Israel-Türkei

Vorgeschichte

1402 erlaubte Sultan Bayezid II. die Ansiedlung vor der spanischen Reconquista geflohener sephardischer Juden. Während des Dritten Reiches kam die Türkei der Forderung der Nationalsozialisten nach einer Deportation der Juden nicht nach und wurde stattdessen zu einem Zufluchtsort für Tausende europäischer Juden und zum Fluchtweg nach Palästina.

Strategische Allianz

Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Türkei einer der ersten Staaten, die Israel anerkannten und bildete zusammen mit Israel den USA eine strategische Allianz, die sich in militärischer und regionaler außenpolitischer Kooperation manifestierte und seitens der Türkei so lange gut funktionierte, wie dort die kemalistischen Militärs direkt oder indirekt an der Macht waren. [1].

Mit dem Bedeutungsverlust der Militärs im Zuge des Aufstiegs der AKP (Erdogan) einerseits und dem Rechtsruck der israelischen Politik andererseits entfremdeten sich die Regierungen der beiden Staaten.

Entfremdung

Israelische Sicht

Als Präsident Recep Erdogan die Palästinenser-Politik Israels als Staatsterrorismus bezeichnete, wurden die Beziehungen belastet. (...) Nachdem Erdoğan Israel bzw. den israelischen Präsidenten Schimon Peres 2009 beim Weltwirtschaftsforum in Davos öffentlich Kriegsverbrechen im Gazakrieg vorwarf, folgte im Oktober 2009 die Absage an Israel, an der seit 2000 stattfindenden internationalen NATO-Militärübung teilnehmen zu dürfen, woraufhin auch die USA ihre Teilnahme zurückzogen.[2].

Nach dem Ship-to-Gaza-Zwischenfall haben sich die Beziehungen zu Israel weiter verschlechtert. Am 22. März 2013 entschuldigte sich der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu bei dem türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan für den Ship-to-Gaza-Zwischenfall. Die Beziehungen zwischen Israel und Türkei seien jetzt entspannt.[3].

Der ehemalige Botschafter Israels in den USA, Danny Ayalon, sah im Sommer 2015 die Anlässe für die Entfremdung in zwei Affronts der türkischen Regierung:

Trotz des schlechten Wahlergebnisses für die Partei des amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der AKP, am vorigen Sonntag, wird sich das bilaterale Verhältnis nach Meinung Ayalons nicht unmittelbar reparieren lassen. „Bereits 2009 kam es zu einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Israel und der Türkei, als Erdoğan eine Sitzung, in der er mit dem israelischen Präsidenten Schimon Peres die Operation Gegossenes Blei diskutieren sollte, plötzlich verließ“, erklärte Ayalon. „Und verschlechterte sich weiter, als die Türkei der Gaza Flotilla die Überfahrt von der Türkei aus erlaubte.“ Analysten prognostizieren, dass Erdoğan Gefahr läuft, seine Macht zu verlieren, nachdem seine Partei am Wahlsonntag nur 40 Prozent der Stimmen erhalten, und die AKP erstmalig die absolute Mehrheit verloren hatte. Der Premierminister der AKP, Ahmet Davutoglu, hat nun 45 Tage Zeit eine regierungsbildende Koalition zu formen. Die bisherigen Oppositionsparteien signalisieren bisher kein Interesse an einer Koalitionsbildung mit der AKP. „Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob sich die türkisch-israelischen Beziehungen bald verbessern werden“, so Ayalon weiter. „Wir müssen abwarten und sehen, wer die Koalition bildet und den Außenminister stellt. Sollte das Erdoğan sein, denke ich, dass wir weiterhin vor allem Feindseligkeiten von ihm zu erwarten haben.“


Türkische Sicht

Weblinks und Literatur

Nach Jahren politischer Abstinenz hatte das Militär wieder einmal seinen Einfluss geltend gemacht, indem es sich der Direktive Davutoğlus, der einen schriftlichen Befehl erlassen hatte, schlicht verweigert hatte. Die Militärs wurden dabei von Diplomaten des türkischen Außenministeriums unterstützt, die darauf hinwiesen, dass die Türkei sich durch ein Vorgehen gegen die Kurden besonders im Westen noch weiter isolieren werde.8 Eine Rolle spielte auch, dass die Regierung keine schlüssigen Antworten geben konnte, wie die Türkei auf eine mögliche Bedrohung der inneren Sicherheit durch den IS sowie auf mögliche Reaktionen des Regimes von Baschar al-Assad und seines russischen Verbündeten antworten solle.

Ausschlaggebend für den Einspruch des Militärs waren jedoch zwei andere Überlegungen, auf die in den Medien verwiesen wurde, ohne dass eine Quelle namentlich zitiert wurde. Zum einen hatten die Generäle etwas dagegen, dass eine nur noch kommissarisch tätige Regierung ohne Mehrheit im Parlament – zudem im Rahmen einer total verfahrenen Politik – ihre Soldaten in den Krieg schickt. Denn in der Türkei steht nur noch die AKP hinter der Syrienpolitik von Erdoğan und Davutoğlu, die nach wie vor auf den Sturz Assads setzen, auf den Sieg salafistischer Milizen hoffen und weiterhin behaupten, dass man diese radikalen sunnitischen Organisationen nach einem Sieg über Assad von Ankara aus beeinflussen und lenken könne.

Kurden und andere Minderheiten

Egal mit welcher Partei der aktuelle Regierungschef Davutoğlu am Ende eine Koalition eingehen wird, mit keiner wird er die offene und verdeckte Unterstützung salafistischer und dschihadistischer Gruppen fortsetzen können. Deshalb bestehen die Generäle darauf, dass eine derart weitreichende Entscheidung wie der Einmarsch türkischer Truppen in ein Nachbarland nur von einer neuen, durch die Wahl legitimierten und mit einer parlamentarischen Mehrheit ausgestatteten Regierung gefällt werden kann. Und auf diesem Grundsatz beharren die Generäle um so mehr, als auch ihnen die Syrienpolitik der AKP ein Dorn im Auge ist.

Das zweite nicht offen ausgesprochene Motiv für den Ungehorsam der Generäle verrät noch mehr über das tiefe Misstrauen, das die Armee gegenüber der AKP-Regierung hegt. Das Militär befürchtet, die AKP könnte aus einem Einmarsch der Armee ins Nachbarland parteipolitischen Nutzen ziehen. Auch ein begrenzter Krieg in Syrien würde Wogen nationaler Solidarität erzeugen und den Ruf der Bevölkerung nach dem starken Mann verstärken. Ein solches Klima wäre aber wie geschaffen für Erdoğan und Davutoğlu, erläutert Murat Yetkin in der Onlinezeitung Radikal: „Als Eroberer von Syrien hätte die AKP die Chance, erneut 276 Sitze im Parlament zu erringen“, das heißt: die absolute Mehrheit, die sie am 7. Juni verpasst hat.9

In der Tat war die Wahl vom 7. Juni eine große Schlappe für die AKP und mehr noch für den Präsidenten. Im Vergleich zur Parlamentswahl von 2011 sackte die Regierungspartei von 49,9 Prozent auf 40,8 Prozent ab und verlor damit nicht nur 2,8 Millionen Wähler, sondern auch die absolute Mehrheit im Parlament. Das war eine veritable Katastrophe für eine Partei, die sich nach zwölf Jahren Alleinregierung daran gewöhnt hatte, ihren Anhänger bürokratische Posten zuzuschanzen, mittels staatlicher Ressourcen eine ihr ergebene Unternehmerschicht zu päppeln und ihren Einfluss auf die Justiz unablässig auszuweiten. Da die AKP jetzt einen Koalitionspartner braucht, würde sie all diese Pfründen mit einem Koalitionspartner teilen müssen.

Noch folgenreicher ist das Ergebnis für Recep Tayyip Erdoğan, Gründer und Galionsfigur der AKP, langjähriger Regierungschef und heute Staatspräsident. Denn es waren der persönliche Ehrgeiz, die politischen Ziele und die autoritäre Anmaßung Erdoğans, die seine Partei den schon sicher geglaubten Sieg gekostet haben.

Seit Erdoğan im August 2014 zum Staatspräsidenten gewählt wurde, war sein ganzes Streben darauf gerichtet, ein Präsidialsystem einzuführen, das ihn praktisch zum Alleinherrscher gemacht hätte. Obwohl nicht mehr Mitglied der Partei und per Amtseid zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet, zwang er die AKP, diesen politischen Systemwechsel in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs zu stellen. In seiner Machtgier blendete Erdoğan konsequent aus, dass sich nur eine verschwindend geringe Minderheit der Bevölkerung – und weniger als die Hälfte der AKP-Wähler – für ein Präsidialsystem aussprachen.10 Pausenlos appellierte er an die Wähler, sie sollten eine Partei – gemeint war natürlich die AKP – mit einer Zweidrittelmehrheit ausstatten, damit diese die Verfassung nach seinen Wünschen ändern könne, ohne sich mit die Opposition verständigen zu müssen. Doch selbst von den erklärten AKP-Wählern wollten, im Mai 2015 nur jeder Dritte zulassen, dass die Partei in dem neuen Parlament eine nach Gutdünken zurechtgebogene Verfassung durchpeitscht.

Den entscheidenden Fehler beging Erdoğan jedoch im Hinblick auf die Kurden. Im März 2015 stellte er sich auf einmal gegen die Friedensverhandlungen mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), die er zwei Jahre zuvor selbst begonnen hatte. Nachdem Umfragen ergeben hatten, dass jede Verständigung mit den Kurden zu Stimmenverlusten der AKP an die extrem rechte Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) führen würde, wollte Erdoğan das Steuer herumreißen. Ende April erklärte er die Kurdenfrage kurzerhand für bereits gelöst und bezeichnete alle, die auf weitere Verhandlungen und Reformen drängten, als Vaterlandsverräter, Separatisten und Terroristen.

Entsprechend führten Erdoğan und in seinem Kielwasser Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu ihren Wahlkampf fast ausschließlich gegen die prokurdische HDP. Die Stimmen der nationalistischen Türken konnten sie damit allerdings nicht mehr zurückgewinnen. Dagegen verloren sie die Stimmen der vielen konservativen Kurden, die bis dahin treue Wähler der AKP gewesen waren. Selbst das Minimalziel der AKP, mit nur knapp über 40 Prozent der Stimmen erneut allein regieren zu können, wurde von der HDP vereitelt. Die Regierung hatte darauf gesetzt, dass die HDP die landesweite 10-Prozent-Hürde für den Einzug einer Partei ins Parlament nicht überwinden könne. Dann wären der Regierungspartei die allermeisten der Parlamentssitze der HDP-Kandidaten zugefallen, die sich zwar in ihrem Wahlkreisen durchsetzen konnten, aber wegen des Scheiterns ihrer Partei an der Quote keinen Sitz im Parlament errungen hätten.

Die Partei der Kurden, die vor vier Jahren als BDP ins Rennen gegangen ist, trat zu den Wahlen von 2015 unter dem Namen Demokratische Partei der Völker (HDP) an. Sie konnte den Anteil ihrer Stimmen von 6,6 Prozent 2011 auf 13,1 Prozent 2015 steigern und circa 3 Millionen Wähler hinzugewinnen. Mehr als für alle anderen Parteien war dieses Resultat eine Ohrfeige für die regierende AKP, die ihren Wahlkampf in erster Linie gegen die HDP geführt hatte. Denn keine andere Partei musste so viele Stimmen an die HDP abgeben wie die AKP. Am deutlichsten zeigte sich dies in den Provinzen im Osten und Südosten der Türkei, die größtenteils von Kurden besiedelt sind. Hier herrschte noch bei der Wahl 2011 ein Kräftegleichgewicht zwischen der AKP und der prokurdischen Partei – damals noch unter dem Namen Partei des Friedens und der Demokratie (BDP) –, die ihre Kandidaten als „Unabhängige“ ins Rennen geschickt hatte.

Die BDP konnte sich 2011 nur in 7 der 81 türkischen Provinzen als stärkste Kraft etablieren. Die übrigen Grenzprovinzen im Osten und Südosten gingen an die AKP. Die Wahlen von 2015 haben die politische Landkarte in den kurdischen Regionen grundlegend verändert. Heute dominiert die HDP bereits in 14 Provinzen, dabei hat sie 6 der 7 neu eroberten Wahlbezirke der AKP abgenommen. Mehr noch: Fast in allen diesen Provinzen kann heute von einer klaren Hegemonie der prokurdischen Partei gesprochen werden. Unter der 50-Prozent-Marke blieb die HDP lediglich in Ardahan mit 31 Prozent und in Kars mit 45 Prozent der Wählerstimmen. Diese beiden Provinzen liegen im äußersten Nordosten des Landes, in dem Kurden nicht die Mehrheit der Bevölkerung stellen. In allen anderen 12 Provinzen liegt die HDP klar über der Schwelle zur absoluten Mehrheit.11 In zwei Nachbarprovinzen, Urfa und Bingöl, ist die HDP jeweils die zweitstärkste Partei: in Urfa mit 40 und in Bingöl mit 42 Prozent.

Es war also der Erfolg der Kurden, der das Ende der AKP-Alleinregierung einläutete und dazu führte, dass Erdoğan seine Pläne für die Einführung eines Präsidialsystems begraben musste. Doch der Zulauf der Kurden zur HDP bedeutet für die AKP noch ein weiteres Malheur. Mit dieser Wahl kam der AKP ein wichtiges Stück ihres Profils abhanden. Sie kann nicht mehr als Partei der Türken und der Kurden auftreten; und sie kann nicht mehr behaupten, auch unten den Kurden die stärkste Partei zu sein.

Dagegen hat sich die HDP in dieser Wahl vom Anhängsel der PKK zum Sammelbecken für die Kurden der Türkei gemausert. In den Provinzen des Südostens konnte sie die Stimmen konservativer sunnitischer Kurden, die früher AKP gewählt hatten, neu hinzugewinnen. Und in der Provinz Dersim (Tunceli), die räumlich vom sunnitisch-kurdischen Siedlungsgebiet getrennt ist, hat die Partei erstmals Rückhalt bei großen Teilen der kurdischen Aleviten gewonnen. Gerade in Dersim hatten die kurdischen Aleviten aus tiefem Misstrauen gegen ihre sunnitischen türkischen und kurdischen Nachbarn über Jahrzehnte hinweg regelmäßig die linkskemalistische Republikanische Volkspartei (CHP) gewählt. In diesem Jahr konnte sich die HDP in dieser Provinz erstmals als stärkste Partei durchsetzen. Damit ist es ihr gelungen, nicht nur – wie die prokurdischen Parteien vor ihr – die Stimmen linker und relativ säkularer sunnitischer Kurden einzusammeln, sondern eine Mehrheit auch unter den religiös gebundenen sunnitischen wie unter den eher säkularen alevitischen Kurden zu gewinnen. Die HDP ist damit zur unanfechtbaren Repräsentanz der kurdischen Nationalbewegung in der Türkei geworden, was den Forderungen der Kurden nach kollektiven Rechten kultureller und politischer Art zusätzliche Legitimität verleiht.

Die neue Einigkeit der Kurden macht die Politik Erdoğans zu einem Spiel mit dem Feuer. Das würde offen ausbrechen, wenn es doch noch zu einer – bislang von den Generälen vereitelten – türkische Intervention in Syrien käme, die sich gegen die Kurden richten würde. Denn das würde den seit März 2013 haltenden Waffenstillstand zwischen der PKK und dem türkischen Militär automatisch beenden. Aber der Präsident stellt den inneren Frieden auch dadurch infrage, dass er auf eine, wie er sich ausdrückt, „Wiederholung“ der Wahl drängt, nur weil ihm das Ergebnis vom 7. Juni nicht behagt, und seine Konfrontationspolitik gegenüber den türkischen Kurden fortsetzt.

Diese Politik ist auch deshalb gefährlich, weil die extreme türkische Rechte, die MHP, deren zentrale Wahlaussage die Ablehnung jeglicher Verhandlungen und Kompromisse mit den Kurden war, ebenfalls kräftig hat zulegen können. Das Abschneiden der MHP zeigt, dass das Wahlergebnis nicht umstandslos als ein Votum der türkischen Gesellschaft für mehr Demokratie und Ausgleich bewertet werden kann, wie die ersten hoffnungsvollen Kommentare lauteten. Die Ablehnung von Erdoğans autoritärer Politik bedeutet noch keineswegs, dass die politische Entfremdung zwischen Türken und Kurden im Schwinden begriffen ist. Nach wie vor dominiert in der Bevölkerung die Tendenz, die eigene kulturelle Identität auch parteipolitisch zu manifestieren: als Kurde wählt man die HDP, als muslimischer Türke die MHP, als türkisch-sunnitischer Muslim die AKP und als säkularer Türke (und türkischer Alevit) die CHP.

Tatsächlich sind die Wähler und die Parteien nicht so sehr an der Einhaltung demokratischer Standards interessiert, vielmehr wollen sie vor allem die Machtpositionen der eigenen Gruppen gegen die Konkurrenz sichern. Obwohl alle Oppositionsparteien im Wahlkampf einhellig die undemokratische Praktiken und Gesetze der AKP-Regierung anprangerten, fanden Vorschläge, durch gemeinsame Gesetzesinitiativen im Parlament demokratische Mindeststandards wiederherzustellen, bei den Parteiführungen kein Gehör.

Mit ihrer neuen parlamentarischen Mehrheit wäre eine gemeinsame Opposition von CHP, MHP und HDP durchaus in der Lage, unabhängig von der Regierungsbildung einige einschneidende Hindernisse für gleichberechtigte politische Partizipation, Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen. Zum Beispiel könnte man gemeinsam auf die Senkung der 10-Prozent-Hürde bei den Parlamentswahlen drängen, oder auf die Rücknahme des erst kürzlich verabschiedeten Gesetzes zur inneren Sicherheit, oder auf die Annullierung der jüngsten Justizreform, die Richter und Staatsanwälte zu Instrumenten der Regierung gemacht hat. Doch entsprechende Appelle der Zivilgesellschaft stoßen bei CHP und MHP auf taube Ohren. Die Parteiführer sind nur damit beschäftigt, ihre Taktik für den Prozess der Regierungsbildung festzulegen.

Für eine neue Regierung gibt es drei Szenarien, die einigermaßen realistisch sind. Ein Zusammengehen von AKP und HDP gehört nicht dazu und wird von beiden Parteien kategorisch ausgeschlossen. Zwar haben AKP und HDP seit dem März 2013 im Rahmen der Friedensverhandlungen miteinander kooperiert, doch haben beide Parteien ihren Wahlkampf fast ausschließlich gegen die jeweils andere geführt. Die HDP hat sich im Wahlkampf außerdem als neue basisdemokratische und staatskritische Kraft präsentiert, die ganz auf gesellschaftliche Opposition setzt, und kann jetzt nicht einfach zurückrudern.

Eine Koalition aus AKP und MHP ist der ideologischen Nähe der beiden Parteien wegen am einfachsten zu bilden, bietet aber für das Land das größte politische Risiko. Die MHP fordert ein Ende der Friedensverhandlungen mit der PKK und würde statt auf die Ausweitung politischer Freiheiten nur auf weitgehende Mitsprache bei deren Einschränkung und Kontrolle pochen.

Eine solche Koalition würde nicht nur die demokratischen Forderungen der Kurden, sondern auch die der liberalen Mittelschichten missachten, was mittelfristig die Gefahr erhöhen würde, dass die Kämpfe in den Kurdengebieten erneut aufflackern. Und die könnten rasch außer Kontrolle geraten, weil eine erneute politischer Polarisierung der Bevölkerung, der dschihadistische Terror an der Südgrenze des Landes und die Durchlässigkeit der türkischen Grenze zu Syrien eine brisante Mischung darstellen. Und wenn es in den Großstädten des Westens zu neuen Massenprotesten à la Gezi kommen sollte, die wie in den vergangenen Jahren brutal niedergeschlagen werden, könnte dies dazu führen, dass der Beitrittsprozess zur Europäischen Union endgültig abgebrochen wird.

Im Unterschied zu einer konservativ-nationalistischen Koalition würde die Bildung einer AKP-CHP-Koalition weit größere Verhandlungs- und Kompromissbereitschaft der beiden Partner erfordern. Eine solche Koalition würde jedoch eher die Chance bieten, dass die Kurdenfrage durch weitere Reformen entschärft und die krassesten Auswüchse der Justizreform zurückgenommen werden. Zudem würde eine Regierungsbeteiligung der CHP der AKP die Möglichkeit eröffnen, unter Wahrung ihres Gesichts längst überfällige außenpolitische Korrekturen in Beziehung auf Syrien, Ägypten, Saudi-Arabien und Israel einzuleiten.

Die Beteiligung der Kemalisten an einer Regierung würde aber vor allem die politische und gesellschaftliche Polarisierung entschärfen und damit auch eine starke Botschaft an die Europäische Union senden. Hinzu kommt ein weiterer, überraschender Aspekt: Eine AKP-CHP-Koalition entspricht ohne Zweifel den Wünschen des türkischen Militärs. Damit finden sich die Generäle in dieser Frage plötzlich in Einklang mit den Erwartungen der westlichen Partner der Türkei und großer Teile der liberalen Zivilgesellschaft – eine vollkommen neue Rolle, die für beide Seiten sicherlich gewöhnungsbedürftig ist.

Siehe auch