Moralunternehmer

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Der von Howard S. Becker geprägte Begriff Moralunternehmer (moral entrepreneur) bezeichnet einen Menschen, der mit bestehenden Regeln unzufrieden ist und diese geändert wissen will, damit auch alle anderen Menschen verpflichtet sind, das zu "tun, was er für richtig hält". Wenn er Erfolg hat, wird eine entsprechende Verhaltensregel durch Gesetz für allgemein verbindlich erklärt. Wer sich anders verhält, wird dann zum "Außenseiter" mit "abweichendem Verhalten", das dann auch strafbedroht ist. Insofern "produzieren" Moralunternehmer nicht nur Regeln, sondern indirekt eben auch Abweichung und Kriminalität.

Moralunternehmer gehören entweder zu den Regelsetzern oder zu den Regeldurchsetzern. Regelsetzer sind leidenschaftlich bemüht, andere Menschen von ihrer Ansicht zu überzeugen. Sie sind so beseelt von der Bedeutung ihrer Mission, dass sie fast nur das Ziel vor Augen haben, sie aber auf die Details der Mittel, die angewandt werden, nicht so viel Aufmerksamkeit verwenden. Nach einiger Zeit werden Moralunternehmer deshalb oft abhängig von Experten oder den Angehörigen bestimmter Berufsgruppen. Die sind dann die Spezialisten für die Mittel und verschaffen dabei ganz nebenbei ihren eigenen berufsständischen Interessen Geltung. Für die Moralunternehmer sind sie wichtig, weil sie ihnen die wissenschaftlich Legitimation ihres Vorhabens liefern können.

Regeldurchsetzer - wie z.B. Polizeibeamte - werden von zwei Faktoren angetrieben: von der Notwendigkeit, ihre eigene Rolle zu rechtfertigen, und von der Notwendigkeit, in Interaktionen Respekt verlangen zu können. Sie sind in einer gewissen Klemme: wenn sie zu viel Effektivität zeigen, könnte man sie für überflüssig halten; wenn sie zu ineffektiv sind, dann könnte man sagen, dass sie versagen. Regeldurchsetzer wollen Regeln durchsetzen, weil es ihr Job ist und weil sie ihren Job gut machen wollen - sie sind nicht wirklich am Inhalt der Regel interessiert. Wenn Regeln verändert werden, wird etwas strafbar, was bisher tolerabel war. Sie tendieren zu einer negativen Sicht der menschlichen Natur.

Erfolgreiche Kreuzzüge bedürfen der Macht, des Einflusses, der öffentlichen Unterstützung und müssen eine allgemeine gesellschaftliche Aufmerksamkeit für die jeweilige Thematik schaffen; wichtig ist auch, eine klare und akzeptable Lösung für das Problem vorschlagen zu können.

Typische und atypische Moralunternehmer

Typische Moralunternehmer

Beckers Beispiel für Moralunternehmer ist deren Wirken im Zusammenhang mit dem Verbot von Marihuana in den USA (Becker 1973). Weitere Beispiele finden sich aber auch im moralischen Kreuzzug für die Alkoholprohibition in den USA (Sinclair 1963). Aktuelle Beispiele könnten in den Kampagnen gegen die Homosexuellen-Ehe, für das Verbot der Abtreibung ("Pro-Life") und ähnlichen Bewegungen gesehen werden. Typischerweise geht es also bei denjenigen, die von der Kriminalsoziologie als Moralunternehmer analysiert werden, um Angehörige der (unteren?) Mittelschicht, die bestimmte Vorstellungen von der richtigen Lebensweise - bzw. ihren eigenen Lebensstil - für alle anderen Angehörigen der Gesellschaft verbindlich machen wollen. Man selbst ist "gegen Rauschgift" - also will man es auch von allen anderen Menschen fernhalten. Man selbst würde nie eine gleichgeschlichtliche Verbindung eingehen - deshalb sollen auch Schwule nicht heiraten dürfen. Die repressive Verallgemeinerung der eigenen Wertorientierung wird von Liberalen als kleinbürgerliche Bevormundung angesehen, doch die Moralunternehmer lassen sich davon nicht beirren: verfügen sie doch im Zweifel über "wissenschaftliche Beweise" für die "unbestreitbaren Gefahren", die von dem bekämpften Verhalten ausgehen.

Die Moralunternehmerforschung wahrt eine gewisse ironische Distanz zu ihrem Gegenstand. Sie wirkt gelegentlich etwas herablassend, wenn nicht von leichtem Spott gekennzeichnet. Das mag mit der sozialen Distanz zwischen dem liberalen Establishment der Soziologie einerseits und den (kleinbürgerlichen) Milieus der gesellschaftspolitisch häufig eher rückwärtsgewandten Moralunternehmer selbst zu tun haben.


Atypische Moralunternehmer

Nicht alle Moralunternehmer sind allerdings "rückwärtsgewandt". Manche - wie die Moralunternehmer im 19. Jahrhundert, die die Welt zur Abkehr von der Sklaverei bewegen wollten - sind durchaus progressiv gesonnen. Zwischen ihnen und den liberalen Kriminalsoziologen besteht keine so große soziale Distanz. Dasselbe gilt für die heutigen Kämpferinnen gegen sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Männergewalt, von der PorNo-Kampagne einer Alice Schwarzer bis zu den Kriminalisierungskampagnen im Verlaufe der Entstehungsgeschichte des Anti-Diskriminierungsgesetzes (vgl. Scheerer 1986).

Kriminologen als Moralunternehmer

Das Verhältnis zwischen Kriminologie und Moralunternehmern ist durchaus ambivalent. Einerseits benutzen Kriminologen den Begriff in einer immer auch leicht polemischen Absicht, wenn sie Moralunternehmer analysieren. Andererseits wäre es durchaus möglich, auch die (verkappten) kriminalpolitischen Bestrebungen von Kriminologen selbst unter diesem Gesichtspunkt der moralunternehmerischen Aktivitäten zu analysieren.

Diese eher wissenschafts-soziologische Perspektive nimmt Henner Hess (1993: 342) in seinem Artikel über "Kriminologen als Moralunternehmer" ein: "Wir Kriminologen sollten vorsichtig sein, Moralunternehmer zu bespötteln. Wir treten oft genug selber als Moralunternehmer auf. Wir führen keine allzu breitenwirksamen Kreuzzüge, weil uns dazu die Mittel fehlen. Der Wunsch wäre sicher da, die Ansätze gibt es durchaus. Und warum sollten wir eigentlich nicht als Moralunternehmer auftreten?"

Ansätze, in denen Kriminologen als Moralunternehmer auftreten, sind nach Hess z.B. der Abolitionismus und die von ihm so genannte akkusatorische Kriminologie.

Abolitionisten halten das Strafrechtssystem für ungerecht und schädlich. Sie finden es auch illegitim und kontraproduktiv. Ihr moralunternehmerisches Ideal ist die Abschaffung nicht nur von Gefängnissen, sondern auch von staatlichen Strafgesetzen und Strafverfahren. Konflikte sollen wieder vergesellschaftet werden. Ziel ist nicht die Bestrafung von Kriminellen, sondern - ähnlich wie bei Wahrheits- und Versöhnungskommissionen - die "Heilung" der beschädigten gesellschaftlichen Beziehungen in der Form von "restorative justice". In manchen "opferlosen Delikten" (Drogenkriminalität) finden die abolitionistischen Moralunternehmer in der Kriminologie ihr Paradebeispiel von der sinnlosen, unvernünften und problemgenerierenden Strafgewalt des Staates.

Die akkusatorische Kriminologie thematisiert die Makro-Kriminalität und wirft der Gesellschaft (und/oder den staatlichen Instanzen) die Benachteiligung der Unterschicht und die Privilegierung der Oberschicht im Strafrechtssystem vor: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Die wirklich schädliche Kriminalität - die Wirtschaftskriminalität, Korruption, repressive Verbrechen, Kriminalität von Staatsführungen und ihren Organen - bleibt weitgehend im Dunkeln. Die akkusatorische Kriminologie will diese Kriminalität aufhellen und die Gesetze und Strafen verschärfen.

Literatur

  • Becker, Howard S. (1973; 2. erweiterte Auflage 1974) Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Orginalausgabe: Outsiders: Studies in the Sociology of Deviance (1963). New York: The Free Press (pp. 147-153).
  • Hess, Henner (1993) Kriminologen als Moralunternehmer. In: Lorenz Böllinger und Rüdiger Lautmann, Hg., Vom Guten, das noch stets das Böse schafft. Kriminalwissenschaftliche Essays zu Ehren von Herbert Jäger: 329-347.
  • Scheerer, Sebastian (1986) Atypische Moralunternehmer. Kriminologisches Journal. Erstes Beiheft: 133-156.