Kriminalität und soziale Normierung

Kriminalität! Nach landläufigem Verständnis ist das die Summe von Handlungen, die trotz (gelegentlich aber vielleicht auch wegen) einer vom Gesetz angedrohten Bestrafung ausgeführt wurden. Wer einen anderen tötet, obwohl (oder weil) das Gesetz es verbietet, begeht wohlgemerkt noch keine Kriminalität, sondern erst einmal eine Straftat. Erst aus der Addition aller Straftaten (eines bestimmten Typs) entsteht Kriminalität: die Delikte gegen das Leben ergeben die Tötungskriminalität, die gegen das Vermögen die Vermögenskriminalität - alle von Erwachsenen oder von Ausländern begangenen Straftaten ergeben die Erwachsenen- oder die Ausländerkriminalität, und alle in einem bestimmten Gebiet und Zeitraum begangenen Delikte ergeben die Kriminalität in diesem Gebiet und Zeitraum. Das erlaubt dann die Bildung von Quotienten und Verlaufskurven, die den sinnlichen Eindruck eines "Steigens" oder "Fallens" von Kriminalität erzeugen. Nützlich ist der Begriff der Kriminalität vor allem für den Blick "von oben" auf die Gesellschaft; er ist ein Instrument der Staatsverwaltung und der Politik - nicht zuletzt auch sehr geeignet für eine (manchmal populistische) "Politik mit der Angst". Eine lebensweltorientierte Sicht auf die hinter dem Begriff der Kriminalität verborgenen Konflikte, Schädigungen und Verletzungen käme womöglich ganz ohne das Konstrukt dieses Begriffs aus und wäre vielleicht freier und produktiver in der Suche und Praktizierung von anderen und besseren Lösungsmöglichkeiten (Stichwort: alternative Konfliktregelung).

Freunde und Förderer des Status Quo finden an Strafgesetzen meist nichts auszusetzen und betonen zudem, dass das Strafrecht nichts anderes tue, als das "ethische Minimum" zu umreißen, dessen es bedürfe, damit gesellschaftliches Zusammenleben überhaupt möglich sei. Über dieses Miminum herrsche sowieso Konsens. Es gehe nur darum, es noch einmal deutlich zu machen und die Macht des Staates bereit zu halten, um gegen Verstöße einschreiten zu können. Diese schöne Theorie beißt sich aber insofern mit der Realität, als Strafgesetze nicht selten eher quer zu den sozialen Normen im Sinne verbreiteter Wertüberzeugungen, Sitten und Gewohnheiten liegen. Sei es, dass das Gesetz die Gewohnheiten verändern, sei es, dass es Verhaltensweisen, die zu den Grundüberzeugungen eines Teils der Gesellschaft gehören, auch für alle anderen Teilen der Bevölkerung verbindlich machen will. Ob solche Gesetze dann eingehalten werden oder nicht, ist dann manchmal weniger wichtig als die Tatsache, dass es sie gibt. Auch mit sogenannter symbolischer Gesetzgebung kann man Statuspolitik betreiben, d.h. auf sexuelle, politische, ethnische oder religiös-weltanschauliche Statushierarchien in einer Gesellschaft einwirken.


obwohl (oder weil) Strafgesetze sie (oder weil sie) vom Strafgesetz verboten entsteht Kriminalität aus dem Zusammentreffen von Strafgesetzen einerseits und von Handlungen, die genau das tun, was diese Gesetze beschreiben (und damit verbieten). Die Summe solcher Kollisionen ist gleich der Summe der strafbaren Handlungen ist gleich Kriminalität. Wo es keine entsprechenden Gesetze oder keine entsprechenden Handlungen gibt, gibt es auch keine Kriminalität. Die Drogenkriminalität könnte zum Beispiel nicht nur dann aufhören zu existieren, wenn sich niemand mehr mit Drogen abgäbe, sondern auch dann, wenn Drogen entkriminalisiert würden.

Daraus folgt: Kriminalität insgesamt könnte aufhören zu existieren, wenn man sich entschlösse, ganz und gar auf das Mittel von Strafgesetzen zu verzichten. In vorstaatlichen Gesellschaften war Strafrecht unbekannt und damit gab es zwar schädliche Handlungen, die regelungsbedürftig waren, aber es gab keine Kriminalität. Denn Strafgesetzgebung ist keine originär soziale, sondern eine staatliche Veranstaltung. Strafgesetze können soziale Normen bekräftigen, sie können ihnen aber auch widersprechen. Sie müssen es aber nicht. Sie können gerecht sein - aber es gibt auch ungerecht. Sie können die Freiheit des Individuums schützen - können aber auch selbst eine Verletzung Und sie können nach moralischen und philosophischen Kriterien gerecht sein, müssen es aber nicht. Strafgesetze sind häufig auch ungerecht und noch ungerechter in ihrer Implementierung. Sie können sich gegen die Verletzung von Menschenrechten wenden, können aber auch eine Verletzung von Menschenrechten darstellen. Zum Beispiel wenn sie bestimmte sexuelle oder politische Orientierungen zum Gegenstand staatlicher Repression machen.

Von Soziologen wird gerne übersehen, dass es in der Gesellschaft auch noch weitere Definitionen von Kriminalität gibt: der Ausdruck "das ist ja kriminell" verweist auf gesellschaftliche Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, die oft genug von denen des positiven Rechts abweichen. Diese Differenzen zwischen verschiedenen Verständnissen von Kriminalität zu erforschen wäre eine lohnenswerte Aufgabe.




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