Kunst im Vollzug

Kunst - eine Begriffsbestimmung

Wenn man sich heutzutage über Kunst verständigen möchte, sind folgende Begriffe zur Bestimmung von „Kunst“ unumgänglich: Sich befremden lassen zu können ist eine der wichtigsten Fähigkeiten des Künstlers oder der Künstlerin. Darunter wird verstanden, die Gegebenheiten der eigenen Kultur nicht als „natürlich“ hinzunehmen, sondern einen Blick auf sie zu entwickeln, der dem Blick eines Fremden gleicht. Dazu ist es notwendig, am Rande zu stehen, ob man sich dort selber hingestellt hat oder ob man dort hin gedrängt worden ist, ist dabei nicht von Belang. Wichtig ist, dass man selbst diese Position akzeptiert und als Möglichkeit der Distanzierung für sich nutzt. Diese Fremdheit ist eine wichtige Vorbedingung für eine innere Freiheit, die es erst ermöglicht, eine Vorstellungskraft zu entwickeln oder zu kultivieren, die weit über die wahrgenommene Realität hinausweist. Scheitern ist ein ständiger und nicht wegzudenkender Bestandteil der Kunst. Die Auseinandersetzung zwischen der eigenen Vorstellungskraft und dem Material muss zu einem dauernden Scheitern führen, da die Vorstellung an der Macht des Faktischen immer wieder scheitern muss. Dieses Ringen zwischen Vorstellungskraft und Material ist ein Prozess, der für manche Künstlerinnen schon das Werk an sich darstellt. Für andere ist ein materielles Werk das Endprodukt des Prozesses. Dieses Bemühen um das Werk als Ziel des Handelns, unabhängig davon, wie es definiert wird, unterscheidet Kunst gemeinhin von Kunsttherapie und Kunsthandwerk. Persönliche innere Prozesse können ein Teil des Schaffens sein, aber nicht Ziel der Betätigung, wie es in den verschiedenen Formen der Kunsttherapie der Fall ist. Dass Kunsthandwerk die Herstellung und den Verkauf von schmückenden Gegenständen in den Mittelpunkt stellt, unterscheidet sich grundsätzlich von diesem Kunstbegriff. Die Haltung entscheidet also zwischen Kunst und Nicht-Kunst, damit wird allerdings noch keine Aussage über die Qualität des Werks gemacht. In Bezug auf die Themen, mit denen sich ein Werk auseinandersetzen kann, gibt es keine Einschränkungen: Die Spannungen der menschlichen Existenz, ihre Begrenztheit und Zerbrechlichkeit sowie ihre Angewiesenheit auf ein Gegenüber liefern ständig neue Themen. Auch die Materialien, Medien und Formen können frei gewählt werden. So kann sich eine künstlerische Haltung z.B. in einem Theaterstück, einem Bild, einem Chatgedicht oder auch in einem gesprochenen oder geschriebenen Text ausdrücken. Joseph Beuys formulierte mit seinem Satz „Jeder Mensch ist ein Künstler“ 1972 eine für die damaligen Zeiten provokant und befreiend wirkende Perspektive, die jedoch unter den heutigen spätmodern-neoliberalen Marktbedingungen künstlerische Tätigkeit als beliebig erscheinen lässt und tendenziell zu ihrer Entwertung führt, da Bedingungen und Anstrengungen künstlerischer Produktion ausgeblendet bleiben. Heute könnte es vielleicht heißen: „Jede und jeder könnte ein Künstler, eine Künstlerin sein...“ Entscheidend für die Qualität des Werks ist zum einen dessen Verortung in der Kunstgeschichte, zum anderen seine Radikalität und Kompromisslosigkeit in der Herangehensweise: Hat der oder die KünstlerIn etwas gewagt? Wird hier den Betrachtenden etwas zugemutet? Öffnet das Kunstwerk neue Sichten?

Nutzen von Kunst im Strafvollzug

Der Nutzen von Kunst für Gefangene und MitarbeiterInnen des Strafvollzugs ist gleich dem Nutzen von Kunst für Menschen, die ‚in Freiheit’ leben: Die Auseinandersetzung mit Kunst kann Freiräume aufzeigen, den Blick weiten und Gefühle fassbar machen, die sonst unformuliert geblieben wären. Das eigene Tun im künstlerischen Bereich kann eine Toleranz gegenüber dem eigenen Scheitern wachsen lassen, Phantasien können sich an der Wirklichkeit reiben und das Gefühl der Teilhabe an der Welt stärken. Unabhängig davon, ob Menschen im Vollzug sich als RezipientInnen oder als Schaffende mit Kunst auseinandersetzen, kann diese Tätigkeit neue Kommunikationswege eröffnen, die das Leben in der Gefangenschaft (und danach) mit einem eigenen Sinn zu füllen vermag. Trotz dieser positiven Möglichkeiten, die in der Auseinandersetzung mit Kunst eingeschlossen sind, sollte man nicht versuchen, die Kunst für bestimmte Ziele – gleich welcher Art, auch nicht ‚positive’ – zu instrumentalisieren, da man ihr dann die Zweckfreiheit und damit ihre mögliche Sprengkraft nimmt.

Bedingungen für Kunst im Strafvollzug

Obwohl die künstlerische Haltung einen hohen Stellenwert in der heutigen Kunst hat, spielen Raum und Status, anders als im immer noch verbreiteten romantischen Bild des Künstlers als Genie, das nur aus sich selbst heraus schafft, eine entscheidende Rolle. ‚Draußen’, also außerhalb von Gefängnissen, wird gerne ein Bild von Kunst vermittelt, in dem nahe gelegt wird, dass Armut oder ein karges Leben für die künstlerische Arbeit fördernd und diese quasi veredelnd sei. Damit wäre der Knast geradezu ein ‚paradiesisches’ Umfeld für künstlerische Tätigkeit. Das Gegenteil ist jedoch der Fall; ‚drinnen’ wie ‚draußen’ gilt: ohne materielle Grundlagen, ohne die Möglichkeit und Freiheit, Zeit und Arbeit für künstlerisches Schaffen einzusetzen und schließlich auch ohne Sichtbarkeit und Annerkennung ist die Entstehung von Kunst kaum möglich. Um künstlerisch tätig sein zu können, muss es Räume geben, in denen ohne Zensur und sonstige Überwachung gearbeitet werden kann. Neben diesen Räumen müssen auch notwendige Gerätschaften und Materialien zur Verfügung gestellt werden. Außerdem wäre es notwendig die Gefangenen für die entsprechenden Zeiträume von anderweitigen Verpflichtungen freigestellt werden. Ein gutes Beispiel dafür ist die Bildhauerwerkstatt in der JVA Bremen, in der die künstlerische Betätigung als Arbeit gewertet wird und nicht in den Bereich Freizeit fällt. Dadurch sind die Gefangenen von der Arbeitsverpflichtung entlastet. Da künstlerische Prozesse nicht ohne Auseinandersetzung mit anderen stattfinden, also Kommunikation stattfinden muss, sollte geeignetes Personal zur Verfügung stehen, das die Gefangenen in ihrem Tun zu begleitet. Dieses Personal müsste sowohl Fertigkeiten vermitteln, als auch die Herausbildung einer künstlerischen Haltung fördern können. Ob und wie die entstandenen Werke veröffentlicht werden, hängt von der Bereitschaft der gefangenen KünstlerInnen ab, an die Öffentlichkeit zu gehen, von den Kunstinteressen und den Vollzug bestimmenden Zielen der jeweiligen Anstalt und letztlich auch von den Mechanismen des Kunstmarkts. Dass diese Anforderungen teilweise im Widerspruch zu den Sicherheitsbedürfnissen der Anstalt stehen, lässt sich nicht vermeiden. In diesem Spannungsfeld muss sich eine ernstzunehmende Kunstproduktion und Auseinandersetzung mit Kunst im Strafvollzug bewegen.

Einige Beispiele von Kunstproduktion und Kunst hinter Gittern

Umfassendes Kunstkonzept

Ein umfassendes Kunstkonzept hat die JVA Heimsheim. Hier wird eine breite Palette an Aktivitäten geboten, die vom Literaturworkshop über das Theaterspielen, von ‚Kunst am Bau’ (z.B. Wandgemälden auf der Mauer des Gefängnishofs) bis zu Ausstellungen und Konzerten von externen KünstlerInnen reicht. Das Kunstangebot in Heimsheim deckt den gesamten Bereich künstlerisch-kultureller Darbietungen ab und ermöglicht es den Gefangenen, sich in verschiedenen Rollen – als Produzierende wie als Rezipierende oder auch Kommentierende von Kunst – zu erleben. Die ästhetisch anspruchsvolle Webseite präsentiert provokante Zitate und argumentiert, dass Kunst im Knast Freiräume für alle – seien sie nun ‚drinnen’ oder ‚draußen’ – schafft. Ein noch weitergehendes Konzept könnte darin bestehen, die Gefangenen als KuratorInnen in die Planung von Ausstellungen einzubinden und ihnen eine weitergehende Reflexion bis hin zur Formulierung von Kunstkritik zu ermöglichen.

JVA Heimsheim

Theaterprojekt „Spartacus“ in der JVA Tegel

An der überregional beachteten Theatergruppe „aufBruch“ in Berlin Tegel sind zwei Dinge bemerkenswert: Die im künstlerischen Sinn hervorragende professionelle Herangehensweise mit ihren positiven Auswirkungen auf die gefangenen Beteiligten des Projektes auf der einen Seite, und die den ‚Knast’ (im Sinne Goffmans) „dramatisierende“ Art und Weise der Präsentation auf der anderen Seite, welches die gesellschaftlich stereotype Sicht auf Gefangene und Gefängnisse eher noch bestätigt als zu differenzierender Reflektion darüber anzuregen. Der unbescholtene Bürger, die brave Bürgerin, kann ins Gefängnis gehen und die zu langjährigem Freiheitsentzug verurteilten Gefangenen in einem Spektakel, das u. a. Gewaltszenarien zeigt, beobachten. Dies kann zu einer Verfestigung von Klischees über Gefangene und Verbrechen führen, die wenig mit der Realität der registrierten und bestraften Normverstöße zu tun hat. Aber vermutlich sind es gerade diese Klischees, zusammen mit dem klassischen Stoff des Theaterstückes, die dieses Projekt für die mediale Verwertung so attraktiv machen.

Spiegel Artikel zu dem Theaterprojekt „Spartacus“

Stadttheater Basel im Stadtgefängnis Basel

Im künstlerischen Sinne ausgereifter ist das Projekt des Stadttheaters Basel, das Texte zu Gefängnis und Gefangenschaft in einem Raum des Stadtgefängnisses inszeniert und von ausgebildeten Schauspielern vortragen lässt: Mit diesem Projekt ist eine umfassende und konsequente Durchdringung der Thematik mit künstlerischen Mitteln gelungen, in der die ZuschauerInnen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit der Thematik angeregt werden.

Theater in Basel

Ausstellung eines Gefängnisses

Kann man ein Gefängnis ausstellen? Das Deutsche Architekturmuseum behauptet nicht, dass das Gefängnis, das ausgestellt wird, Kunst sei; vielmehr wird das Augenmerk auf die Architektur des Gefängnisbaus gerichtet und der Versuch unternommen, mit der Ausstellung von historischen Orten der Überwachung die Geschichte der Kontrollarchitektur aufzuzeigen.

Gewahrsam

Ausstellung in einem Gefängnis

Eine Initiative bildender Künstler und Künstlerinnen ‚von draußen’ in Oldenburg stellt in einem Gefängnis ihre Werke aus – sie schafft damit die Möglichkeit zu überraschenden Begegnungen sowie neuen Erkenntnissen und Einsichten für alle Beteiligten: den MitarbeiterInnen des Justizvollzuges, den KünstlerInnen, den Gefangenen und den BesucherInnen. Für die Künstler ist die Frage, wie ihr Werk an diesem Ort wirkt, spannend und aufschlussreich. Ein weiterer Aspekt ist, dass die Relevanz der Kunst erhöht wird, wenn sie an einem mehrfach gesicherten Ort wie einem Gefängnis präsentiert wird und ihr bereits dadurch erhöhte Aufmerksamkeit ‚sicher’ ist. Sind die Werke so wertvoll, dass sie in einen großen Tresor gehören oder so gefährlich, dass ihr Ausbruch in die Gesellschaft verhindert werden muss? Die Ausstellungen öffnen den Raum Gefängnis in die Gesellschaft mit dem Vehikel der Kunst; Menschen, die Kunst betrachten möchten, kommen in den Ihnen sonst verschlossenen Raum des Gefängnisses; und da der Anlass des Aufenthalts die Ausstellung und nicht Besichtigung eines Gefängnisses und seiner Insassen ist, wird ein ‚Zooeffekt’ vermieden und die Einbindung des Gefängnisses in die gesellschaftliche Normalität kann stattfinden.

Austellungen in der JVA

Umwidmung eines Gefängnisbaus

Wenn der Gefängnisbau für seine ursprüngliche Bestimmung nicht mehr gebraucht wird, muss entschiedene werden, was mit dem Gebäude geschehen soll. Eine Möglichkeit wäre, es abzureißen, eine andere, das Gebäude umzuwidmen. Die eigenwillige Architektur und die Belastung durch den vorherigen Gebrauch machen es allerdings schwierig, eine neue Nutzung dafür zu finden. Da bietet sich Kunst an, um dass Gebäude zu füllen. Die gegenseitigen Implikationen können zu interessanten Überschneidungseffekten führen: was im Ausstellungsbetrieb Kojen heißt, sind hier die Zellen. Ein Gang durch die Ausstellung könnte Assoziationen an eine Freakshow oder einen Zoo erwecken, die Sichtfenster in den Zellentüren können aber auch Brenngläser werden durch die die gesellschaftliche Realiät schärfer wahrgenommen werden kann.

Kunst im Knast

Ein Beispiel, wo heute das pralle Leben tobt, ist das JUZE Burgtor in Lübeck: Nach jahrzehntelanger Nutzung als Gefängnis - der Abriss ist unmöglich: das Burgtor ist Bestandteil des historischen Stadtmauer von Lübeck – ist dort heute ein Jugend- und Kulturzentrum untergebracht. Das Burgtor in Lübeck ist ein Ort, an dem Jugendliche und andere Einwohner der Stadt mit Kunst und Kultur in Berührung kommen können.

Burgtor

Literatur

Bodenmann-Ritter, Clara /Beuys, Joseph(Hrsg.)(1988): Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5 /1972, Berlin

Kramer, Fritz W(2005): Schriften zur Ethnologie, Frankfurt am Main

Walter, Franz Erhard(1990): Sieben Orte für Hamburg, Hamburg