewollte und verwirklichte Selbstgefährdung vorsätzlich oder fahrlässig veranlasst oder fördert, macht sich grundsätzlich nicht strafbar, wenn sich das mit der Selbstgefährdung eingegangene Risiko realisiert. Das folgt aus der Eigenverantwortung jedes Individuums und dem Schluss aus der Straflosigkeit des Suizides. Ist die Selbsttötung straflos, so kann auch eine Teilnahme hieran, die eine vorsätzliche, rechtswidrige Tat voraussetzt, nicht strafbar sein. Gilt dies jedoch bereits für das Erfolgsdelikt, so muss dies erst recht auch für die Teilnahme an einer bloßen Gefährdung gelten. Voraussetzung für ein eigenverantwortliches Handeln ist jedoch, dass nicht der Veranlassende die Situation kraft überlegenem Wissens besser einschätzen konnte oder der sich selbst Gefährdende mangels Einsichtsfähigkeit (Kinder, Willenschwäche) besonders schutzwürdig ist. Achtung: provozierte Fluchtbewegungen sind grundsätzlich keine eigenverantwortliche Selbstgefährdung des Fliehenden!
  • Einverständliche Fremdgefährdung: An einer rechtlich missbilligten Gefahr fehlt es auch dann, wenn die Gefährdung des Opfers zwar nicht durch dieses selbst verursacht wird, aber mit dessen Einverständnis von einem Dritten ausgeht. Beispiele hierfür sind der Memel-Fall des Reichsgerichts, in dem ein Passagier einen Fährmann trotz dessen Weigerung überredete, ihn über die Hochwasser führende Memel überzusetzen. Moderne Fälle bildet bspw. das Autosurfen.
  • Risikoverminderung: An der rechtlich missbilligten Gefahr fehlt es außerdem, wenn ein drohender schwerer Erfolg abgeschwächt oder zeitlich hinausgezögert wird, ohne dass der Täter zur Erreichung dieses Zieles eine neue andersartige Gefahr schafft.
  • Atypischer Kausalverlauf: Auch wenn der Täter eine rechtlich missbilligte Gefahr geschaffen hat, ist ihm der Erfolg nicht objektiv zuzurechnen, wenn dessen Eintritt völlig außerhalb dessen liegt, was nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge und der allgemeinen Lebenserfahrung noch in Rechnung zu stellen ist. Beispiel: A verletzt B, aufgrund dessen sich B nicht vom Tatort fortbewegen kann und vom Blitz erschlagen wird. Dieser Blitzeinschlag setzt eine völlig neue, unvorhersehbare Kausalkette in Gang, welche dem A nicht mehr zugerechnet werden darf.
  • Fehlen des Schutzzweckszusammenhangs: An der Gefahrverwirklichung fehlt es außerdem, wenn sich im konkreten Erfolg nicht diejenige rechtlich missbilligte Gefahr verwirklicht hat, deren Eintritt nach dem Schutzzweck der Norm vermieden werden sollte. Beispiel: Der Täter T überfährt trotz größtmöglicher Sorgfalt ein plötzlich auf die Straße geranntes Kind. T war nur deshalb zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort, weil er mehrere Kilometer entfernt eine rote Ampel ignoriert hatte.
  • Dazwischentreten eines Dritten: Knüpft ein Dritter an die gefährliche Handlung an, schafft aber dadurch eine komplett neue Gefahr und damit einen Erfolg, der nicht mehr im Wertungszusammenhang mit der Ersthandlung steht, fehlt es ebenfalls an der Gefahrverwirklichung. Fahrlässiges Dazwischentreten eines Dritten reicht dabei nicht aus.
  • Rechtmäßiges Alternativverhalten: Ebenso ist der Erfolg nicht zurechenbar, wenn er in seiner konkreten Form auch bei rechtmäßigem Verhalten des Täters eingetreten wäre. Bei Fahrlässigkeitsdelikten spricht man in diesem Zusammenhang vom Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhanges. Ein solcher Fall liegt bspw. vor, wenn ein Autofahrer innerorts einen Fußgänger überfährt und dabei die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hat. Wäre der Fußgänger auch bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit getötet worden, hat sich in der Tötung des Fußgängers nicht ein unerlaubtes Risiko (das zu schnelle Fahren), sondern ein allgemeines Lebensrisiko (der Straßenverkehr) verwirklicht.

Kritik

Obwohl die Lehre von der objektiven Zurechnung trotz ihrer Ablehnung durch die Rechtsprechung als gesicherter Boden der Strafrechtsdogmatik bezeichnet werden kann, werden auch immer wieder Stimmen laut, die Kritik anmelden.

Die Kritik wendet sich einerseits gegen die Äquivalenztheorie als Kausalitätsmodell und mahnt präzisere Formeln zur Bestimmung der Kausalität an. Mit einer exakteren Kausalitätsbetrachtung erübrige sich dann auch die Lehre von der objektiven Zurechnung. Zum anderen wird angeführt, dass sich die Probleme methodisch besser auf der Ebene der Rechtfertigung lösen ließen. Manche Fallgruppen der objektiven Zurechnung basierten auf den Regeln der (mutmaßlichen) Einwilligung oder ließen sich durch Entwicklung neuer Rechtfertigungsgründe erfassen.

Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bisher nur in den Fällen der eigenverantwortlichen Selbstgefährdung bzw. -verletzung und der Fahrlässigkeitsdelikte von der Lehre der objektiven Zurechnung Gebrauch gemacht. Im Übrigen prüft er im subjektiven Tatbestand, ob sich die Vorstellung des Täters von der Tat mit dem tatsächlichen Tatverlauf deckt. Nach dieser Formel ist der Erfolg dem Täter dann zuzurechnen, wenn sich seine Vorstellung von der Tat mit dem Tatverlauf deckt oder die Abweichung zwischen der Vorstellung des Täters und dem tatsächlichen Tatverlauf sich in Grenzen der allgemeinen Lebenserfahrung bewegen. Beispiel: Man wirft einen Säugling von der Brücke, damit er im Fluss ertrinkt, dieser stirbt jedoch dadurch, dass er am Brückenpfeiler aufschlägt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es vorhersehbar, dass ein Säugling, den man von der Brücke wirft an einem Brückenpfeiler aufschlagen und dadurch sterben kann. Der Erfolg ist dem Täter somit zuzurechnen.

Nach einer anderen Regel ist der Erfolg dem Täter dann zuzurechnen, wenn sich seine Vorstellung von der Tat mit dem Tatverlauf deckt oder die Abweichung zwischen der Vorstellung des Täters und dem tatsächlichen Tatverlauf sich in Grenzen der allgemeinen Lebenserfahrung bewegen. Beispiel: Man wirft einen Säugling von der Brücke, damit er im Fluss ertrinkt, dieser stirbt jedoch dadurch, dass er am Brückenpfeiler aufschlägt. Nach allgemeiner Lebenserfahrung ist es vorhersehbar, dass ein Säugling, den man von der Brücke wirft, an einem Brückenpfeiler aufschlagen und dadurch sterben kann. Der Erfolg ist dem Täter somit zuzurechnen.


Weblinks und Literatur

Basiert auf: „http://de.wikipedia.org/wiki/Objektive_Zurechnung“