Hauptstatus

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Der Hauptstatus (übergeordneter Status; original: master status nach E.C. Hughes 1945) ist der für eine Person wichtigste Status, d.h. derjenige, mit dem ihn andere Leute identifizieren oder mit dem er sich identifiziert. Der Hauptstatus gibt der Person Antwort auf die Frage "Was bin ich - und wer bin ich?" Er bestimmt den Stil und die Lebenweise, den Kreis von Bekannten und das Verhalten.

Die Frage nach dem Hauptstatus wird vor allem bei Konflikten zwischen mehreren Positionen oder Eigenschaften relevant. Denn jedes Individuum belegt im Normalfall eine Mehrzahl von Statuspositionen in der Gesellschaft - zugeschriebene wie erworbene: "The master status of an individual is one which, in most or all social situations, will overpower or dominate all other statuses. (...) Occupation, race, and sex may all function as master statuses in Western societies, and can produce powerful contradictions and social dilemmas when important status positions contradict perceived roles and stereotypes— for example the female astronaut, or the African-American surgeon. In these situations, social actors must make status decisions, which may take the form of denial (the astronaut labelled ‘unnatural’ or the physician as ‘exceptional’)" (Oxford Dictionary of Sociology).

Howard S. Becker

"Bei der Analyse der Konsequenzen aus der Übernahme einer abweichenden Identität wollen wir die von Hughes eingeführte Unterscheidung zwischen den haupt- und den nebensächlichen Statusmerkmalen verwenden. Hughes bemerkt, daß der Status meistens ein Hauptmerkmal [Hughes: master trait] besitzt, das dazu dient, diejenigen, die dazugehören, von denen zu unterscheiden, die nicht dazugehören. So ist z.B. der Arzt, was immer er sonst sein mag, vor allem ein Mensch, der eine Bescheinigung besitzt, in der festgestellt wird, daß er bestimmte Anforderungen erfüllt hat und berechtigt ist, Medizin zu praktizieren; das ist das Hauptmerkmal. Hughes weist darauf hin, daß in unserer [der amerikanischen] Gesellschaft von einem Arzt informell auch eine Anzahl von Nebenmerkmalen erwartet wird: Die meisten Leute erwarten von ihm, daß er der oberen Mittelschicht angehört, weißrassig, männlich und Protestant ist. Wenn er das nicht ist, kommt das Gefühl auf, er habe irgendwie versäumt, sein Versprechen zu halten. Ebenso wird von Negern – wenn auch die Hautfarbe das hauptsächliche Statusmerkmal ist, das festlegt, wer Neger und wer Weißer ist – informell erwartet, daß sie bestimmte Statusmerkmale und keine anderen besitzen; man ist überrascht und findet es anomal, wenn sich herausstellt, daß ein Neger Arzt oder Universitätsprofessor ist.

Menschen besitzen oft ein hauptsächliches Statusmerkmal, doch fehlen ihnen einige Nebenmerkmale, die informell als charakteristisch erwartet werden; man kann z.B. ein Arzt sein, gleichzeitig aber eine Frau oder ein Neger.

Hughes befaßt sich mit diesem Phänomen im Hinblick auf Statusarten, die angesehen, erwünscht und wünschbar sind (wobei er bemerkt, daß jemand die formalen Qualifikationen für den Zutritt zu einem Status haben kann, daß ihm aber der vollständige Zutritt verwehrt wird, weil ihm die richtigen Nebenmerkmale fehlen), doch der gleiche Prozeß kommt auch in Fällen abweichender Statusarten in Gang. Der Besitz eines abweichenden Merkmals kann von allgemeinem symbolischen Wert sein, so daß die Leute automatisch annehmen, daß sein Träger andere unerwünschte, angeblich mit diesem Merkmal verbundene Merkmale besitzt.

Um als Krimineller abgestempelt zu werden, braucht man nur eine einzige kriminelle Handlung zu begehen; nur darauf bezieht sich, jedenfalls formell, der Terminus "kriminell". Das Wort enthält jedoch noch eine Anzahl von Konnotationen [Nebenbedeutungen]; sie bezeichnen Nebenmerkmale, die als charakteristisch für einen als kriminell abgestempelten Menschen gelten. Von einem Mann, der des Hauseinbruchs überführt und aufgrund dessen als kriminell eingeordnet worden ist, wird angenommen, daß er wahrscheinlich noch weitere Hauseinbrüche begehen wird; von dieser Voraussetzung geht die Polizei aus, wenn sie nach Bekanntwerden eines Verbrechens im Zuge der Ermittlung ihr bekannte Straffällige überprüft. Mehr noch, der besagte Mann wird als jemand angesehen, der wahrscheinlich auch andere Arten von Verbrechen begehen wird, weil er sich als ein Mensch ohne "Respekt vor dem Gesetz" erwiesen hat. Festnahme aufgrund einer einzigen abweichenden Handlung bedeutet für den betreffenden Menschen, daß er wahrscheinlich auch in anderer Hinsicht als abweichend oder unerwünscht angesehen wird.

In der Analyse von Hughes findet sich noch ein anderes Element, das wir mit Gewinn übernehmen können: die Unterscheidung zwischen über- und untergeordnetem Status. In unserer Gesellschaft wie in anderen stehen einige Statusarten über anderen und beanspruchen eine gewisse Priorität. Dazu gehört die Rasse. Zugehörigkeit zur Rasse der Neger, wie sie sozial definiert wird, hat in den meisten Situationen vor allen anderen Statuserwägungen den Vorrang; die Tatsache, daß jemand Arzt, Angehöriger der Mittelschicht oder Frau ist, schützt ihn nicht davor, zuerst als Neger behandelt zu werden und erst in zweiter Linie entsprechend seinen anderen Merkmalen. Der Status des Verhaltensabweichenden (abhängig von der Art der Verhaltensabweichung) ist ein derartiger übergeordneter Status. Man erhält diesen Status als Folge einer Regelverletzung; diese Identifizierung erweist sich als wichtiger als die meisten anderen. Man wird zuerst als abweichend identifiziert, und zwar bevor andere Feststellungen getroffen worden sind. Es wird die Frage gestellt: "Welche Art von Mensch würde eine solch wichtige Regel brechen?" Und die Antwort lautet: "Jemand, der sich von uns anderen unterscheidet, der nicht als moralisches menschliches Wesen handeln kann oder will und daher noch andere wichtige Regeln brechen könnte." Die Identifizierung als abweichend erhält so eine Kontrollfunktion.

Einen Menschen zu behandeln, als sei er generell und nicht nur spezifisch abweichend, erzeugt eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Eine solche Behandlung setzt verschiedene Mechanismen in Bewegung, die zusammenwirken, um den Menschen nach dem Bilde zu formen, das die Leute von ihm haben. Zunächst einmal läuft der Mensch, der als abweichend identifiziert wurde, Gefahr, von der Partizipation an konventionelleren Gruppen abgeschnitten zu werden, selbst wenn die spezifischen Konsequenzen seiner besonderen abweichenden Aktivität von sich aus niemals die Isolation verursacht hätten, wäre sein Verhalten in der Öffentlichkeit nicht bekannt und entsprechend beantwortet worden" (Becker 1981: 28-30).

Literatur

  • Becker, Howard S. (1981) Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Frankfurt a.M.: Fischer.
  • Hughes, Everett Cherrington (1945) Dilemmas and Contradictions of Status. The American Journal of Sociology, Vol. 50, No. 5 (Mar., 1945): 353-359 http://www.jstor.org/stable/2771188

Weblinks