Kritik des Drogenstrafrechts

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Ineffektiv, verfassungswidrig - und nicht zu ändern?

Allmählich wird es ernst: Nachdem eine Arbeitsgruppe auf dem letzten Strafverteidigertag die Abschaffung der Prohibition befürwortet hatte, forderten nun in einem offenen Brief mehr als 100 deutsche Strafrechtsprofessoren die Einsetzung einer Expertenkommission im Deutschen Bundestag, um Sinn und Zweck der Fortsetzung der repressiven Drogenpolitik zu diskutieren - in der sicheren Erwartung, dass eine unvoreingenommene Diskussion zur Abschaffung von Repression und Prohibition führen würde.

Ineffektivität

  • Fast alles wäre besser als die Prohibition: While most discussions of drug policy “take as a given that reduced drug consumption is beneficial,” Miron argues that “this assumption does not follow from standard economic principles.” Rather, according to the author, “policies to reduce drug consumption make sense only if their benefits exceed their costs.” Therefore, the right question for policy analysis, he believes, “is not whether drugs are sometimes misused but whether policy reduces that misuse, and at what cost.” Judged by this standard, it’s clear that criminal prohibition “is almost certainly the wrong approach” because it fosters a plethora of undesirable and negative societal consequences, while only marginally decreasing use. Consequently, virtually any liberalization of existing policy will achieve a better balancing of costs and benefits, though “none is obviously better than simply legalizing drugs,” Miron concludes.
  • Die erklärten Ziele der Gesetzgebung. Effektiv im Hinblick auf die Volksgesundheit, die Funktionsfähigkeit der Gesellschaft.
  • Operationalisierung: kein Gramm Droge außerhalb des legitimen Bedarfs.
  • Verglichen mit dem Ziel: katastrophale Ineffektivität.
  • Tatsächlich wird zum Nachweis der Effektivität auf niedrigere operationalisierbare Zahlen gesetzt: Beschlagnahmungsmengen, Festnahmen von Händlern und Schmugglern, Zerschlagung von Kartellen, Händlerringen, Banden.
  • Das ist nicht aussagekräftig (actuarial justice). Sagt über die Effektivität nichts aus. Es käme auf den Grad der Austrocknung des Marktes und den dadurch bewirkten Rückgang der Konsumentenzahlen und Konsumunfälle an. Hier aber wahrscheinlich: sowohl die Indikatoren des Erfolgs wie auch der Anteil der nicht-beschlagnahmten Drogen nehmen parallel zu.
  • Heute so viele Drogen wie noch nie. Prozess der Normalisierung bei weiterbestehender Kriminalisierung: Patricia Erickson (2014), Craig Rainarman (2104).
  • Kontrast: 1934 glaubte man, die völlige Austrocknung des Marktes innerhalb weniger Jahr zu schaffen. 1998: innerhalb von 10 Jahren ("We can do it. A drug free world" - Pino Arlacchi. 2008: innerhalb der nächsten 10 Jahre.
  • Mehr noch: Kontraproduktivität. Jeffrey A. Miron (Economics, Boston University), Drug War Crimes: The Consequence of Prohibition:
  1. Freiheitsentzug für Millionen Menschen
  2. besondere Ungleichheit zwischen Reichen und Armen

Verfassungswidrigkeit

Falsche ursprüngliche Annahmen: Nicht-Kontrollierbarkeit, Selbst-Versklavung bei allen Konsumenten.

Heute: Etwa wie bei Alkohol. Die große Mehrheit tut es freiwillig und mit grober Fahrlässigkeit, was die Folgen angeht. Das aber ist Freiheit.

  • Kontrollierter Konsum (1980er Jahre, Wayne Harding, Zinberg)
  • Gemeine Drogenkultur (Marzahn)
  • Wunscherfüllende Medizin (enhancement, human neuro-enhancement; kosmetische Psychopharmakologie).

Art. 3: (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberechtigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin. (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.

Artikel 2 GG: (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. - (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Heute wie 1957 (BVerfGE 6, 389 Homosexuelle): "1. Die Strafvorschriften gegen die männliche Homosexualität (§§ 175 f. StGB) verstoßen nicht gegen den speziellen Gleichheitssatz der Abs. 2 und 3 des Art. 3 GG, weil der biologische Geschlechtsunterschied den Sachverhalt hier so entscheidend prägt, daß etwa vergleichbare Elemente daneben vollkommen zurücktreten. - 2. Die §§ 175 f. StGB verstoßen auch nicht gegen das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), da homosexuelle Betätigung gegen das Sittengesetz verstößt und nicht eindeutig festgestellt werden kann, daß jedes öffentliche Interesse an ihrer Bestrafung fehlt."

Drugs is the new Gay.

Es geht nicht um Selbstschädigung, sondern um Freizeitgebrauch und damit um die freie Entfaltung der Persönlichkeit.

Veränderbarkeit

  1. Kündigung der Konventionen: Single Convention zum 1.7. jährlich. Wiener Konvention: jederzeit. - Unrealistisch? Bolivien: Sonderrechte für Bauern.
  2. Contra legem wie in Uruguay: Legalisierung von Cannabis.
  3. Umgehung praeter legem: Holland, Spanien, Portugal ...

Synthese: Normalisierung, cultural lag, Fachleute und institutionelle Umsetzer, soziale Bewegungen.

Gegenwartsdiagnose: in Lateinamerika Gegenkultur und Elite; in Europa: Gegenkultur und verstreute Fachleute, gering organisiert.

Holland

Uruguay is still writing the rules for its legal marijuana market, two weeks overdue now, and President Jose Mujica has asked that no details be released until the regulations are finally published on Friday or Monday. But The Associated Press has learned the reason for the delay, as well some important details about the system. An official in the drug control office, speaking on condition of anonymity because the rules aren't final, says the law didn't include taxing pot sales, so authorities are developing fees to match highly taxed alcohol and cigarette sales. Another problem figuring out how to trace the plants from seed to smoke. To thwart illegal resales, licensed users will be limited to 10 grams weekly. Pharmacies won't sell the 40 grams a month all at once.

USA: 2014 sieht es so aus. Colorado hat als erster US-Staat überhaupt Marihuana selbst für rein privaten Genuss erlaubt. Und nun zieht auch New York nach, wiewohl noch halbherzig: Am Mittwoch will der demokratische Gouverneur Andrew Cuomo, bisher ein Legalisierungsgegner, eine beschränkte Freigabe verkünden - freilich nur bei schweren Krankheiten wie Krebs. - Damit ist Cannabis schon in fast der Hälfte der USA in der einen oder anderen Form legal: Mit New York erhöht sich die Zahl der Staaten, die Marihuana zumindest teilweise zulassen, auf 21 (siehe Karte). Déjà-vu: Wie einst die Alkoholprohibition wird auch die gesetzliche Verteufelung von Cannabis zu einem Relikt amerikanischer Sittengeschichte.

Fragen an die deutsche Drogenpolitik

  • Der letzte Europäische Drogenbericht vom Mai 2013 vermutet einen Rückgang traditioneller pflanzlicher Drogen, die interkontinental transportiert werden (müssen), eine Zunahme regional hergestellter (synthetischer und natürlicher) Drogen einschließlich der sog. Legal Highs, die in Form von cannabisähnlichem Rauchmaterial, von amphetaminartigen Badesalzen und von herbal ecstasy zirkulieren. Am 27. Mai 2014 kommt der Europäische Drogenbericht 2014. Wird der Trend, dass der Drogenmarkt heute „komplexer und dynamischer" ist und „sich strukturell nicht mehr so stark an pflanzlichen Stoffen orientiert, die über weite Strecken zu den europäischen Abnehmern transportiert werden", weiter fortsetzen? - Ja. Die Triebkräfte der Veränderung, die Globalisierung und das Internet gibt es ja weiterhin, ebenso wie die immer verfeinerten Überwachungsmethoden gegenüber dem internationalen Drogenhandel. Die von der EU-Kommission eingebrachte Kausalhypothese, dass der Konsumrückgang bei Heroin, Kokain und Cannabis und der Rückgang drogenbedingter HIV-Infektionen auf "robuste Drogenmaßnahmen und ein Rekordniveau von Behandlungsangeboten" (EU-Kommissarin) zurückgeht, steht auf schwachen Füßen. Was jedoch stimmt, ist: dass ein Viertel der erwachsenen Europäer, das sind 85 Millionen Menschen, illegale Drogen konsumiert haben und dass sich der Drogenkonsum in Europa auf einem historisch hohen Stand befindet. Es gibt einen zunehmend komplexen Stimulanzienmarkt mit immer neuen Drogen. Allein im Jahr 2012 wurden mehr als 70 neue Drogen nachgewiesen. Ähnliches findet sich auch auf dem Markt der Nahrungsergänzungsmittel (enhancement) wie überhaupt bei den Lifestyle-Produkten und auf dem gesamten Konsumgütermarkt, nicht zuletzt auch auf dem Lebensmittelmarkt. Wie viele neue Joghurtsorten gab es denn im Jahr 2012, wie viel neue Bio-Spezialitäten? Denken Sie allein an den Boom der Bio-Weine.
  • Spanien, Holland und Belgien haben ihren Weg gefunden. In Spanien gibt es die sog. Cannabis social clubs, in Holland die Coffee Shops, in Belgien auch eine Annäherung an den holländischen Weg. Welches Modell könnte auf Deutschland passen? - In erster Linie Cannabis Klubs (und Cannabis-Samen in Automaten), in zweiter Linie Coffee shops mit leichten Cannabis-Produkten und legal highs, in dritter Linie eine Apothekenlösung für andere heute noch illegale Freizeitdrogen.
  • Wo ist innerhalb der Vielfalt europäischer Ansätze die deutsche Drogenpolitik anzusiedeln? - Deutschland hat immer uninformierte Drogenbeauftragte gehabt. Und meistens eine Bremserfunktion in Europa ausgeübt - gewissermaßen als Vertreter der USA in der EU. Andererseits auch eine Moderatorenrolle zwischen Skandinavien und den anderen Ländern. Am besten war noch das Heroin-Experiment in Hamburg. Wenn Deutschland eine Führungsrolle bei der Entideologisierung übernehmen könnte, wäre ein großer Schritt in die richtige Richtung getan. Was ist die richtige Richtung: eine Drogenpolitik in Richtung auf Konsistenz mit Verfassung und Gesundheitspolitik. Politik sollte verfassungsmäßig sein, effektiv und vernünftig.
  • Sind die konservativen Parteien die großen Bremser? - Die Konservativen sind sicherlich ein großer Hemmschuh. Es wäre sehr wichtig, sie für eine Reform zu gewinnen. Vielleicht müssten sie sogar voran gehen - wegen der Familienwerte, auch wegen der Bürgerfreiheit. Allerdings ist die Freiheit in Deutschland nicht so hoch geschätzt wie anderswo. In Deutschland herrschen Sicherheitsdenken, ein naiver Glaube an die Effektivität des Strafrechts und eine Art magisch-symbolischen Politikverständnisses. Jetzt, wo über 100 Strafrechtsprofessoren eine Enquête zur Reform der Drogenpolitik fordern, ist das große Problem: die Abwesenheit eines institutionellen Umsetzers.
  • Wo liegen die hauptsächlichen Widerstände in Deutschland? - Die Legalisierung wird vom Volk nicht getragen, von den Konsumenten der illegalisierten Drogen auch nur halbherzig, von den illegalen Händlern schon gar nicht, von den Parteien nicht. Es ist zum Auswachsen.
  • Warum ist das Ausbleiben der Legalisierung denn so schlimm? - Natürlich kann Deutschland weiter mit der Prohibition leben. So wie es 1000 Jahre lang mit der Kriminalisierung der Homosexualität gelebt hat. Aber die Verweigerung von Freiheitsrechten für eine Gruppe der Gesellschaft ist erstens eine Menschenrechtsverletzung gegenüber dieser Gruppe - und zweitens prägt so etwas die gesamte Gesellschaft, macht sie zu Komplizen der Unterdrückung oder zu Wegguckern oder zu frustrierten Bürgern. All das färbt auf die Lebensqualität der Gesamtgesellschaft ab. Die Leute werden an Unfreiheit, Trickserei, Heuchelei und Untertanentum gewöhnt. Und das ist nicht einmal ökonomisch irrelevant: es entgehen Drogengeschäftsgewinne und Steuern.
  • Hat der medizinische Gebrauch von Cannabis Fortschritte gemacht? - Seit 2011 in Deutschland in begründeten Ausnahmefällen möglich. Etwa 150 Patienten. Schwerkranke Patienten, denen Cannabis-Medikamente helfen, stoßen in Deutschland aber immer noch auf hohe gesetzliche Hürden - anders als in Israel, Canada, den Niederlanden, Tschechien und 18 Bundesstaaten der USA. Zahlreiche klinische Studien im Ausland haben die Wirksamkeit von Cannabis-Medikamenten für vier Probleme nachgewiesen (MS: krampflösend; lindernde bei schmerzhaften Nervenschädigungen, appetitanregende und entzündungshemmend bei HIV- und Krebspatienten; gut darüber hinaus bei diversen Beschwerden wie Übelkeit und Erbrechen.
  • Führt der Weg zur Legalisierung über medical marihuana? - Medical marihuana kann ein Mittel gegen die Dämonisierung der Droge sein. Das wiederum kann es erleichtern, mit Menschen überhaupt in eine Diskussion über die Regulierung dieser Drogen einzutreten. Die USA sind da womöglich sogar einmal ein gutes Beispiel.
  • Der Weg nach Henner Hess: Henner Hess: Legalización de todas las drogas hoy ilícitas

a favor de una regulación del tipo "tabaco" (paternalismo blando) significando: influencia sobre el comportamiento y sobre la salud pública através de métodos que respectan el derecho del indivíduo al consumo, per que advierten y de-estimulan através del precio y de disuasión (campañas preventivas e apoyo positivo y non-represivo y non-discriminatorio para cesar de fumar) sin derecho penal y sin terapias en institucionnes casi-punitivas (totales o penitenciarias).

Literatur und Weblinks

  • Husak, Drugs and Rights (2001)
  • Kettner, Matthias, Hg. (2009) Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienste von Selbstverwirklichung und Lebensplanung. Frankfurt/New York: Campus
  • Nestler, Cornelius (1998) Betäubungsmittelstrafrecht. Bürgerautonomie und Drogenkontrolle durch Strafrecht. München: Beck (Sonderdruck aus: Arthur Kreuzer, Hg. (1998) Handbuch des Betäubungsmittelstrafrechts.