Gliederung von "Kriminologie und Geschichte"
1. Die Kriminologie ist eine junge akademische Disziplin.
historische Semantik des Begriffs der Kriminologie 1885. Dann allmähliche, aber relativ ungehinderte Verbreitung des Begriffs in den Rechts- und Sozialwissenschaften in den USA, eher schwierige im deutschsprachigen Raum, in Italien ... wegen Sperrwirkung von Kriminalanthropologie, Kriminalistik (1889: v. Liszt und seine Internationale Kriminalistische Vereinigung) und Kriminalbiologie (NS).
Akademische Disziplin wird die Kriminologie nach Garland (1997) durch das Zusammentreffen von Regierungsprojekt und Lombrosianischem Projekt.
Zeitpunkt schwer zu bestimmen.
In Großbritannien ist es erst 1935 so weit.
Auch anderswo ein langsamer Prozess:
- 1894: Durkheim erwähnt die criminologie als une science speéciale
- 1907 Revue de droit pénal et de criminologie (Belgien)
- 1909 First National Conference on Criminal Law and Criminology (Chicago)
- 1910 American Institute of Criminal Law and Criminology (Chicago). Erste englischsprachige Zeitschrift für Strafrecht und Kriminologie: The Journal of Criminal Law and Criminology (Chicago, USA)
- 1911 VII. Kongress der Kriminalanthropologischen Vereinigung in Köln äußert Überzeugung fachlicher Geschlossenheit und erhebt Forderung nach Institutionalisierung der Kriminologie an den Universitäten.
- 1913 Hans Gross gründet das "Kriminalistische Institut zur Pflege der strafrechtlichen Hilfswissenschaften" an der Universität Graz
- 1916 wird das Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik in Archiv für Kriminologie umbenannt
- 1918 und 1924 erscheinen in den USA Lehrbücher mit dem Titel Criminology (Parmelee, Sutherland)
- in Deutschland 1925 Theodor Reiks "Geständniszwang und Strafbedürfnis. Probleme der Psychoanalyse und der Kriminologie"
- in den 30er Jahren dann: das Handwörterbuch der Kriminologie und der anderen strafrechtlichen Hilfswissenschaften 1933-36
- Edmund Mezgers "Kriminalpolitik auf kriminologischer Grundlage" 1934 und das erste Lehrbuch mit dem Titel Kriminologie aus dem Jahre 1949 (Exner).
Fachgesellschaften:
- 1927 Kriminalbiologische Gesellschaft (1967: Umbenennung: .. gesamte Kriminologie)
- 1938 Intn. Soc. for Criminology, Paris
- 1956 American Society of Criminology, ASC
2. Die Kriminologie entstand nicht zwangsläufig, sondern aufgrund des Zusammentreffens zweier starker Zeitströmungen Anfang des 20. Jahrhunderts: Verwissenschaftlichung und Humanisierung der sozialen Kontrolle und Identifikation von Verbrechermenschen
Governmental and Lombrosian Project, Garland 1997
3. Die Kriminologie entstand als Gegenwartswissenschaft.
Comte, savoir pour ... pouvoir; What works ...
4. Ihr Verhältnis zur Geschichte war von vornherein ein Nicht-Verhältnis.
5. Entscheidend war der Bezug zur Biologie.
Lombroso
6. Seit kurzem gibt es allerdings eine detaillierte Fachgeschichte.
Wetzell, Becker, Galassi. Die Initiative ging von den Historikern aus. Die Arbeit machen die Historiker. Die Permeabilität zur Kriminologie hin ist gering.
7. Die Kriminologie hat ihre eigene Lehrbuch-Geschichte.
Garland. Kaputtheit. Funktionen. Nietzsche. Disziplin-Building. Man verschafft der Wissenschaft ein Fundament. Einen Glauben. Eine Identität der Neulinge. Eine Ideologie, eine Mission.
Und man kämpft um die Stellung der Leitdisziplin innerhalb der Kriminologie. Ist der Täter der Böse oder die Gesellschaft? Lacassagne.
8. Geschichte des Gegenstands
Auch hier dasselbe Muster. Die Arbeit tun die anderen. Rechtsgeschichtler. Oder Historiker. Jedenfalls die Kriminologen eher nicht. Das hat auch Nachteile. Impermeabilität.
9. Geschichtspotential nicht ausgeschöpft.
Wirklichkeitssinn und Möglichkeitssinn. Verbrechen und Strafe erscheinen natürlich und ewig. Sind sie aber nicht. Historische Kriminologie könnte das aufbrechen. Den kriminologischen Diskurs aus seiner Angebundenheit an den Status Quo befreien. Kriminologische Phantasie befreien. Hulsman: aus der Umlaufbahn. Das erfordert Energie. Diese Energie könnte die Geschichte liefern.