Normverdeutlichungsgespräch

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Das Normverdeutlichungsgespräch (in Folge NVG) ist eine im § 38b[1] des österreichischen Sicherheitspolizeigesetzes (SPG) normierte Maßnahme, wonach in bestimmten Fällen (zumeist nach strafbaren Handlungen), Menschen verpflichtet werden können, sich einem Prozess zu unterziehen, in welchem sie von Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes über rechtskonformes Verhalten belehrt und auf die Folgen der zukünftigen Nichtbeachtung hingewiesen werden. Das NVG ist ein grundsätzliches Instrument (Zielgruppe sind sowohl in-, als auch ausländische Normbrecher) mit dem im Falle eines Normkonflikts reagiert wird, um weitere Delinquenz zu verhindern.



Etymologie


Norm

Substantiv Femininum, Standardwortschatz (14. Jh.). Entlehnt aus norma `Richtschnur, Regel` (zunächst ein [sic] Geräte zum Messen rechter Winkel), das unklarer Herkunft ist. (Kluge Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Auflage)

Verdeutlichung

Das Wort findet sich von der Etymologie her nicht als Einheit und unterteilt sich in das Präfix `Ver` und in die hauptwörtlich gebrauchte Form des Adjektivs `deutlich`.


Definition(en)


Normen

Normen sind Verhaltensforderungen, also Imperative, die für das gesellschaftliche Zusammenleben funktional sind und durch (positive oder negative) Sanktionen durchgesetzt werden (soziale Kontrolle). Diese können für zukünftige Verhaltensorientierungen die Normenkonformität verstärken (General- und Spezialprävention) (vgl. Lamnek 2007, S. 23)

Gefährlicher Angriff

"Ein gefährlicher Angriff ist die Bedrohung eines Rechtsgutes durch die rechtswidrige Verwirklichung des Tatbestandes einer gerichtlich strafbaren Handlung, die vorsätzlich begangen und nicht bloß auf Begehren eines Beteiligten verfolgt wird, sofern es sich um einen Straftatbestand 1. nach dem Strafgesetzbuch (StGB) […], ausgenommen die Tatbestände nach den §§ 278 StGB[2], 278a[3] und 278b StGB[4] oder 2. nach dem Verbotsgesetz [...] oder 3. nach dem Fremdenpolizeigesetz […] oder 4. nach dem Suchtmittelgesetz […] handelt, es sei denn um den Erwerb oder Besitz eines Suchtmittels zum eigenen Gebrauch" [SPG, Pürstl, Zirnsack, 2011]

Gefährliche Angriffe sind somit Vorsatztaten (dazu zählen auch versuchte Taten), die gegen Bestimmungen des österreichischen Strafgesetzbuches, gegen das Verbotsgesetz, gegen das Fremdenpolizeigesetz und gegen Großteile des Suchtmittelgesetzes verstoßen. Der Erwerb und der Besitz von Suchtmitteln zum eigenen Gebrauch sind keine gefährlichen Angriffe. Gefährliche Angriffe sind allerdings auch schon Vorbereitungshandlungen, die darauf abzielen, eine derartige Bedrohung (also ein Delikt zu begehen) vorzubereiten, wenn ein zeitlicher Zusammenhang zwischen der Vorbereitung und der beabsichtigen Tatausführung gegeben ist. (vgl. § 16 Abs. 3 SPG)


Ablauf, Voraussetzung und Funktion der Normverdeutlichung



NVG Piktogramm Seite 1 - Grafik 1 -
NVG Piktogramm Seite 2 - Grafik 2 -

Das NVG ermächtigt Polizisten (der Gesetzestext spricht von Organen des Öffentlichen Sicherheitsdienstes [5]), Personen, welche sich nicht rechtskonform verhalten haben, durch Verdeutlichung der gesetzlichen Lage und Aufzeigen der Normen und Werte des österreichischen Staates und seiner Gesellschaft, zu künftigem normkonformen Verhalten aufzufordern. Diese Verdeutlichung erfolgt im Zuge eines belehrenden Gespräches, welches vordringlich noch im Zuge der laufenden Amtshandlung oder im Anschluss an die Vernehmung der Person geführt werden soll. Dieser Prozess hat die möglichen Konsequenzen aufzuzeigen, die eintreten könnten, falls sich der Betroffene zukünftig nicht an diese Normen hält (z.B. Entzug der Lenkerberechtigung, Verhängung von Waffenverboten, Aufhebung von Aufenthaltstiteln, usw.). Wie schon oben angeführt, orientiert sich die Rechtmäßigkeit ein NVG zu führen an einigen Kriterien: Das Gespräch darf nur mit Menschen geführt werden, welche einen gefährlichen Angriff gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung (das sind alle im 10. Abschnitt des österreichischen Strafgesetzbuches angeführten Straftaten) oder einen gefährlichen Angriff unter Anwendung von Gewalt (beispielsweise: Körperverletzungen, Raubüberfälle) begangen haben. Gefährliche Angriffe ohne Anwendung von Gewalt, also zum Beispiel gewöhnliche Diebstähle oder Betrugsdelikte, erfüllen diese Erfordernisse nicht. In einem zweiten Schritt ist zur Voraussetzung der Durchführung des Normverdeutlichungsgespräches eine Prognosen Erstellung durch den Beamten erforderlich. Darin prüft er, ob auf Grund bestimmter Tatsachen anzunehmen ist, der Betroffene werde auch künftig gefährliche Angriffe begehen, denen durch diese Maßnahme entgegengewirkt werden kann. Ausschlaggebend für diese Einzelfallprognose sind einerseits die Gesamtsituation (gemeint sind hier Faktoren und Umstände die in der Tat und deren Auswirkungen liegen, wie etwa die facettenreichen Darstellungen und Gegendarstellungen bei Amtshandlungen zum Thema "Gewalt in der Familie") oder Gründe, die in der Person des Betroffenen zu finden sind (einschlägige Vorstrafen, erkennbare Gewaltbereitschaft, udgl.).


Bei Normverdeutlichungsgesprächen mit Fremden (Fremder im Sinne des § 2 des Fremdenpolizeigesetzes ist jeder, der die österreichische Staatsbürgerschaft nicht besitzt) ist über das oben beschriebene Verdeutlichen von Normen auch auf die in Österreich geltenden Grundwerte des Zusammenlebens in einem demokratischen Staat einzugehen. Zur besseren Veranschaulichung stehen dafür Informationsblätter zur Verfügung, welche neben den wesentlichen Textpassagen auch Piktogramme (siehe Grafiken) als Sinnbilder dieser Werte beinhalten.

In der Praxis wird das NVG aktuell, also zeitnah zur zugrunde liegenden Amtshandlung geführt. Sollte dies nicht möglich sein so kann eine Person durch einen Bescheid[6] zum Gespräch vorgeladen werden.

Die Wiederholung derartiger Gespräche ist möglich und wahrscheinlich, wenn der Betroffene die Belehrung stört, behindert oder sonst unmöglich macht.


Zusammenhänge mit anderen Begriffen


Sexuelle Integrität und Selbstbestimmung

Diese Begrifflichkeit beinhaltet sämtliche strafrechtlich relevanten Bestimmungen im Hinblick auf Sexualdelikte und erstreckt sich vom § 201 bis zum Paragrafen 218 StGB. In diesen wird auf die Strafbarkeit der Vergewaltigung (§ 201 StGB[7]) dem Schutz von Kindern und Minderjährigen im Hinblick auf pornografische Darstellungen bis hin zum § 218 StGB[8]: Sexuelle Belästigung und öffentliche geschlechtliche Handlungen eingegangen. Gerade der letztgenannte Paragraf wurde mit dem Strafrechtsänderungsgesetz (StrÄG 2015) mit Inkrafttreten per 01.01.2016 geschärft und in seinen unter Strafe gestellten sexuellen Handlungen verschärft.

Gewalt

„Ist jede zielgerichtete Einwirkung eines Menschen auf einen anderen Menschen, die bei diesem zu einer physischen oder psychischen Schädigung führt". (Schwind/Baumann 1990). Im Zusammenhang mit den Voraussetzungen zur Führung eines Normverdeutlichungsgespräches sind beide Formen von Gewalt (psychische oder physische) und auch gefährliche Drohungen unter den Gewaltbegriff zu subsumieren.

Kriminologische Relevanz


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KrimEntwicklung 2015.jpg
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Das NVG ist eine Reaktion des Gesetzgebers auf die Veränderung der Gesellschaftsstruktur und ihrer Werte. Durch die rasant voranschreitende Vermischung von Kulturen und der nicht Schritt zu halten vermögenden Integration fremder Denkweisen und Normvorstellungen veränderte sich die öffentliche Wahrnehmung von Delikten. Durch die mediale Berichterstattung, einhergehend mit der sich durch die Flüchtlingsbewegung in den Jahren 2014 und 2015 ändernden politischen Lage an den südlichen, südöstlichen und östlichen EU-Außen Grenzen verstärkte sich die subjektive Wahrnehmung, dass einerseits die Kriminalität an sich steigen würde und zudem der Großteil der in Österreich begangenen Kriminalität von Fremden verursacht werden würde.

Der erste Teil dieser Wahrnehmung kann objektiv nicht bestätigt werden, da die polizeiliche Kriminalstatistik (kurz PKS) des Bundesministeriums für Inneres seit dem Jahr 2006 einen veritablen Rückgang von angezeigten Delikten verzeichnet (siehe Grafik 4). Relativ groß ist aber nach dieser Statistik der Anteil von Fremden an der Gesamtkriminalität im Jahr 2015 mit 37 Prozent (Grafik 5). Von den insgesamt 250.618 im Jahr 2015 ermittelten Tätern waren 92.804 davon Fremde. Davon wiederum waren 15.332 des Diebstahles verdächtig. Der Diebstahl ist das in dieser Liste führende Delikt, gefolgt von Körperverletzungen (10.686 tatverdächtige Fremde).

Die PKS weist in absoluten Zahlen auf einen Anstieg von 38,8 Prozent gegenüber dem Vergleichsjahr 2014 hinsichtlich der durch Asylwerber verübten Straftaten hin, obwohl sich die Neigung delinquent zu werden innerhalb dieser Gruppe von 2014 auf 2015 drastisch reduziert hat. Waren im Jahr 2014 von 1000 Asylwerbern noch 371 Personen straffällig, so wurden im Jahr 2015 nur mehr 161 Menschen zu Tätern.

Wenn es auch bei dem Großteil dieser Delikte offenbar sein müsste, dass derartige Handlungen in allen Ländern pönalisiert werden, so liegt zumindest bei einigen Gesetzesübertretungen der Verdacht nahe, dass diese infolge des Mangels der Vertrautheit mit den hierzulande vorherrschenden Gesetzen und Normen verübt wurden und auf Irrtümern und Missverständnissen beruhten. Eine mögliche Erklärung dafür bietet die von Thorsten Sellin 1938 entwickelte Kulturkonflikttheorie, wonach sich soziale Spannungen durch den Unterschied der Kulturen des Heimatlandes und des Gastlandes ergeben, die durch diametral vorliegende Moralvorstellungen verstärkt werden (Ehrenmorde, Blutrache, unterschiedliches Frauenbild, usw.) (vgl. Schwind 2016, 150 ff).

Diese unterschiedlichen Sichtweisen, einhergehend mit noch nicht vollzogener Integration[9] und dem zum Teil noch zu großen Sprachdefizit und manchmal auch mit dem fehlenden Willen, sich zu integrieren, macht es notwendig, über ein an sich schon durch seine Existenz als Normerhaltungsgarant funktionierendes Strafgesetzbuch eine Maßnahme zu setzen, die diese im Gesetz formulierten Straftatbestände eindringlicher verdeutlicht.

Zusammenhänge mit der materiellen Realität


Die Maßnahme des NVG entwickelte sich in einer Situation des schon sehr hohen und sich ständig erhöhenden Anteiles von Zuwanderern und Schutz- und Asylsuchenden Menschen in Österreich und Mitteleuropa. Ein Teil dieser Menschen fiel mit erhöhter Devianz auf und es konnte auch festgestellt werden, dass dieser Devianz nicht nur wirtschaftliche und ökonomische Motive (z.B. Eigentumskriminalität) zu Grund lagen. Auch hier wird wieder auf Daten aus der PKS verwiesen: 2015 waren 42.010 Fremde wegen Delikten gegen fremdes Vermögen (hier sind Diebstähle, Einbruchsdiebstähle und Betrugshandlungen zusammengefasst) tatverdächtig. Gravierende Defizite in der Auffassung von Ausübung von Gewalt führten dazu, dass die von Fremden begangenen Delikte gegen Leib und Leben mit 23.951 den zweiten Platz in der Liste der von Fremden verübten Delikte in der Kriminalstatistik einnehmen.

Zum Teil gewalttätige Auseinandersetzungen rivalisierender ethnisch marginalisierter Jugendgruppieren (vornehmlich Migranten aus dem kaukasischen Raum und aus Afghanistan), sowie die gravierenden Auffassungsunterschiede hinsichtlich der sexuellen Selbstbestimmung, welche wie aus den Medienberichterstattungen zu entnehmen ist, bei Flüchtlingen und Asylwerbenden aus den Maghreb-Staaten besonders hervorstechen (Bezug genommen wird hier auf die Vorgänge der Silvesternächte in Köln und Wien im Jahr 2015/2016. Anmerkung: Die Kriminalstatistik 2016 enthält keine Daten zur Delinquenz von Angehörigen der Maghreb-Staaten sondern weist lediglich darauf hin, dass 948 fremde Tatverdächtige strafbarer Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung verdächtig waren), tragen dazu bei, dass der Ruf nach Schärfungen in Blickrichtung auf normkonformes Verhalten erklingt.

Im Lichte dieser Situation lässt sich die Maßnahme des Normverdeutlichungsgespräches als guter Ansatz sehen, einen Gleichstand der Einstellungen zu den Werten und Normen der im Land lebenden Menschen herzustellen.


Literatur zum Thema


  • Erlass des Bundesministeriums für Inneres vom 24.11.2016, zum Thema: Exekutiv- und Einsatzangelegenheiten; Kriminaldienst Implementierung des § 38b SPG mit 01.08.2016
  • Rechtsinformationssystem des Bundeskanzleramtes
  • Pürstl, Zirnsack: Sicherheitspolizeigesetz, 2. Auflage, Manz 2011
  • Seebold, Elmar: KLUGE Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 25. Auflage, DE Gruyter 2011
  • Lamnek, Siegfried: Theorien abweichenden Verhaltens II, 3. Auflage, UTB 2007
  • Schwind, Hans-Dieter, Kriminologie und Kriminalpolitik, 23. Auflage, Kriminalistik 2016
  • Statistik Austria Stand Jänner 2016 [1]
  • Kriminalstatistik 2015 [2]