Nachruf auf Nils Christie (Scheerer)

KrimJ 2015:

Die Kriminologie gilt vielleicht nicht ganz grundlos als eine eher glanzlose Kontrollwissenschaft, die mit überschaubarem Aufwand an intellektueller Neugier nützliche Informationen für die Kriminalrechtspflege zusammenstellt. Die Erbringung von derlei Hand- und Spanndiensten für die Obrigkeit entsprach allerdings zu keinem Zeitpunkt den Absichten des höchst ungewöhnlichen Kriminologie-Professors Nils Christie an der Juristischen Fakultät der Universität Oslo. Dahinter stand seine Erfahrung, dass die Institutionen der Strafgesetzgebung, des Strafprozesses und des Strafvollzugs weit davon entfernt sind, ihre postulierten Ziele zu erreichen, und dass es möglich und erforderlich sei, mit den Verletzungen und Konflikten, die das Recht auf den Begriff der Straftat reduziert, grundsätzlich anders und für die Betroffenen ebenso wie für die Gesellschaft insgesamt sehr viel besser umzugehen - so nämlich, dass Täter, Opfer und die Gemeinschaft nicht nur formal ruhig gestellt würden, sondern auch einen emotional wirksamen Abschluss finden könnten. Wie wenig ein Strafprozess zu den existentiellen Fragen durchzudringen pflegt, die alle Beteiligten belasten - und wie wenig er dazu beiträgt, sie davon zu befreien - ist ein Thema, mit dem die Öffentlichkeit sich noch allzu wenig befasst. Nils Christies Werke waren immer auch ein Versuch, das von der Kriminalpolitik und der Kriminaljustiz übersehene oder gar erst geschaffene menschliche Leid ins Blickfeld zu rücken, es zu erklären und die Bedingungen der Möglichkeit seiner Vermeidbarkeit oder Überwindbarkeit zu diskutieren.

Zusammen mit seinem Osloer Kollegen Thomas Mathiesen und seinem holländischen Freund Louk Hulsman wurde und wird er deshalb zu den führenden Vertretern des strafrechtlichen Abolitionismus gezählt. Er selbst hatte dieses Zuordnung nie befördert, sondern im Gegenteil immer mal wieder problematisiert, ging es ihm doch eher darum, die Zivilgesellschaft zu stärken und das Bewusstsein für die Probleme und unerwünschten Nebenfolgen der Kriminalpolitik zu schärfen; und weniger darum, die sog. Strafrechtspflege rückstandslos zu entsorgen. Er dachte aber wohl eher daran, die heutige Situation umzukehren: in der Mitte sollte die gesellschaftliche Konfliktregelung im Sinne einer restorative justice stehen (deren Entwicklung er in kritischer Sympathie verfolgte) und ganz am Rand, in einer wahrhaft subsidiären Rolle, ein kleiner und reformierter Apparat der Strafjustiz als eine nicht nur vorgebliche ultima ratio, wenn alles andere nicht ging. Die umsichtige und respektvolle Weise, in der die Strafjustiz den Prozess gegen Anders Breivik geführt hatte, fand zum Beispiel durchaus seine Zustimmung. Die weitere Existenz des einen oder anderen Gefängnisses, solange es denn in seiner Architektur und inneren Struktur mehr oder weniger der Gefängnisinsel Bastøy im Oslofjord ähnelte, hätte ihn nicht gestört.

Das begann mit seiner Studie über norwegische KZ-Aufseher von 1952, die dem Generalstaatsanwalt als seinem Auftraggeber weniger die passenden Klischees als vielmehr eine Reihe von schwer verdaulichen Reflexionen über die Gewöhnlichkeit ihrer Persönlichkeiten („sie sind keine Monster, sie sind … wie wir“) und die Situationsabhängigkeit menschlichen Verhaltens lieferte, und erreichte einen ersten Höhepunkt mit seiner berühmten Rede an der Universität Sheffield über „Konflikte als Eigentum“, die 1977 im British Journal of Criminology veröffentlicht wurde: bis heute ein Klassiker im Diskurs über die Notwendigkeit der Stärkung der Position des Opfers durch eine Wiederaneignung der Konflikt-Regelungs-Kompetenzen durch die Betroffenen. Von nun an hatte Christie seine eigene, über alle Kontinente verbreitete Öffentlichkeit.

Kein Wunder, dass ihm die Masseneinsperrungen in den USA wie eine Wiedergeburt der sowjetischen Gulags vorkam. Seine brillante Analyse über „Crime Control as Industry“ (1993) inspirierte letztlich auch den gefängniskritischen Diskurs in den USA selbst - man denke an Angela Davis‘ „Are Prisons Obsolete?“ (2003) und Michelle Alexanders „The New Jim Crow“ (2010).

Es scheint, als gewönne der Gedanke an die Notwendigkeit einer Stärkung der „horizontalen Gerechtigkeit“ im Sinne von Streitschlichtung unter Gleichberechtigten in letzter Zeit an Zustimmung und an Bedeutung und als gälte es nicht mehr überall als völlig naiv, sich eine Gesellschaft vorzustellen, die es sich leisten könnte, die „vertikale Gerechtigkeit“ im Sinne der Strafjustiz nur noch für den Notfall vorzuhalten. Wenn es jemals dazu kommen sollte, dann wird das ihm zu verdanken sein, der am 27. Mai 2015 im Alter von 87 Jahren bei einem Fahrradunfall mit einer Straßenbahn ums Leben kam, dessen Werk aber so lebendig ist wie eh und je.