Ludwigsburger Zentralstelle

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Die Stadt Ludwigsburg bei Stuttgart ist weithin vor allem für die Einrichtung bekannt, die sich um die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen verdient gemacht hat - die, wie sie offiziell heißt: "Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen". Die 1958 im Gefolge des sog. Ulmer Einsatzgruppenprozesses gegründete Zentralstelle ist in dem ehemaligen Ludwigsburger Frauengefängnis untergebracht und hat in den ersten 50 Jahren ihrer Existenz mit Vorermittlungsverfahren gegen mehr als 110 000 Personen (von denen etwa 6500 rechtskräftig verurteilt wurden) eine wichtige Rolle gespielt. Beispielsweise hätten der Auschwitz- und der Majdanek-Prozess ohne die Vorermittlungen der Ludwigsburger Zentralstelle wohl kaum erfolgreich geführt werden können.


Gründung

Nachdem der sog. Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1957/1958 gezeigt hatte, dass ein Großteil der NS-Verbrechen, denen ausländische Staatsangehörige zum Opfer gefallen waren oder bei denen der Tatort im Ausland lag, noch keine juristische Aufarbeitung erfahren hatten, errichteten die Justizminister und -senatoren der Länder durch eine Verwaltungsvereinbarung vom 6. November 1958 die Zentralstelle, die dann am 1. Dezember 1958 in Ludwigsburg bei Stuttgart ihre Arbeit aufnahm. Die Stelle sollte nur Vorarbeiten ("Vorermittlungen") durchführen, hatte aber weder originäre Ermittlungs- noch Weisungsbefugnisse. Die Vorermittlungen dienten dazu, die örtlich zuständigen Staatsanwaltschaften mit Material zu versorgen, das ihnen die Eröffnung von Ermittlungsverfahren erleichtern sollte.

Die Besatzungsmächte hatten sich nach dem Kontrollratsgesetz Nr. 10 auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen an ihren Bürgern oder an den Bürgern verbündeter Staaten beschränkt. Deutsche Gerichte durften bis 1951 - zeitweilig erst durch Sondergenehmigung - NS-Verbrechen an deutschen Opfern verfolgen. Als die Alliierten sich zurückzogen, war oft unklar, ob eine deutsche Staatsanwaltschaft (und wenn ja: welche) überhaupt zuständig war. Die Zentralstelle sollte solche Zuständigkeitslücken schließen und die Strafverfolgung der bis dato kaum ermittelten Taten in den östlichen Gebieten in Gang bringen.

Zuständigkeit

Die Richtlinien zur o.g. Verwaltungsvereinbarung erklärten es zur Aufgabe der Zentralstelle, sich um "NS-Verbrechen" zu kümmern, die außerhalb der Bundesrepublik begangen worden waren. Das waren zwei Einschränkungen: ersten gehörten "Kriegsverbrechen" nicht zu den Aufgaben der Zentralstelle, sondern gemeint waren Straftaten in KZs, Ghettos und in Zwangsarbeitslagern, die von Einsatzkommandos und Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD begangen worden waren; zweitens die geografische Beschränkung auf das Ausland. Diese letzte Beschränkung fiel 1966. Die erste Beschränkung wurde von der Zentralstelle nicht strikt aufgefasst. So leitete sie immerhin mehr als 1000 Vorermittlungsverfahren gegen Angehörige der Wehrmacht (vor allem des Heeres) ein. Zu einer Anklageerhebung kam es in keinem dieser Fälle.

1964 sowie 1966 wurden die Zuständigkeiten der Zentralen Stelle ausgeweitet. Während zuvor der Tatort im Ausland die Zuständigkeit begründete, wurden jetzt auch Vorermittlungen gegen Angehörige der Reichsbehörden , der Polizei und Lagermannschaften der Konzentrationslager auf dem Gebiet der BRD eingeleitet. Später wurden auch Verbrechen gegenüber Kriegsgefangenen verfolgt.


Organisation

Bei der Ludwigsburger Zentralen Stelle arbeiteten zeitweilig bis zu 121 Beschäftigte, darunter 49 Staatsanwälte und Richter. Die Behördenleiter waren Erwin Schüle (1966 nach Bekanntwerden seiner Mitgliedschaft in SA und NSDAP zurückgetreten), Adalbert Rückerl (1925-1986), Alfred Streim (1984-1996), Willi Dreßen (bis 2000) und Kurt Schrimm (seit 2000).


Verbrechen der Wehrmacht

Die Zentrale Stelle versuchte in den frühen 70er Jahren, der Weitergabe und Durchführung des Kommissarbefehls nachzugehen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Verdächtigen zum größten Teil aber schon tot. Weitere Untersuchungspunkte waren verschiedene zentrale Befehle des Oberkommandos der Wehrmacht und des Oberkommandos des Heeres:

  • der Nacht- und Nebel-Erlass vom 7. Dezember 1941 (Richtlinien für die Verfolgung von Straftaten gegen das Reich oder die Besatzungsmacht in besetzten Gebieten)
  • der Kommandobefehl vom 7./18. Oktober 1942 (Befehl über die Behandlung feindlicher Terror- und Sabotagetrupps)
  • der Kugel-Erlass vom 2./4. März 1944 (Anordnung von Maßnahmen gegen wiederergriffene flüchtige kriegsgefangene Offiziere und nicht arbeitende Unteroffiziere mit Ausnahme britischer und amerikanischer Kriegsgefangener)
  • der Befehl über Maßnahmen gegen Überläufer und deren Angehörige vom 19. November 1944

Hemmnisse

Zunächst mangelte es der Zentralstelle in mehrfacher Hinsicht an Unterstützung. In Deutschland herrschte ein Schlussstrich-Klima. Man wollte die Vergangenheit ruhen lassen. Die Begrenzung der geographischen und sachlichen Zuständigkeit der zentralen Stelle (Auslandstaten; Ausnahme von Kriegsverbrechen) wirkte hemmend. Die Zentrale Rechtsschutzstelle (ZRS) des Auswärtigen Amts verwehrte lange Zeit jede Einsicht in Listen von im Ausland wegen Kriegsverbrechen gesuchten Deutschen. Auch verbot die Bundesregierung bis 1964, dass Mitarbeiter der Zentralstelle Archive in Osteuropa besuchten (vorgeblich, weil dort gefälschtes Material untergeschoben werde). Als 1965 die Verjährung von Mord drohte, und damit die Möglichkeit, dass untergetauchte NS-Verbrecher wieder auftauchen könnten, erhielt die Zentrale Stelle, deren Anträge von der Bundesregierung stets überheblich und anmaßend zurückgewiesen worden waren, die Erlaubnis, auch Archive in Osteuropa zu nutzen. Eine große Gruppe von Ermittlern reiste nach Warschau und unterbrach damit die Verjährung. Das Einführungsgesetz zum Ordnungswidrigkeitengesetz vom 10.05.1968 hatte zudem zur Folge, dass Handlungen von Mordbeihilfe, die vor 1945 verübt worden waren, rückwirkend it dem 8.05.1960 verjährt waren ("kalte Verjährung"). Allerdings wurde - trotz des strafrechtlichen Rückwirkungsverbots - 1969 die Verjährungsfrist für Tötungsverbrechen zunächst auf 30 Jahre verlängert und 1979 schließlich aufgehoben, so dass die zunächst massiven Hemmungen der Tätigkeit der Zentralstelle in the long run erheblich verringert wurden.

Bilanz

Durch die Vorermittlungen der Zentralen Stelle kam es in den 1960er und 1970er Jahren zu einer vorher und auch später nicht mehr erreichten Anzahl von Strafprozessen. 1999 wurde beschlossen, die Ludwigsburger Zentrale Stelle solange weiterzuführen, wie Strafverfolgungsaufgaben anfallen. Seit dem Jahr 2000 sind die nicht mehr aktuell benötigten Unterlagen der Zentralen Stelle durch die Ludwigsburger Außenstelle des Bundesarchivs bibliothekarisch zugänglich. Eine ständige Ausstellung zu den Ermittlern von Ludwigsburg unterrichtet über die Geschichte und Tätigkeit der Behörde.

Die Kritik des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem, dass die Bundesrepublik nur die "Note mangelhaft" für die Strafverfolgung ehemaliger Nazis verdient habe, weil zwischen April 2006 und März 2007 in Deutschland keine NS-Verbrecher angeklagt oder verurteilt worden seien, wies das Zentrum mit dem Argument zurück, dass man erstens weiter auf Hochtouren arbeite und dass die Zahl der Anklagen zweitens kein Maßstab für Erfolg oder Misserfolg der Arbeit des Zentrums sei. Eine andere Bilanz zog im Dezember 2008 Rüdiger Soldt (2008): "Nach der zunächst zögerlichen Beschäftigung mit der NS-Geschichte gilt die Arbeit der Zentralstelle heute als leuchtendes Vorbild. Zum Vergleich: In Österreich hat es zwischen 1975 und 1997 kein Ermittlungsverfahren gegen ehemalige NS-Verbrecher gegeben. So viel Gleichmut ist in Deutschland dank der Ludwigsburger Ermittler heute undenkbar."

Annette Weinke (2008) kritisiert, dass die Zentralstelle langfristig keine Ergebnisse hervorgebracht habe, die für die Ahndung von Makrokriminalität modellbildend geworden wären. Andererseits arbeiteten die Ermittlungen akribisch die Handlungsspielräume und Einflussfaktoren bei den Taten heraus.

Literatur

  • Krösche, Heike (2008) 'Die Justiz muss Farbe bekennen.' Die öffentliche Reaktion auf die Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen 1958. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 56. H. 4, S. 338 - 357.
  • Pöschko, Hans, Hg. (2008) Die Ermittler von Ludwigsburg: Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Herausgegeben i.A. des Fördervereins Zentrale Stelle e.V.. Berlin: Metropol.
  • Soldt, Rüdiger (2008) 'Verfolgen, solange die Täter unter uns sind'. Gegen Widerstände musste die Zentralstelle zur Aufklärung der Verbrechen der Nationalsozialisten durchgesetzt werden. Nun gratulierte Bundespräsident Köhler zum Jubiläum. FAZ 2.12.2008: 4.
  • Weinke, Annette (2008) Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stellle in Ludwigsburg 1958-2008. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.

Links