Jan Philipp Reemtsma

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Der Literaturwissenschaftler und Essayist Jan Philipp Fürchtegott Reemtsma (* 26. November 1952 in Bonn) ist ein deutscher Intellektueller und Mäzen. Er gründete die Arno-Schmidt-Stiftung, das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) sowie die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und engagierte sich für politisch Verfolgte und für die Entschädigung von Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus. Durch die sogenannte Wehrmachtsausstellung und seine Entführung wurde er allgemein bekannt (im Frühjahr 1996 hatten Thomas Drach und Komplizen den damals 43 Jahre alten Jan Philipp Reemtsma vor dessen Haus in Hamburg überwältigt, ihn viereinhalb Wochen lang angekettet in einem Keller bei Bremen festgehalten und gegen ein Rekordlösegeld von 15 Millionen Mark und 12,5 Millionen Schweizer Franken freigelassen). Die Bandbreite seines Werkes reicht von human- und sozialwissenschaftlichen Analysen der Gewalt in der Moderne bis hin zu Einzelfragen der Literatur des 18. Jahrhunderts. Reemtsma lehrt als Honorarprofessor Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg und ist Träger zahlreicher Auszeichnungen. Seit 2012 ist er als Honorarkonsul der Republik Slowenien für Hamburg und Schleswig-Holstein tätig. Seit 2013 gehört er dem Wissenschaftsrat an.

Leben

Der Sohn des wohlhabenden Unternehmers Philipp Karl Fürchtegott Reemtsma wuchs in Hamburg auf: hier ging er zur Schule (Christianeum), leistete soziale Arbeit,studierte Germanistik und Philosophie und wurde Jahre später mit seiner Dissertation über Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“ zum Dr. phil. promoviert.

Parallel zu seinen akademischen Studien nahm er schon früh Funktionen im Familienunternehmen wahr - darunter im Aufsichtsrat einer Brauerei. 1979 veräußerte er seine Unternehmensanteile für einen dreistelligen Millionenbetrag und widmete sich fortan ganz seinen wissenschaftlichen Werken und gesellschaftspolitischen Initiativen, zu denen neben Interventionen in aktuelle Diskussionen auch die großzügige finanzielle Unterstützung zahlreicher Personen und Initiativen gehört. Der Beginn seiner philanthropischen Aktivitäten wird auf das Jahr 1977 datiert. Damals überreichte er dem Schriftsteller Arno Schmidt einen Scheck in Höhe des damalisgen Nobelpreises für Literatur (375.000,00 DM).

Mit der Gründung mehrerer Stiftungen schuf Reemtsma in den 1980er Jahren das institutionelle Fundament für seine umfangreichen Vorhaben.

1995 präsentierte das Hamburger Institut für Sozialforschung im Rahmen verschiedener Aktivitäten zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944". Diese sog. Wehrmachtsausstellung thematisierte Streitkräfte, Soldaten, Verbrechen und Krieg im NS-Staat und wurde in einer auf eine breite öffentliche Debatte folgenden Neukonzeption bis 2002 gezeigt.

Am 25. März 1996 wurde Reemtsma entführt und bis zu seiner nach Zahlung eines Lösegeldes erfolgten Freilassung am 26. April im Keller eines Hauses in Garlstedt in der Nähe von Bremen gefangen gehalten. 1997 veröffentlichte er seine Entführungserfahrungen mit dem Buch Im Keller. Mit mehreren wissenschaftlichen Fachbeiträgen beeinflusste er in der Folgezeit auch fachwissenschaftliche Diskurse über Viktimisierung, Traumatisierung und die rechtliche und gesellschaftliche Stellung von Verbrechensopfern.

Nach dem 11. September 2001 nahm er wiederholt Stellung zu Fragen des internationalen Terrorismus. Sein 2008 erschienenes (und in den Folgejahren ebenfalls in mehrere Sprachen übersetztes) Buch Vertrauen und Gewalt wird vielfach als eine Art (Zwischen-)Bilanz seiner Analysen zur Gewaltproblematik angesehen.

Am 28. Februar 2012 erhielt er die Ernennungsurkunde (Bestallung) zum Honorarkonsul der Republik Slowenien für Hamburg und Schleswig-Holstein.

Jan Philipp Reemtsma ist verheiratet und hat einen Sohn.

Werk

Intellektueller

Die Schwerpunkte von Reemtsmas Werk liegen in der Literatur des 18. und 20. Jahrhunderts, der Zivilisationstheorie und der Geschichte der menschlichen Destruktivität. Sein Buch über Vertrauen und Gewalt bietet nicht zuletzt eine Synthese früherer Erfahrungen und Analysen, die er zum Teil in Büchern Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei (1998), Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem (1999), Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit (mit Winfried Hassemer) (2002), Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod (2003) oder Folter im Rechtsstaat? (2005), zum großen Teil aber auch in Aufsätzen, Reden und Interviews über Gewalt im 20. Jahrhundert veröffentlicht hatte.

Das Rätsel der Gewalt in der Moderne besteht Reemtsma zufolge nicht nur darin, wie es trotz Aufklärung und trotz des Befriedungsversprechens des staatlichen Gewaltmonopols zu katastrophalen Brüchen im Zivilisationsprozess kommen, sondern auch darin, wie gleichwohl das Vertrauen in der (und in die) Moderne weiterhin bestehen bleiben konnte. Auf dem Weg zur Beantwortung dieser Hauptfrage entwickelt er theoretische Erklärungsansätze für die Entstehung und (Fehl-) Interpretation der Gewalt in der Moderne sowie eigenständige Interpretationen von Werken der europäischen Literatur.

In diesem Kontext stand auch die am 3. März 1995 auf dem Kampnagelgelände in Hamburg eröffnete Wehrmachtsausstellung, die viel Beachtung fand, Kontroversen generierte und im Laufe eines Jahrzehnts den bis dahin weitgehend beschönigenden Diskurs über die Rolle der Streitkräfte im Nationalsozialismus veränderte. Darüber hinaus rückte sie auch die Tatsache in das Licht der Öffentlichkeit, dass der Nationalsozialismus wesentlich auf die Führung eines (alle Kriegsregeln außer Acht lassenden) Vernichtungskriegs angewiesen war, es sich bei den Verbrechen der Wehrmacht also nicht um Exzesse oder einen Betriebsunfall der Geschichte gehandelt haben konnte.

Durch Bücher wie Im Keller (1997) und Vertrauen und Gewalt (2008) - die beide in mehrere Sprachen übersetzt wurden - ebenso wie durch seine Beiträge zur rechtsphilosophischen und kriminalpolitischen Diskussion um die Stellung von Verbrechensopfern, zur Traumatisierung, zum Terrorismus und zur Funktionsweise staatlicher Terrorsysteme wurde Reemtsma zu einem öffentlichen Intellektuellen von nationaler Bedeutung.

Bekannt wurden vor allem die beiden von ihm geprägten Begriffe der autotelischen Gewalt (2008: 116 ff.) und der Terroratio (2008: 405 ff.). Beide stellen gängige sozial- und geschichtswissenschaftliche Annahmen über die Rationalität menschlichen Verhaltens in Frage.

  • In seiner Phänomenologie der körperlichen Gewalt unterscheidet Reemtsma drei Typen: die lozierende (d.h. den Ort des Körpers im Raum bestimmende, u.a. auch an einem Ort festhaltende), die raptive (sich bemächtigende, haben-wollende, heranziehende) und die autotelische Gewalt. Die Besonderheit der letzteren liegt darin, dass sie keinen Zweck außerhalb ihrer selbst verfolgt: ihr Sinn liegt für den Akteur im Erlebnis ihrer Ausführung selbst. Da es dem instrumentellen Denken der westlichen Zivilisation schwerfällt, sich Möglichkeiten der Existenz und vor allem des Umgangs mit solch einem Phänomen vorzustellen, tendiert es dazu, es in einem instrumentellen Sinne umzudeuten, sie also z.B. als politisch motiviert und damit kommunikativ irgendwie beeinflussbar zu interpretieren. Für Reemtsma ist dies ein gravierender blinder Fleck im Gewalt- und im Terrorismus-Diskurs der Moderne.
  • Die Logik terroristischen Handelns lässt sich nach Reemtsma auf individueller Ebene beschreiben (wo es die herkömmlichen Fragen nach dem Tätermotiv und nach der Rationalität der Zweck-Mittel-Relation zu transzendieren gilt, weil hier "Motiv" und "Verhalten" in der affektiven Befriedigung durch Zerstörung uno actu zu denken sein können), aber auch auf der staatlich-systemischen Ebene (wo die Rationalität irrationaler Handlungen im Sinne einer Erhöhung der herrschaftsstabilisierenden 'Unberechenbarkeit' erkennbar wird) und schließlich auf einer 'epochenübergreifenden' Ebene (wo deutlich wird, in welcher Weise grundlose Verfolgungen von bestimmten Gruppen entstehen und sich fortsetzen können).

Mäzen

Reemtsma engagiert sich seit dem Tod des Schriftstellers im Jahre 1979 für die Wahrung und Verbreitung des literarischen Erbes von Arno Schmidt. Er gründete die Arno-Schmidt-Stiftung, wurde deren alleiniger Vorstand und ist Mitherausgeber der Bargfelder Ausgabe von Schmidts Gesamtwerk.

Sein Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) verfügt über eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift namens Mittelweg 36 und einen Verlag namens Hamburger Edition.

Wesentliche Unterstützung leistet er auch für die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.

Über die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur ermöglichte er unter anderem die Gründung des Adorno-Archivs sowie die Erstellung von Werkausgaben von Theodor W. Adorno, Jean Améry, Walter Benjamin und Christoph Martin Wieland. Auch war Reemtsma maßgeblich an der Wiederherstellung des (einst Christoph Martin Wieland gehörenden und später völlig vernachlässigten) Gutes Oßmannstedt bei Weimar beteiligt. Dieser symbolische Ort für die deutsche Spätaufklärung (Reemtsma) wurde 2005 als Museum und Forschungsstätte neu eröffnet. - Von 1988 bis 2006 gehörte er dem Kuratorium der Kulturstiftung der Länder an.

Auszeichnungen

  • 1985 Verleihung der Wieland-Medaille der Stadt Biberach an der Riss
  • 1996 Verleihung der akademischen Bezeichnung "Professor" durch die Universität Hamburg
  • 1997 Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg
  • 1999 Ehrendoktor der Universität Konstanz (Fachbereich Geschichte und Soziologie)
  • 1999 Mercator-Professur in Duisburg (Wintersemester 1999/2000)
  • 2001 Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen
  • 2002 Leibniz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
  • 2003 Heinz-Galinski-Preis der Heinz-Galinski-Stiftung
  • 2005 Julius-Campe-Preis der Kritik
  • 2007 Ehrendoktor der Universität Magdeburg
  • 2007 Teddy Kollek Prize der Jerusalem Foundation
  • 2008 Ferdinand-Tönnies-Medaille der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
  • 2008 Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur in Mainz (Sommersemester)
  • 2008 Ehrenbürger der Gemeinde Oßmannstedt wo Christoph Martin Wieland von 1798–1803 lebte)
  • 2009 Schiller-Professur in Jena (Sommersemester 2009)
  • 2010 Preis für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main
  • 2010 Schillerpreis der Stadt Mannheim
  • 2011 Schader-Preis


2001 hielt Reemtsma die Laudatio auf Jürgen Habermas (bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels), 2003 auf Alexander Kluge (bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises).

Veröffentlichungen

Bücher

  • „Wu Hi?“. Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Herausgegeben von Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach. Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, Zürich 1986 (Fischer-Taschenbuch: 2002) ISBN 3-251-00029-2.
  • Das Hexameron von Harwich - Ein britisches Fragment. CMZ-Verlag, Rheinbach-Merzbach 1992, ISBN 3-87062-040-4
  • Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Haffmans, Zürich 1993
  • Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali. Klett-Cotta, Stuttgart 1995
  • Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall. 10 Reden und Aufsätze. Haffmans, Zürich 1995
  • Im Keller. Hamburger Edition HIS, Hamburg 1997, ISBN 3-930908-29-8
  • Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Aufsätze und Reden. Hamburger Edition HIS, Hamburg 1998, ISBN 3-930908-34-4
  • Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Haffmans, Zürich 1999
  • Das Recht des Opfers auf die Bestrafung des Täters - als Problem. C.H. Beck, München 1999.
  • Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert. Hörbilder. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, ISBN 3-608-93230-5
  • „Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen. Reden und Aufsätze. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47398-9
  • Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit (mit Winfried Hassemer). Beck, München 2002, ISBN 3-406-49565-6
  • Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Reclam (UB 18192), Stuttgart 2002, ISBN 3-15-018192-5
  • Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod. Beck, München 2003, ISBN 3-406-49427-7
  • Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53724-3
  • Folter im Rechtsstaat? Hamburger Edition HIS, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-55-4
  • Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF (mit Wolfgang Kraushaar und Karin Wieland). Hamburger Edition HIS, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-54-6
  • Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-518-41762-1
  • Gebt der Erinnerung Namen. Zwei Reden (mit Saul Friedländer). Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-42108-2
  • Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburger Edition HIS, Hamburg 2008, ISBN 978-3-936096-89-7
  • Erneuerung der Kritik. Axel Honneth im Gespräch. Herausgegeben von Mauro Basaure, Jan Philipp Reemtsma und Rasmus Willig. Campus, Frankfurt a.M. (u.a.) 2009, ISBN 978-3-593388-59-5
  • Für weitere Veröffentlichungen vgl. die Liste der Schriften und Auszeichnungen Jan Philipp Reemtsmas in: Ulrich Bielefeld, Heinz Bude, Bernd Greiner, Hg. (2013) Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburg: Hamburger Edition, S. 646 ff.


Reden und Aufsätze

Weblinks