Kriminologie des Lebens und des Todes

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Das Leben als höchstes Gut

Das menschliche Leben ist das höchste Rechtsgut in vielen Rechtsordnungen. Deutsche und österreichische Lehrbücher erklären unisono, dass es umfassend geschützt ist. Der zivilrechtliche Status beginnt mit der Vollendung des Geburtsvorgangs. Der strafrechtliche Schutz fängt schon beim Beginn der Geburtswehen bzw. bei der Öffnung der Bauchdecke an. (Der Fötus ist werdendes Leben und wird anders und weniger stark geschützt). Wie ernst es das Recht mit dem Schutz des Lebens meint, wird in Deutschland an der Vorschrift deutlich, die die Beendigung fremden Lebens auch dann noch bestraft, wenn derjenige, der getötet wurde, ausdrücklich und ernstlich darum gebeten, ja, es als einen letzten Dienst verlangt hatte (§ 216 StGB:(1) Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist auf Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren zu erkennen).

Die Rechtsordnung ist jedenfalls prima facie weitgehend deckungsgleich mit philosophischen, weltanschaulichen und religiösen Lehren - man denke an den Dekalog des Christentums, an die brahmanistische Lehre der Ahimsa (Nicht-Verletzen), an die Mitleidsethik Arthur Schopenhauers oder Albert Schweitzers Lehre von der Ehrfurcht vor dem Leben.

Vorsätzliche Tötung: die drei guten Nachrichten

Dem Schutz des Lebens als eines hohen Wertes entspricht die Strafhöhe für dessen Verletzung: für vorsätzliche Tötungen aller Art drohen hohe und Höchststrafen, manchmal - nahezu paradoxerweise - die Todesstrafe. (Zwei-Drittel, Zwei-Drittel).

Was die Frequenz vorsätzlicher Tötungen angeht, so gibt es drei gute Nachrichten.

(1) Das Risiko, aufgrund von Gewalteinwirkung zu sterben, ist heute um ein Vielfaches geringer als vor 100 Jahren, vor 500 Jahren, vor 1000 Jahren und vor 10 000 Jahren. Insofern leben wir in der besten Phase der Geschichte der Menschheit.

Ein erster Befriedungsschub verdankte sich vor 5000 Jahren der Entstehung von Hochkulturen. Damals ging die Rate der Homizide um etwa vier Fünftel zurück. Der Aufbau von Verwaltungsstrukturen im 13. und 14. Jahrhundert führte zu einem erneuten und dramatischen Rückgang auf jährlich vielleicht noch 30 bis 40 Personen pro 100 000 Einwohner. Der dritte Humanisierungsschub kam mit dem Niedergang zahlreicher Gewaltpraktiken von der Gewaltherrschaft bis zur Folter im Zuge von Aufklärung und Urbanisierung (Eisner 1997). - Die Gewaltexzesse des 20. Jahrhunderts mit ihren vielleicht 180 Millionen Toten (White 2011) änderten nichts an der langfristigen Abnahme des Homizids. Selbst wenn dadurch der Durchschnitt stiege, läge dieser Anteil immer noch deutlich unter dem aller früheren Epochen (Pinker 2011).

(2) Die zweite gute Nachricht ist die Konsequenz aus der beschriebenen Entwicklung: Mord und Totschlag spielen unter den Todesursachen insgesamt heutzutage keine dominierende Rolle mehr. Das war nicht immer so.

Heutige Lage, was das Leben und das Sterben angeht: Weltbevölkerung 7,5 Milliarden. Jährliche Zunahme 83 Millionen. Jährliche Geburten 140 Millionen, und Todesfälle 57 Millionen.

Von den 57 Millionen Todesfällen gehen rund zwei Drittel auf das Konto von Herz- Kreislauferkrankungen, Krebs und Infektions- und parasitären Krankheiten. Alleine 28 von 57 Mio. gehen auf Herz und Krebs. Infektionskrankheiten töten im 20. Jahrhundert rund 1,6 Milliarden Menschen.

Verglichen damit sind Kriege vergleichsweise klein: für die gesamte belegte Geschichte der Menschheit mit ihren geschätzten 14 000 Kriegen kommen die plausibelsten Annahmen auf einen Wert von unter einer Milliarde Menschenleben.

Heutzutage fallen Kriege und Kriminalität zusammen mit ihren 0,3 und 0,98 % Anteilen an allen Todesfällen nicht so stark ins Gewicht wie die Suizide mit ihren 1,53.

Mit 2,84 % kommen alle intentional injuries - suicide, violence, war - ...

Homizide sind ein qualitatives Problem, kein quantitatives. Verglichen mit den jährlich 37 Millionen Toten aufgrund von Herz-Kreislauf-Krankheiten, Krebs und Infektionskrankheiten fallen die 500 000 Toten aufgrund von Homizid quantitativ kaum mehr ins Gewicht. Selbst wenn man Homizide und Kriegstote addiert, kommt man nicht auf die Zahl der Suizid-Fälle. Krieg und Kriminalität rangieren also sogar zusammengenommen noch hinter dem Suizid als Todesursache.

(3) Eine dritte gute Nachricht betrifft die Kriegstoten: die Herausbildung eines von nur einer Supermacht dominierten globalen Imperiums lässt keinen Raum mehr für blutige Kriege à la 20. Jahrhundert mit 10, 20 oder 50 Millionen Toten. Dazu kommt die Entwicklung von Lethal Automatic Weapons, Distanzwaffen, die kein Risiko für die eigene Seite mehr darstellen, und die Entwicklung von Killer-Drohnen, die ihre Ziele präzise eliminieren, ohne dass es zu unüberschaubaren Kollateralschäden in der Zivilbevölkerung kommt. Nach plausiblen Vorhersagen werden klassische Staatenkriege aussterben und durch eine Art globaler Verbrechensbekämpfung - und Terrorismusbekämpfung - ersetzt werden, die das Risiko der Tötung durch kriegerische Gewalt noch weiter senken wird.


Die Dialektik der Empörung

In den kulturellen Zentren der Metropolen wird immer häufiger die Inkonsequenz und die Borniertheit des Lebensschutzes skandalisiert. Dabei geht es um die Legalität des Tötens im Kriege (Eser, Hankel), über Hiroshima und Nagasaki, aber auch um das Sterbenlassen (Irak-Sanktionsregime) und die Apathie gegenüber blutigen Massakern an der Peripherie (Ost-Kongo) - die Tendenz zur Inklusion macht sich aber auch am Great Apes Project und an der Tierrechtsdebatte fest. Das gilt vor allem - aber keineswegs in allen Lehren und Religionen auch ausschließlich - für das menschliche Leben. Insbesondere der Jainismus bezieht auch Tiere und Pflanzen mit ein. Zu denken ist auch an das Great Ape Project (Peter Singer) oder an neuere tierrechtliche Positionen (Kymlicka & Donaldson). Skandalisiert wird also nicht nur der gedankenlose Umgang mit menschlichem Leben, sondern auch das Töten von Tieren, insbesondere die Massentierhaltung zum Zwecke der Schlachtung in industriellen Tötungsanlagen.

Einerseits sind das gegenläufige Entwicklungen: das Tötungsrisiko für Tiere steigt zur Zeit ins Unermeßliche, während das der Menschen immer weiter zu sinken scheint. Andererseits kann man die Tatsache, dass diese Bewegungen existieren, als Indiz für eine Tendenz zur immer weiteren Inklusion nehmen (Hess). Als Indiz für einen weiteren Schritt der Zivilisierung als Anfang einer Bewegung, die vielleicht einmal mit Bürgerrechten für Tiere und mit der Umdressierung von Raubtieren zu Pflanzenfressern enden könnte (Pearce 2009).


Die schlechte Nachricht

Die Randgebiete des Imperiums: dort

Grundstrukturen der Gesellschaft: Konkurrierende Ordnungsformen der Gewalt (Trutz v. Trotha) Aus europäischer Perspektive ist die Gewalt-Begrenzung durch den Staat "normal". Doch solche konstitutionell-wohlfahrtsstaatlichen Ordnungen der Gewalt sind erstens nicht überall der Normalfall und zweitens ist auch die westliche Normalität in Bewegung in Richtung auf eine oligopolistisch-präventive Sicherheitsordnung, in der sich begüterte Akteure im Austausch gegen Geld und Freiheiten (wie z.B. das informationelle Selbstbestimmungsrecht) Schutz erkaufen können. --Zu den konkurrierenden Gewaltordnungen mit jeweils unterschiedlichen Graden der Gewaltoffenheit und Entwicklungsmöglichkeiten für Gewaltmärkte gehören (a) die neo-despotische Ordnungsform (agrarische Gesellschaften, offene Gewalt gehört zum Alltag, Typ Somalia), (b) die parastaatliche Ordnungsform (Lateinamerika) mit ihrer starken Betonung von Militär und Polizei und selbständig agierenden Milizen und (c) die post-akephal-konstitutionelle Ordnungsform (Papua Neuguinea).


Makrosoziale Ursachen für die besondere Stellung der USA in Bezug auf Homizide. Randolph Roth (2009) charts changes in the character and incidence of homicide in the U.S. from colonial times to the present. Roth argues that the United States is distinctive in its level of violence among unrelated adults friends, acquaintances, and strangers. America was extraordinarily homicidal in the mid-seventeenth century, but it became relatively non-homicidal by the mid-eighteenth century, even in the slave South; and by the early nineteenth century, rates in the North and the mountain South were extremely low. But the homicide rate rose substantially among unrelated adults in the slave South after the American Revolution; and it skyrocketed across the United States from the late 1840s through the mid-1870s, while rates in most other Western nations held steady or fell. That surge—and all subsequent increases in the homicide rate—correlated closely with four distinct phenomena: political instability; a loss of government legitimacy; a loss of fellow-feeling among members of society caused by racial, religious, or political antagonism; and a loss of faith in the social hierarchy. Those four factors, Roth argues, best explain why homicide rates have gone up and down in the United States and in other Western nations over the past four centuries, and why the United States is today the most homicidal affluent nation. informative reviews. werden Rohstoffe extrahiert und Probleme externalisiert (die Externalisierungsgesellschaft: Stephan Lessenich).

Dort werden keine starken Staaten erlaubt. Dauernder Staatszerfall. Erosion. Konkurrierende Ordnungsformen der Gewalt. Milizen. Banden. Interventionen. Hohe Homizidraten. Mittelamerika.

Das Leben Randständiger ist nichts wert.

Kein Rechtsstaat, sondern Gewalt-Akteure auf Gewalt-Märkten in Gewalt-Kulturen.

Feindstrafrecht

Gar kein Strafrecht. Extrajudicial killings.

Die Strafgesetze verbieten aber nicht alles Töten. Sie ziehen eine komplexe Grenze zwischen Erlaubtem und Verbotenem, die ein realistischeres Bild vom Umfang der Heiligkeit des Lebens erkennen lässt.

Erlaubt ist das Töten von Pflanzen. Ihr Leben ist nicht heilig und nur in Ausnahmefällen geschützt. https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/pflanzen/pflanzen-schuetzen/blumen-pfluecken.html

Erlaubt ist das Töten von Tieren, sofern es einen vernünftigen Grund dafür gibt. Ein vernünftiger Grund ist die Ernährung der Bevölkerung. Das führte in den letzten Jahrzehnten zur Industrialisierung der Tierhaltung und der Tier-Tötung.

Erlaubt ist das Töten von Menschen in Notwehr, Nothilfe und im Krieg - in gewissem Ausmaß auch von Zivilisten. Wenn es denn einen vernünftigen Grund gibt. Hiroshima und Nagasaki.

Erlaubt ist das Töten von Menschen auch auf sonstiger gesetzlicher Grundlage: polizeilicher Todesschuss, Hinrichtung.

Faktisch schrumpft die Heiligkeit des Lebens damit auf den Privatbereich. Der Mensch soll andere Menschen nicht aus privater Initiative und aus privaten Gründen töten. Er soll das Wohl der Gruppe über die eigenen egoistischen Interessen stellen. Das ist der Prozess der Zivilisation: Impulskontrolle.

Der Mensch ist ein aggressives Lebewesen, das sich als Spezies nicht aufgrund der Heiligkeit des Lebens, sondern aufgrund seiner Fähigkeit zur Tötung von Artgenossen zwecks Herrschaft über immer größere Kollektive hat hocharbeiten können.

Dieser Prozess verlangt vom Individuum, seine Impulse zu kontrollieren und sich diszipliniert der Herrschaft zu unterwerfen - vor allem auch, diszipliniert die Befehle zum Töten auszuführen, ob ihm das schwer fällt oder nicht.

Das wusste man zur Zeit der 10 Gebote übrigens auch schon. Richtig übersetzt würde das 5. Gebot auch heißen: Du sollst nicht (privat) morden.

Um auf Befehl (legal) zu töten, bedarf es der Überwindung der Tötungshemmungen. Tötologie. Hier gibt es große Fortschritte. Dave Grossman.

Da spielen das Verhältnis zur Autorität, zur Peer-Group und zur öffentlichen Meinung die zentrale Rolle. Drill und Moral. Die Moral konfiguriert in der Vorstellung des Tötenden die Situation des Fat-Man-Problems. Ich muss eine inhärent schlechte Tat ausführen, um zu einem ethisch guten Resultat zu kommen. Thomas von Aquin.


Allerdings sind die quantitativen Unterschiede zwischen Honduras (Rang 1 der Länder mit den höchsten Homizidraten mit 90,4, gefolgt auf Platz 2 von Venezuela mit 53,7, bzw. Brasilien mit 29,0 und Kolumbien mit 25,0) und der Schweiz (Platz 11 der Länder mit den niedrigsten Homizidraten mit 0,6) bzw. Dänemark, Deutschland und Luxemburg mit jeweils 0,8 erheblich.

In historischer Perspektive geht es der Menschheit in Bezug auf das Risiko, durch Krieg oder Kriminalität getötet zu werden, so gut wie nie.

Frage: geht das so weiter? Antwort: wohl eher eine Spaltung nach Krieg und Frieden einerseits und nach Arm und Reich andererseits.

Krieg könnte aufhören.

Frieden könnte unterschiedliche Gewalthäufigkeiten aufweisen, je nachdem, in welchem Teil der Welt und auf welcher Stufe der sozialen Leiter man sich aufhält.

Sturm Harvey vs. Stürme in Asien. The Economist September 2nd 2017: 7: Hurricane Harvey flooded parts of Houston, Texas, and kjilled at least 38 people - and occupied TV news worldwide for days on end. Simultaneous monsoon floods in Bangladesh, India, and Nepal killed more than 1,200 and left millions homeless - news that ended up practically unnoticed in comparison with Harvey. Further back: A single Bangladesh cyclone in 1970 killed 400,000 - and made no headlines outside the region.


The Killing of black youngsters in the USA vs. the killing of Rohingya in Myanmar or of civilians in East Congo.

Zukunft: im Heloten-Bereich wie im Mittelalter mit höchsten Mordraten, im Friedens-Bereich sprießen die Tierrechte und die Tierkliniken und die Ethik befasst sich zunehmend mit der Frage, ob und unter welchen Umständen nicht auch sympathische selbst-lernende Roboter eine Seele haben und ob und wann man sie überhaupt töten darf.

Wünschbar: mehr Gleichheit. Wilkinson und Pickett. Das wäre das Gesamtinteresse der Menschheit. Prinzip der Nicht-Domination und des Nicht-Verletzens ernster nehmen. Rechte ernster nehmen. Rechtsstaat einführen.