Hans Magnus Enzensberger

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In seinem Essay „Schreckens Männer. Versuch über den radikalen Verlierer“ vertritt HME 2006 die These, "daß bei den Gewalttätern der Glaube an die eigene religiös begründete Überlegenheit mit der unübersehbaren Schwäche der eigenen Kultur kollidiere und sich dadurch der Todestrieb entwickle, sich selbst und der Welt ein Ende mit Schrecken zu bescheren."

Je prompter der Kommentar, desto kürzer ist gewöhnlich seine Halbwertzeit.Nichts gegen die Aktualität! Aber gerade dann, wenn niemand weiß, wie es weitergehen soll, spricht einiges für den Versuch, Distanz zu gewinnen. Zum Beispiel, was die Globalisierung angeht: Ein deutscher Wissenschaftler namens Karl Marx hat diesen Prozeß bereits vor hundertfünfzig Jahren ziemlich gründlich analysiert. Er wäre sicher nicht auf die Idee gekommen, "dafür" oder "dagegen" zu sein; in dem Streit, der an Orten wie Seattle, Göteborg oder Genua eskaliertist, hätte er kaum mehr als ein Schattenboxen gesehen. Der Protest gegen eine somassive historische Tatsache mag ehrenwert sein, er kann jedoch bestenfallsweltweite Fernsehinszenierungen hervorbringen. Schon daran zeigt sich, daß dienaiven Gegner selbst ein Teil dessen sind, was sie bekämpfen.

Der deutsche Gelehrte hat die Globalisierung seinerzeit als ein reinpolitökonomisches Phänomen beschrieben. Das war anno 1848 auch die einzigmögliche Perspektive, da die Ausdehnung des Weltmarkts und die Politik derKolonialmächte damals die entscheidenden Antriebskräfte waren. Inzwischen hatdieser irreversible Prozeß jedoch alle Systeme erfaßt. Wer nur diewirtschaftliche Dynamik ins Auge faßt, der hat ihn nicht verstanden. Es gibt heute nichts mehr, was sich ihm entziehen könnte: weder die Religion noch die Wissenschaft, weder die Kultur noch die Technik, vom Konsum und von den Medienganz zu schweigen. Deshalb fallen auch seine Kosten überall und in jeder Sphäre an.

Nicht nur die zahllosen ökonomischen Verlierer sind betroffen. Dem Weltmarkt und seinen Finanz- und Wissensströmen folgen auch, überall auf der Erde, plötzliche Zusammenbrüche, Waffen, Computerviren, neuartige Seuchen, ökologische Katastrophen, Bürgerkriege und Verbrechen. Die Vorstellung, irgendeine Gesellschaft könnte sich gegen diese Folgen isolieren, ist abwegig. Eine dieser Folgen ist der Terrorismus. Es wäre ein Wunder, wenn einzig und allein er es unterlassen hätte, global zu operieren.

Angesichts fanatisierter Massen hat die Moderne lange an der Vorstellungfestgehalten, sie hätte es mit Eigentümlichkeiten rückständiger Gesellschaftenzu tun. Die unaufhaltsame Modernisierung, glaubten viele, würde solchenAtavismen früher oder später ein Ende machen, auch wenn der eine oder andere Rückfall nicht ausbleiben sollte. Spätestens seit dem Aufstieg totalitärerRegimes im zwanzigsten Jahrhundert müßte diese Illusion ihren Reiz eingebüßthaben; dennoch lebt sie, negativ im Stereotyp vom "finsteren Mittelalter",hoffnungsvoll in der Rede von den "Entwicklungsländern", bis heute fort.

Die Negation der Moderne

Doch die mörderischen Energien der Gegenwart lassen sich keineswegs aufirgendwelche Traditionen zurückführen. Gleichgültig, ob es sich um dieBürgerkriege auf dem Balkan, in Afrika, Asien oder Lateinamerika handelt, um dieDiktaturen des Nahen Ostens oder um die zahllosen "Bewegungen" unter der Fahnedes Islam - in all diesen Fällen hat man es nicht mit archaischen Überresten,sondern mit absolut zeitgenössischen Erscheinungen zu tun, nämlich mitReaktionsbildungen auf den gegenwärtigen Zustand der Weltgesellschaft. Das giltauch für eine durchaus ehrwürdige Religion wie den Islam, der jedoch - ebensowie das ultraorthodoxe Judentum - schon seit langem keine produktiven Ideen mehrentwickelt hat. Seine Stärke erweist sich bisher ausschließlich in derbestimmten Negation der Moderne, an die er eben dadurch gefesselt bleibt.

Die Immanenz des Terrors, ganz gleich, woher er kommt, zeigt sich nicht nur am Verhalten der Akteure, sondern auch an der Wahl ihrer Mittel. Insofern handeltes sich um pathologische Kopien des Gegners, denen ähnlich, die ein Retrovirusvon der befallenen Zelle herstellt. Das Gefühl, der Angriff kommt von außen,trügt, da es einen externen Raum menschlicher und unmenschlicher Handlungen, der außerhalb des globalen Zusammenhangs läge, nicht gibt. Die Bedrohung istallgegenwärtig wie die Kamera, das Telefon, das Internet und der Spionagesatellit.

Die Attentäter von New York waren nicht nur technisch auf der Höhe der Zeit.Inspiriert von der symbolischen Bildlogik des Westens, haben sie das Massakerals Medienspektakel inszeniert. Dabei folgten sie minuziös den Szenarien desHorrorfilms und des Science-fiction-Thrillers. Ein derart inniges Verständnisfür die amerikanische Zivilisation zeugt nicht von einer anachronistischen Mentalität. Vor allem aber wirft es ein Licht auf die angeblichen Überzeugungender Täter.

Stolz auf den eigenen Untergang

Es ist kein Zufall, daß im ersten Moment Zweifel an der Urheberschaft desAnschlags laut geworden sind. Im Internet wurde die rechtsradikale Szene derVereinigten Staaten haftbar gemacht, andere sprachen von japanischenTerroristengruppen oder von irgendeinem zionistischen Geheimdienstkomplott. Wieimmer in solchen Fällen schossen sofort alle möglichen Verschwörungstheorien insKraut. An solchen Interpretationen ist zu ermessen, wie ansteckend der Wahn derTäter ist. Sie enthalten jedoch einen wahren Kern, weil sie zeigen, wieaustauschbar die Beweggründe sind. Die phrasenhaften, auswendig gelernten"Bekennerschreiben", die nach den meisten Attentaten eingehen, ähneln sich inihrer Leere. Die wechselseitige Nachahmung ganz verschiedener Tätergruppen, wasden propagandistischen Auftritt, die Technik und das taktische Vorgehenbetrifft, spricht für sich. Natürlich ist die Motivforschung für die Ermittlerund die Geheimdienste von höchstem Interesse, weil sie auf die Spur der Täterführen kann. Auf die Frage, woher die psychische Energie stammt, die den Terrorspeist, kann die ideologische Analyse jedoch keine Antwort geben. Vorgaben wielinks oder rechts, Nation oder Sekte, Religion oder Befreiung führen zu genaudenselben Handlungsmustern. Der gemeinsame Nenner ist die Paranoia. Auch im Falldes New Yorker Massenmordes wird man sich fragen müssen, wie weit dasislamistische Motiv trägt; jede beliebige andere Begründung hätte es auch getan.

Gewißheiten sind in einem derartigen Dunkelfeld nicht zu haben. Doch eineGemeinsamkeit praktisch aller terroristischen Handlungen, die wir kennen, läßtsich schwerlich übersehen. Das ist das Maß an Selbstzerstörung, auf das es dieAkteure abgesehen haben. Dies gilt nicht nur für konspirative Gruppen und fürdie zahllosen Warlords, Milizen und Paramilitärs, die große Teile Afrikas undLateinamerikas verheeren, sondern auch für sogenannte Schurkenstaaten wieNordkorea oder den Irak. Solche Diktaturen zielen weniger auf die Vernichtungihrer wahren oder imaginären Feinde als auf den Ruin ihres eigenen Landes. Alsbisher unerreichter Pionier bei diesem Bestreben kann Hitler gelten, der dabeieine Mehrheit der Deutschen hinter sich wußte. Im Falle Rußlands waren siebzigJahre nötig, bis der totale Kollaps erreicht war. Auch der Irak ist stolz aufden eigenen Untergang. Natürlich verfolgen zahlreiche "Befreiungsbewegungen"ähnliche Ziele. Algerien, Afghanistan, Angola, das Baskenland, Burundi,Guatemala, Indonesien, Kambodscha, Kaschmir, Kolumbien, Kongo, Liberia,Nicaragua, Nigeria, Nordirland, Peru, die Philippinen, Ruanda, San Salvador,Serbien, Sierra Leone, Sri Lanka, der Sudan, Uganda, der Tschad undTschetschenien - es ist ein Alphabet des Schreckens, das kein Ende nehmen will.

Diese Logik der Selbstverstümmelung gilt auch für den terroristischen Angriffauf die Vereinigten Staaten. Denn die langfristig verheerendsten Folgen wirdnicht der Westen, sondern ebenjene Weltregion zu tragen haben, in deren Namen ergeführt worden ist. Für Millionen von Muslimen sind die absehbaren Konsequenzenkatastrophal. Die Islamisten bejubeln einen Krieg, den sie nie gewinnen werden.Nicht nur Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten werden unter ihm zu leidenhaben. Ganze Völker, von Afghanistan bis Palästina, werden für die Handlungenihrer angeblichen Stellvertreter, jenseits aller Gerechtigkeit, einen immensenpolitischen und ökonomischen Preis bezahlen müssen. Die absehbare Vergeltungwird Unbeteiligte sowenig verschonen wie der Angriff, auf den sie folgt.

Nun ist allerdings der kollektive Drang zur Selbstbeschädigung, um nicht zusagen zum Selbstmord, ein Motiv, dessen Stärke der Westen beharrlichunterschätzt. Um das Unverständliche wenigstens ein Stück weit verständlicher zumachen, genügt die Reflexion auf die eigene Vergangenheit anscheinend nicht.Deshalb ist es vielleicht angezeigt, einen heuristischen Vergleich mitErscheinungen, die uns näherliegen, zu riskieren. Ein Blick in die faits diverszeigt, wie unwiderstehlich auch in den sogenannten hochentwickeltenGesellschaften die Lust am eigenen Untergang ist. Obwohl sich Drogensüchtige undSkinheads ganz gezielt jeder Lebenschance berauben; obwohl jeder Tag neue "Familientragödien" und Amokläufe bringt, gilt es nach wie vor als ausgemacht,daß der Selbsterhaltungstrieb das Regulativ menschlichen Handelns ist undbleibt. Dabei liefert jeder Tag neue Gegenbeweise. Der narzißtisch gekränkteSchüler geht mit dem Messer auf Lehrer und Mitschüler los. Der HIV-Positive steckt so viele Partner wie möglich an. Der Mann, der sich von seinem Chefungerecht behandelt fühlt, steigt auf einen Turm und schießt blindlings um sich,nicht obwohl, sondern weil das Massaker sein eigenes Ende beschleunigen wird.Auch in all diesen Fällen sind die Beweggründe sekundär; oft sind sie dem Täterselbst unbekannt.

Triumph des Selbstmörders

Der individuelle Todestrip zeigt manche Ähnlichkeiten mit der Triebstruktur derAttentäter. Hier wie dort zieht der individuelle oder kollektive Selbstmörder,unabhängig davon, wie real oder imaginär der Schrecken ohne Ende ist, dem ersich ausgesetzt sieht, ein Ende mit Schrecken jeder Alternative vor. Verschiedenist lediglich die Dimension seiner Aktionen. Während der Skin nur seinenBaseballschläger, der Brandstifter nur seine Benzinflasche hat, verfügt der gutausgebildete Attentäter über Geldgeber, hochentwickelte Logistik, neuesteKommunikationsmittel und Verschlüsselungstechniken, in absehbarer Zukunftwahrscheinlich sogar über ABC-Waffen.

So verschieden also die Maßstäbe des Schreckens sind, eines scheint all dieseTäter zu verbinden: Ihre flottierende Aggression richtet sich nicht nur gegenbeliebige andere, sondern vor allem gegen sie selbst. Wenn der Terrorist dabeiein höheres Ziel für sich geltend machen kann, um so besser. Es kommt nichtdarauf an, um welches Phantasma es sich handelt. Jede höhere Instanz tut es,irgendein göttlicher Auftrag, irgendein heiliges Vaterland, irgendeineRevolution. Im Notfall kommt der mordende Selbstmörder jedoch auch ohne solcheRechtfertigungen aus zweiter Hand aus. Sein Triumph besteht darin, daß man ihnweder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst. Auch seinferner Befehlshaber erwartet in seinem Bunker den Moment der eigenenAuslöschung; er genießt, wie Elias Canetti schon vor einem halben Jahrhundertwußte, lediglich die Vorstellung, daß vor ihm möglichst alle anderen,einschließlich seiner Anhänger, zu Tode gebracht werden.

Wer lieber am Leben bleiben will, wird das schwerlich verstehen. Obwohl derjenige, der keine Lust verspürt, Amok zu laufen, einer überwältigenden Mehrheit angehört, hat er im Augenblick der Konfrontation gegen den Selbstmordliebhaber keine Chance. Da es vermutlich Hunderttausende von lebenden Bomben gibt, wird uns ihre Gewalt weiter ins einundzwanzigste Jahrhundert begleiten. Auch das Menschenopfer, eine uralte Gewohnheit der Spezies, erfährt auf diese Weise seine Globalisierung.