Neuköllner-Modell

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Definition

Der Begriff des Neuköllner-Modells wird in dem Buch „ Das Ende der Geduld“ von Kirsten Heisig zwar beschrieben, jedoch nicht weiter definiert. Auf der Grundlage der §§ 76 ff. des Jugendgerichtgesetz (JGG) handelt es sich inhaltlich um ein beschleunigtes Verfahren im vereinfachten Jugendstrafverfahren.


Beschreibung des Neuköllner-Modells

Das Neuköllner-Modell wurde nicht auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelt, sondern stellt ein reines Praxismodell dar, welches weitgehend auf verkürzten Verfahrensabläufen im Jugendstrafrecht und der Forderung nach engerer Kooperation verschiedener Institutionen (Jugendhilfe, Schule, Justiz, Polizei) beschränkt bleibt. Die Idee und Namensgebung des Neuköllner Modells stammt von der Jugendrichterin Kirsten Heisig, welche als Jugendrichterin am Amtsgericht Berlin-Tiergarten für den Bezirk Nord-Neukölln zuständig war, bis sie im Sommer 2010 verstarb. Das Modell hat seine regionale Begrenztheit in Berlin. Grundlage des Modells ist eine enge Vernetzung, verbesserte Kommunikation und Kooperation zwischen den Strafverfolgungsbehörden und der Justiz, um Liegezeiten der Vorgänge bzw. die Bearbeitungszeiten der Strafverfahren erheblich zu verkürzen. Heisig vertrat die Meinung, dass das beschleunigte vereinfachte Jugendstrafverfahren gem. § 76 JGG ein adäquates Präventions- und Interventionskonzept zur Verhinderung von jugendlichen Intensivtäterkarrieren darstellt.

Unter einem vereinfachten Verfahren gem. § 76 JGG wird verstanden, dass der Staatsanwalt einen Antrag auf dessen Durchführung stellt, wenn die Sache vor dem Jugendrichter als Einzelrichter angeklagt werden soll und wenn Erziehungsmaßregeln gem. § 9 JGG, Erteilung von Weisungen, Anordnung von Hilfen zur Erziehung gem. § 12 JGG oder Zuchtmittel zu erwarten sind. Auf die schriftliche Form kann hierbei verzichtet und der Antrag fernmündlich bei dem Jugendrichter gestellt werden. Entscheidet sich der Jugendrichter für ein vereinfachtes Strafverfahren, kann er direkt einen Termin ohne Berücksichtigung von Ladungsfristen anberaumen und den Jugendlichen aburteilen. Mit Beginn der Aufnahme einer Anzeige bis zur Verhandlung vergehen insgesamt ca. vier bis sechs Wochen. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit findet keine Hauptverhandlung statt. Der Jugendrichter erlässt ein Urteil im Rechtssinne, darf aber nicht die Jugendstrafe, Hilfe zur Erziehung i. S. von § 12 Nr. 2 JGG und Einweisung in eine Erziehungsanstalt anordnen. Das vereinfachte Jugendverfahren stellt einen Ersatz für den Sachverhalt dar, dass es gegen Jugendliche kein Strafbefehlsverfahren und kein beschleunigtes Verfahren nach §§ 212 ff. StPo gibt.

Das Neuköllner-Modell sieht eine sehr ähnliche Herangehensweise wie § 76 JGG vor. Es lassen sich im Wesentlichen nur geringe Unterschiede feststellen, wie z.B. dass bei Eingang einer Anzeige bei der Polizei von dieser kein schriftlicher Bericht verfasst wird, sondern eine fernmündliche Mitteilung an die Staatsanwaltschaft ausreicht. Wird die Notwenigkeit eines vereinfachten beschleunigten Verfahrens seitens Staatsanwaltschaft bejaht, wie sie sich aus den Voraussetzungen des § 76JGG ergeben, werden die erforderlichen Vernehmungen des Beschuldigten (und ggfs. der Zeugen) zeitnah von der Polizei durchgeführt und die Akte unmittelbar im Anschluss der Staatsanwaltschaft überbracht. Nach dem üblichen Verfahrensweg bei Eingang des Vorgangs bei der Staatsanwaltschaft, wird diese nach dem Zuständigkeitsverfahren verteilt. Besonderheit des Neuköllner-Modell ist, dass ein Oberstaatsanwalt als zentraler Ansprechpartner für Polizeibeamte fungiert, bei welchem alle Vorgänge eingehen, dieser intern die Verfahren sofort nach Eingang den zuständigen Kollegen zuteilt. Durch ein anschließendes Telefonat zwischen Staatsanwaltschaft und Richter wird noch am selben Tag ein formloser Antrag, wie es der § 76 JGG vorsieht, formuliert, so dass in einer der nächsten Sitzungstage das übersichtliche Tatgeschehen mitverhandelt wird. Es sind keine näheren Informationen über den zeitlichen Rahmen aus den Überlegungen von Heisig bekannt. Die zeitnahe justiziellen Reaktion stellt nach Ansicht von K. Heisig eine wesentliche Komponente im Hinblick auf den Präventivgedanken dar, weil der Jugendliche kurz nach der Tat emotional noch dicht am Erlebten dran ist und daher ein unmittelbarer Bezug zwischen Verhalten und Reaktion bzw. justizieller Intervention besteht.


Praxismodell und wissenschaftliche Theorien/Bezüge

Das Neuköllner-Modell ist nicht wissenschaftlich fundiert und stellt dementsprechend keinen unmittelbaren Bezug zu wissenschaftlichen Theorien her. Im Hinblick auf den o.g. Anwendungsbereich der Jugendstrafdelikte kann das Modell jedoch unter Bezugnahme von Theorien zur Jugenddelinquenz kritisch diskutiert werden. Kriminelles Verhalten ist für die Lebensphase Jugendlicher eine typische Form der Problemverarbeitung und stellt eine normale Begleiterscheinung des Sozialisationsprozesses dar. Die Gewalt- und Kriminalitätsbelastung im Jugendalter ist ubiquitär und Forschungsresultate prospektiv angelegter Längsschnittuntersuchungen als auch Studien über spätere Rückfälligkeit bereits kriminell gewordener Jugendlicher ergeben, dass delinquentes Verhalten überwiegend entwicklungstypisch und episodenhaft sind. Eine Großzahl der Jugendlichen die kriminell in Erscheinung treten, legt dieses Verhaltensmuster mit zunehmendem Alter ab. Nur eine Minderheit tritt bis in das Erwachsenenalter wiederholt kriminell in Erscheinung.

Lehmert zeigte auf, dass durch die Form der Sanktionierung es weniger zu einer Identitätsänderung kommt, sondern vielmehr zu einem Verzicht auf Routineverhalten und Verlusten von konventionellen Lebenschancen. Durch das Neuköllner-Modell, das eine frühe Sanktionierung als formelle Kontrolle vorsieht, kann es zu einer Verstärkung der Kontakte zu devianten Subgruppen kommen und somit zu einer Verfestigung einer kriminellen Karriere. Die Wahrscheinlichkeit weiterer Sanktionierungen erhöht sich, wenn die erste Sanktionierung formell geschieht.

Insgesamt bieten die aufgeführten Theorien zur Jugenddelinquenz/Jugendkriminalität wenig Hinweise darauf, welche Anlass oder Notwendigkeit des Neuköllner-Modells hinreichend begründen. Die Vorstellung der Jugendrichterin Heisig, mittels schneller justizieller Reaktionen bzw. Strafen wirksam kriminellen Karrieren von Jugendlichen vorzubeugen, lässt sich unter wissenschaftlichen Erkenntnissen in keiner Form belegen. Vielmehr stellt sich im Hinblick auf die Erkenntnisse zur Jugenddelinquenz die Frage, ob nicht mit der Anwendung des Neuköllner Modells das Gegenteil dessen ursprünglicher Zielsetzung bewirkt wird.


Anwendung: Praxiskontext des Neuköllner Modells

Jugendstrafverfahren wurden gemäß den Vorgaben des Neuköllner-Modells von Heisig im Januar 2008 erstmalig für den Bezirk Nord Neukölln bearbeitet. Eine Ausweitung des Modells auf Gesamtberlin war für den 01.06.2010 geplant und wurde als solches auch umgesetzt. Eine Vielzahl besonders beschleunigter Verfahren konnte nicht vorgewiesen werden. In diesem Zeitraum (2008-2010) haben zwar durch jugendliche Straftäter verübte Roheits-und Gewaltdelikte abgenommen, allerdings lässt sich ein Zusammenhang zwischen diesem Sachverhalt und dem Neuköllner Modell nicht nachweisen. Seit dem 1. Juli 2008 bis Januar 2010 hat Heisig in Neukölln rund 180 Fälle im beschleunigten Verfahren bearbeitet. Weder in der Literatur noch sonstigen Berichten aus den Medien zur Folge lassen sich empirische Erkenntnisse wieder finden, so dass die Erfolgswirkung des Modells nicht überprüft werden kann.


Kritik/Grenzen

Das Neuköllner-Modell ist ein Praxismodell, dessen Konzeption und Inhalte alleinig aus der Perspektive einer Jugendrichterin formuliert sind. Dementsprechend finden sich zur vorausgestellten und hervorgehobenen Intention der frühen Prävention wenig Gedanken zu alternativen Reaktionen auf Jugenddelinquenz, jenseits von Tätigkeits- und Einflussmöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden und der Justiz. Ebenso wenig erfolgt eine klare Trennung zwischen verschiedenen Handlungsoptionen mit unterschiedlichen Gewichtungen von Hilfe-, Unterstützungs- und Strafintentionen. Das Neuköllner Modell sieht eine frühzeitige Bestrafung von Jugendlichen als Form der Prävention und gleichzeitiger Intervention vor. Neben möglichen negativen Folgen im Zusammenhang mit der Etikettierung „Kriminell“ fehlen jegliche Nachweise für die Vorstellung, hiermit zu erreichen, dass Jugendliche nicht mehr kriminell in Erscheinung treten.

Das Begehen von Straftaten stellt bei vielen Jugendlichen eine sich selbst regulierende Phase bzw. zeitlich begrenzte Episode im Prozess der Normalsozialisation dar, welche alters- und entwicklungstypisch ist. Eine frühe Reaktion bei straffällig gewordenen Jugendlichen ist pädagogisch sinnvoll, aber nicht durch die Zufügung negativer Sanktionen seitens justizieller Institutionen. So kann im Einzelfall delinquentes Verhalten auf einen potentiellen Hilfebedarf hinweisen, welcher jedoch nicht zwangsläufig alleinig aufgrund des Begehens einer Straftat unterstellt werden darf. Alternative Reaktionen finden in dem Erfahrungsbericht der Jugendrichterin ebenso wenig Beachtung, wie der Kerngedanke im Jugendgerichtsgesetz (JGG) des grundsätzlichen Vorranges von Erziehung anstelle der Verhängung von Strafe aufgrund der o.g. Besonderheiten von Jugenddelinquenz. Geringfügigere Straftaten, welche den Großteil von Jugendkriminalität abbilden, werden oftmals bereits im Zuge von Diversionsverfahren gem. §§ 45, 47 JGG eingestellt. Möglichkeiten der verkürzten oder vereinfachten Verfahrensgestaltung in diesem Kontext werden jedoch in „das Ende der Geduld“ nicht in Erwägung gezogen.

Kirsten Heisig fordert ein verstärktes und gemeinsames Bemühen von verschiedenen Akteuren/Institutionen wie z.B. Eltern, Schule, Jugendhilfe, Polizei und Justiz. Die Idee als solche ist nicht neu. Die erforderlichen Rahmenbedingungen für entsprechende Kooperationsmodelle werden von der Autorin jedoch weder vorab analysiert oder kritisch diskutiert. Voraussetzungen für eine Kooperation von verschiedenen Institutionen sind u.a. die zur Verfügungsstellung ausreichender personeller Ressourcen, klar und eindeutig definierter Kompetenzbereiche sowie Transparenz auf interner und externer Ebene. Der Blick auf die verschiedenen Aufgabenbereiche, Zielvorstellungen, Herangehensweisen z.B. von Polizei und Jugendhilfe und deren Rollenverständnis fehlt, obgleich hierdurch auch die Grenzen von Kooperationsbemühungen nachvollziehbar erscheinen. Eine weitere Schwierigkeit stellt das Legalitätsprinzip der Polizei da, die einen strikten Strafverfolgungsauftrag innehat.

Voraussetzungen für die geschlossenen Unterbringung von Härtefällen, sowie die Definition „relativ unstreitiger Fälle“ gehen aus den Erklärungen von Heisig nicht plausibel hervor. Hier können nur Vermutungen angestellt werden, die die Autorin in Anlehnung des § 76 JGG in Betracht zieht. Es wird die klassische Charakterisierung von Strafe in Form von Wiederherstellen bzw. Stabilisierung von moralischer Ordnung geschaffen. Dies erinnert an Edelman, der Kriminalität und soziale Probleme im Allgemeinen nicht als vorgegebene Tatsachen, sondern als soziale Konstrukte sieht, die von gesellschaftlichen Akteuren die über Definitionsmacht verfügen, erzeugt werden. Auf dieser Grundlage ist das Neuköllner-Modell keinesfalls geeignet, um der Jugendkriminalität entgegen zu wirken. Nicht zuletzt deswegen, weil Jugendliche als „Seismographen“ bezeichnet werden können, die die Merkmale und Probleme widerspiegeln, welche der gesamten Gesellschaft noch bevorstehen.

Mit der geschlossenen Unterbringung besteht die Gefahr der Pathologisierung Jugendlicher. Diese erfahren durch die Form der geschlossenen Unterbringung eine erhebliche Form gesellschaftlicher Ausgrenzung, welche im deutlichen Widerspruch zur Intention des Jugendgerichtsgesetzes steht. „Das Ende der Geduld“ ist ein Erfahrungsbericht einer Jugendrichterin und an eine nicht fachliche Öffentlichkeit adressiert. Dementsprechend fehlen gänzlich Literaturhinweise und Quellenangaben im Anhang des Buches, was den subjektiven eher biografisch geprägten Inhalt und den geringen Informationswert des Werkes verdeutlicht.


Literaturverzeichnis

  • Heisig, Kirsten(2010): Das Ende der Geduld,Freiburg im Breisgau: Herder Verlag
  • Hurrelmann,Klaus (1999): Lebensphase Jugend,München: Juventa Verlag
  • Dollinger,Bernd & Schmidt-Semisch,Henning (2010): Handbuch Jugendkriminalität-Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog,Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften
  • Eisenberg, Ullrich (2004): Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug,München, Vahlen Verlag
  • Ostendorf,Heribert (2001):Das Jugendstrafverfahren-Eine Einführung in die Praxis-,München, 2. Auflage Carl Heymanns Verlag KG
  • Kunz,Karl-Ludwig (2008): Kriminologie,Bern,Haupt Verlag
  • Laubenthal, Klaus, Baier,Helmut & Nestler, Nina (2010): Jugendstrafrecht, Berlin,Heidelberg,2. Auflage, Springer Verlag
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  • Schaffstein, Friedrich & Beulke,Werner ( 2002): Jugendstrafrecht-Eine systemische Darstellung, Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag
  • Albrecht,Peter-Alexis (2000): Jugendstrafrecht, München, 3. Auflage, C.H.Beck Verlag
  • Schmitt,Bertram (2005): Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug,Münster, Verlagsges. mbH & Co. KG
  • Karl F. Schumann über E.B. Lemert,Jugenddelinquenz im Lebensverlauf,In: Bernd Dollinger & Henning Schmidt-Semisch (Hrsg) (2010), Handbuch Jugendkriminalität-Kriminologie und Sozialpädagogik im Dialog,Wiesbaden, VS Verlag für Sozialwissenschaften
  • Edelman,Murray (1988): Die Erzeugung und Verwendung sozialer Probleme in: Journal für Sozialforschung 2.