Kulturgeschichte des Suizids

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Schon im Altertum existierten sich gegenseitig befehdende Denkschulen, die den Suizid entweder als Ausdruck menschlicher Freiheit befürworteten oder aber als Vergehen gegen göttliche oder andere Gesetze verurteilten.

Eine Geschichte der Strafbarkeit des Suizids könnte zeigen, dass häufig sowohl der Versuch als auch der vollzogene Suizid drastische Sanktionen nach sich ziehen konnten. In England war der Suizidversuch bis 1961 unter Strafe gestellt. Die Leiche konnte geschändet und geächtet werden z.B. durch Verweigerung einer kirchlichen Bestattungszeremonie oder Abhacken der ausübenden Hand. Bis 1823 wurde dem Leichnam nach Haenel (1989) ein Pfahl durch das Herz getrieben (Brauch zurückzuführen auf die Germanen). Noch 1768 stellte Christian VII von Dänemark den Selbstmordversuch unter Strafe und ordnete an, dass „ewige harte Arbeit mit jährlichem Staupenschlage an dem Ort des Delicti den Selbstmörder treffen solle“.

Eine Geschichte des Aberglaubens könnte darauf verweisen, dass in vielen afrikanischen Ethnien Körperteile und Kleidungsstücke eines Selbstmörders als zauberkräftig galten; zumindest traute man der Hand eines Erhängten die Heilung von Warzen und Kröpfen zu. Selbstmörder selbst galten häufig als Unglücksbringer; auch wurden Leichname "diskriminiert": so entstanden auf Friedhöfen separate „Selbstmörderecken“; mancherorts durfte die Leiche nicht über die Schwelle des Hauses getragen werden, sondern musste durch ein Loch unter der Schwelle durchgezogen werden (Haenel).

Eine Rechtsgeschichte des Suizids würde eine Tendenz zur Straflosstellung verzeichnen. In Deutschland ist der Suizid nicht nur straflos, sondern nach traditioneller Lehre sogar tatbestandslos (vgl. Kaiser 1985). Das ändert nur wenig an der Betrachtung des Suizids als eines abweichenden Verhaltens (vgl. Schuh 1986).

Pythagoras und seine Schüler (6. bis 4. Jh. v. Chr.) sahen im Suizid eine Auflehnung gegen die Götter und wegen der von ihnen erwarteten Seelenwanderung eine Sinnlosigkeit. Hegesias (3. Jh. v. Chr.) betonte hingegen den Vorteil des Suizids angesichts des Elends der menschlichen Existenz - jedem solle das Recht zustehen, sich von der sinnlosen Existenz durch Suizid zu befreien. Die Lehre hatte zu viel Erfolg unter jungen Leuten, so dass man ihm Redeverbot erteilte. Andererseits gab es dann zur Zeit Kleopatras in Alexandria eine eigene Akademie zur Lehre der Philosophie und der Technik des Suizids. In den Wäldern Germaniens hatte man zu der Zeit zwar keine Akademien, aber der Suizid war gleichwohl ein "normales" und keiner Ächtung unterworfenes Phänomen.

Fernöstliche Religionen tendierten dazu, den Suizid als Dummheit anzusehen: so könne man doch der Seelenwanderung nicht entgehen. In Japan gab es zudem die Kulturform des Harakiri: eine Reaktion zur Reinigung der beschmutzten Ehre.

Das Christentum ächtete den Suizid im Laufe der Zeit immer stärker. In der Bibel gab es die ehrenhaften Suizide von Samson, Saul, Abimelech, Simri und Ahitophel. Selbst das Neue Testament kannte keine prinzipielle Ablehnung des Suizids. Unter Christen grassierte zudem eine „Todes-Obsession“ - immerhin gab es zahllose Christen, die sich aus Angst vor dhung einer (anderen) Todsünde lieber umbrachten.IAußer dem 5. Gebot ("Du sollst nicht töten") gab es ja in der Bibel auch keine Bestimmung, die isch als Verbot des Suizids hätte interpretieren lassen.

Augustinus äußerte zu Beginn des 5. Jahrhunderts eine für seine Zeit atypische Einstellung, die in der christlichen Religion zu einer radikalen Verdammung des Suizids führen sollte. Im "Gottesstaat" erklärte er: "Denn wenn es nicht erlaubt ist, eigenmächtig einen Menschen, der Schaden zufügen will, zutöten, falls kein Gesetz dazu Befugnis gibt, so ist auch ohne Frage, wer sich selbst umbringt, ein Mörder". Augustinus verurteilte den freiwilligen Tod gläubiger Christen als Mord und schwere Sünde, da die Keuschheit nicht an den Körper, sondern an die Seele gebunden sei.

Thomas von Aquin folgte Augustinus und erklärte, dass sich niemand auf irgendeine Weise selbst das Leben nehmen dürfe. Der Suizid sei ein Akt gegen die Liebe zu sich selbst, gegen die Liebe zur Gesellschaft, schließlich gegen die Liebe zu Gott selbst. Denn erstens widerspreche er den natürlichen Neigungen des Menschen (er verletze das Gebot der Liebe zum Nächsten, die der Mensch auch sich selbst gegenüber empfinden solle); zweitens widerspreche er der Liebe zur Gemeinschaft (der Mensch gehöre zur Gemeinschaft, sei Eigentum des Vaterlands, dürfe sich daraus nicht selbst tilgen); drittens widerspreche er der Liebe zu Gott (gehöre der Mensch doch Gott wie ein -Sklave seinem Herrn gehöre). Der Mensch ist nicht „sui iuris": es sei vielmehr Gott, der über Leben und Tod entscheide.

Die 2. Synode von Orléans im Jahre 533 verurteilte den Suizid als schlimmstes aller Verbrechen - zwangsläufig endete er in der Exkommunikation des Suizidanten (Konzil von Toledo 693). 1248 beschloß die Synode von Nimes, Selbstmördern das Recht auf ein Begräbnis in geweihter Erde vorzuenthalten (Ausnahmen: geistige Umnachtung, psychische Störungen, wenn der Verzweifelte noch Reue zeigen konnte). Luther sah im Suizid "das Werk des Teufels" und verurteilte deshalb stets die Tat, aber nicht immer das Opfer.

Das Christentum tendiert heute zu milderen Reaktionen. Einfallstor: ein Wort im Johannes Evangelium (15,13): "Niemand hat größere Liebe denn die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde." Ist der altruistische Suizid also keine Tötung im Sinne des 5. Gebots? Ähnliche Ambivalenzen existieren möglicherweise im Islam ("Zu sterben steht niemandem zu, es sei denn mit Allahs Erlaubnis - ein Beschluss mit vorbestimmter Frist".

Der deutsche Idealismus verurteilte den Suizid. Immanuel Kant nahm in der "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" klaren Bezug: "Einer, der durch eine Reihe von Übeln, die bis zur Hoffnungslosigkeit angewachsen ist, einen Überdruss am Leben empfindet, ist noch soweit im Besitze seiner Vernunft, dass er sich selbst fragen kann, ob es nicht etwa der Pflicht gegen sich selbst zuwider sei, sich das Leben zu nehmen. Nun versucht er: ob die Maxime seiner Handlung wohl ein allgemeines Naturgesetz werden könne. Seine Maxime aber ist: ich mache es mir aus Selbstliebe zum Prinzip, wenn das Leben bei seiner längeren Frist mehr Übel droht, als es Annehmlichkeit verspricht, es mir abzukürzen." (Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Hamburg 1965, S. 43). Nach Kant handelt der Selbstmörder eindeutig gegen den kategorischen Imperativ; er vernichtet die Sittlichkeit durch Zerstörung der eigenen Person und entwürdigt dadurch die Menschheit.

Rousseau (1712-1778), Voltaire (1694-1778) und auch Schopenhauer (1788-1860) hingegen bejahten das Recht zur Selbsttötung als Zeichen menschlicher Freiheit. Nietzsche (1844-1900) schreibt in seinem Zarathustra: "Meinen Tod lobe ich Euch, den freien, der kommt, weil ich es will" (Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra, S. 94).
Kierkegaard (1813-1855) sieht im Suizid das Vorrecht der menschlichen Existenz.