Glaubhaftigkeitsdiagnostik

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Einleitung

Glaubhaftigkeitsdiagnostik im Rahmen eines Ermittlungs- oder Strafverfahrens ist die Überprüfung einer Zeugenaussage nach wissenschaftlich anerkannten Maßstäben auf einen Erlebnisbezug hin. Das bedeutet, dass nicht eine allgemeine Glaubwürdigkeit der Person im Sinne einer überdauernden Eigenschaft, einer grundsätzlichen Bereitschaft, die Wahrheit zu sagen, erhoben wird, sondern es ist zu prüfen, ob die Aussage einer Person zu einem konkreten inhaltlichen Sachverhalt in einer Weise erfolgt, die auf ein eigenes Erleben des fraglichen Tatbestandes hinweist.

Im Rahmen der Glaubhaftigkeitsdiagnostik werden neben persönlichen Besonderheiten der Aussageperson u.a. Aspekte des Aussageverhaltens, mögliche Motive und situative Aspekte (zum Zeitpunkt des vermeintlichen Vorfalls, über den berichtet wird, wie zum Zeitpunkt der Aussage dazu) berücksichtigt und miteinander in Beziehung gesetzt.

Das methodische Vorgehen folgt dem Grundprinzip einer hypothesengeleiteten Untersuchung, deren Ausgangspunkt die sog. "Nullhypothese" ist, wonach der zu prüfende fragliche Sachverhalt unwahr ist. Hierzu werden aus den Anknüpfungstatsachen weitere Hypothesen gebildet, die Erklärungen für ein Zustandekommen der konkreten Zeugenangaben ohne eigenen Erlebnishintergrund bieten. Wenn die Prüfung ergibt, dass die vorliegenden Fakten mit der Nullhypothese nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, ist nach aussagepsychologischen Maßstäben die Alternativhypothese anzunehmen, wonach die Angaben des Zeugen auf einem "Erlebnishintergrund in der Wachwirklichkeit" beruhen.


Historischer Abriss zur Einschätzung der Glaubhaftigkeit von (kindlichen) Zeugenaussagen

Die Anfänge der wissenschaftlichen Aussagepsychologie finden sich um die Jahrhundertwende zum 20.Jahrhundert, u.a. mit Binet (1900) und Stern (1904). Neben der entwicklungspsychologischen Aussageforschung, die sich mit den kindlichen Möglichkeiten der Wiedergabe von Erlebtem und sprachlichem Ausdruck beschäftigt, finden sich Forschungsansätze zur kindlichen "Lügenhaftigkeit" und die Motive für Falschaussagen. Piaget (1954) zeigt auf, dass Kinder erst mit etwa 10 Jahren in der Lage sind, eine Täuschungsabsicht als Hauptmerkmal einer Lüge zu erkennen. Auch die Frage der Suggestibilität von Kindern nimmt in der psychopathologischen Literatur Raum ein.

Nach Undeutsch lassen sich in Deutschland drei Phasen der Geschichte der Psychologie der Zeugenaussage beschreiben: In der ersten Phase (bis etwa 1930) bestanden aufgrund von experimentellen Befunden erhebliche Zweifel an der Zuverlässigkeit von Zeugenaussagen. In einer zweiten Phase (bis Ende des 2. Weltkrieges) ist ein Nachlassen des Interesses an aussagepsychologischen Fragestellungen zu beobachten. In einer dritten Phase wurden zunehmend Glaubhaftigkeitsmerkmale entwickelt (u.a. von Undeutsch, Arntzen, Leonhardt, Bender, Röder und Nack, Trankell), die zur Prüfung von Aussagen herangezogen werden konnten.

Ab Anfang der 80er Jahre erfolgte zunehmend eine begleitende empirische Forschung zur Annahme, dass sich Aussagen über selbst erlebte Begebenheiten qualitativ von Darstellungen zu nicht selbst erlebten Situationen unterscheiden.

Während über die Zeit allgemein eine Tendenz zu erkennen ist, Aussagen auch jüngerer Kinder Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, werden lange insbesondere Aussagen von Mädchen zu fraglichen sexuellen Übergriffen eher angezweifelt. Dem entgegengesetzt wird im letzten Drittel des 20.Jahrhunderts die Vorstellung postuliert, dass Kinder sich Angaben über sexuelle Handlungen grundsätzlich nicht ausdenken können und solche Angaben deshalb in jedem Fall realitätsbezogen sein müssen.

In den 90er Jahren wurden vor den Landgerichten in Mainz und Münster Strafverfahren wegen vermeintlichem sexuellen Missbrauch an Kindern in erheblichem Ausmaß verhandelt, die mit Freisprüchen endeten. Im Rahmen dieser Verfahren wurden die kindlichen Zeugen in großem Umfang zu ihren (vermeintlichen) Erlebnissen befragt, wobei auf Seiten der befragenden Personen offenbar schnell eine Überzeugung bestand, dass es zu vielfachem und schwerem sexuellen Missbrauch gekommen war. Den sich zunehmend erweiternden kindlichen Aussagen, die im Rahmen des Verfahrens noch nach Begutachtungen in großem Umfang als glaubwürdig eingeschätzt wurden, wurde durch weitere Gutachter (u.a. Steller und Fiedler) u.a. aufgrund der ausgeprägten suggestiven Einflüsse auf die kindlichen Aussagen eine mangelnde Zuverlässigkeit zugewiesen. Im Rahmen dieser Verfahren wurde die Bedeutsamkeit von Qualitätsanforderungen erkennbar, die an forensich-psychologische Gutachten anzulegen sind.


Inhaltsorientierte Glaubhaftigkeitsdiagnostik

Durch das Bundesgerichtshof-Urteil vom 30.07.1998 wurden Mindestanforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten im Sinne übergeordneter Standards etabliert, die weitgehend mit den Kriterien der Aussageanalyse nach Steller und Köhnken (Statement Validity Analysis) übereinstimmen. Danach entspricht ein fallspezifisches und hypothesengeleitetes psychologisch-diagnostisches Vorgehen auch bei Glaubhaftigkeitsbegutachtungen dem derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstand.

Im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung werden folgende Aspekte untersucht:

Aussagetüchtigkeit

Es werden die kognitiven Voraussetzungen der Aussageperson erhoben, die für eine gerichtlich verwertbare Aussage zum infrage stehenden Sachverhalt erforderlich sind. Hierzu gehören z.B. die Beobachtungsfähigkeit, die Erinnerungsfähigkeit und die sprachlichen Kompetenzen der Person. Persönliche Besonderheiten wie intellektuelle Einschränkungen, Persönlichkeitsstörungen oder eine mangelnde Fähigkeit, sich gegenüber einer Einflussnahme abzugrenzen (Suggestibilität), sind einzubeziehen und auf ihre Bedeutung bezogen auf die Aussagetüchtigkeit einzuschätzen.

Eine hinreichende Aussagetüchtigkeit stellt im Rahmen einer aussagepsychologischen Begutachtung die Grundlage für die weitergehende Frage nach dem Erlebnisbezug der gemachten Angaben dar.

Aussagequalität – kriterienorientierte Aussageanalyse

Steller und Köhnken haben Glaubhaftigkeitskriterien in einem integrativen Merkmalssystem systematisiert. Diese Kriteriologie wurde unter dem Namen „Criteria Based Content Analysis“ oder „Kriterienorientierte Aussageanalyse“ bekannt. Zu einer konkreten Aussage wird untersucht, ob diese Aussage Merkmale (sog. "Realkennzeichen") beinhaltet, die von einer erlebnisfundierten, nicht aber von einer konstruierten und erfundenen Aussage erwartet werden. Realkennzeichen sind z.B. ein hoher Detaillierungsgrad der Aussage, eine Ungesteuertheit der Aussage, Selbstbelastung bzw. Verzicht auf Belastung des Beschuldigten, die Darstellung von Komplikationen im Handlungsverlauf oder die Wiedergabe von Interaktionen zwischen den Beteiligten. Wesentlich ist nicht die Anzahl vorgefundener Merkmale, sondern ihre qualitative Ausprägung.

Die im Rahmen der Begutachtung gemachten Angaben werden ggf. hinsichtlich ihrer Übereinstimmung mit (dokumentierten) früheren Angaben überprüft. Erlebnisfundierte Angaben zeichnen sich dadurch aus, dass sie in gedächtnispsychologisch erwartbaren Bereichen über verschiedene Aussagezeitpunkte hinweg konstant vorgetragen werden, während es in anderen Bereichen zu Veränderungen kommen kann (sog. differenzierte Aussagekonstanz). Eine Aussage stellt eine kognitive Leistung dar. Es stellt erhöhte Anforderungen an eine Person, erlebnisfremde Darstellungen anschaulich und detailliert zu konstruieren und über einen längeren Zeitraum hinweg in den gedächtnispsychologisch wesentlichen Bereichen widerspruchsfrei zu reproduzieren, während Angaben zu einem eigenen Erleben auf der Grundlage einer realen Wahrnehmungsgrundlage rekonstruiert werden können.

Eine inhaltliche Aussageanalyse vermag nicht zwischen erlebnisfundierten und suggerierten Erinnerungen zu differenzieren, da im Fall von Suggestion eine Überzeugung des Zeugen besteht, von einem realen Erleben zu berichten, was zu einer vergleichbaren Aussageweise wie bei erlebnisbezogenen Darstellungen führen kann.

Kann aufgrund des vorliegenden Aussagematerials ein Erlebnisbezug nach aussagepsychologischen Maßstäben nicht bestätigt werden, bedeutet dies nicht, dass eine nicht wahrheitsgemäße Aussage vorliegt oder dass ein vorgetragener Sachverhalt so nicht gewesen sein kann.

Aussagezuverlässigkeit

Es wird für die Entstehung wie für die Entwicklung der Aussage erhoben, ob es Hinweise auf Einflüsse (Störfaktoren) auf die Aussage gibt, die Zweifel an der Zuverlässigkeit der Angaben begründen können. Dazu werden die internen und die externen Rahmenbedingungen der Aussage überprüft.

Zu den internen Rahmenbedingungen gehören u.a. die Aussagemotivation und psychologische Besonderheiten der Aussageperson, wie z.B. eine besondere Suche nach Aufmerksamkeit oder eine akzentuierte Wahrnehmung von Beziehungen und eine daraus resultierende (fälschlich) akzentuierte Darstellung.

Zu den externen Rahmenbedingungen gehören u.a. mögliche (Belastungs)Motive des Erstaussageempfängers und/oder anderer Personen, die mit der Aussageperson über den vermeintlichen Sachverhalten gesprochen haben, sowie situative Aspekte (z.B. in welcher Lebenssituation wurden Angaben gemacht). Weiterhin zählen hierzu kommunikative Aspekte der Aussagesituationen, es ist z.B. zu prüfen, ob im Rahmen von Befragungen (ungewollt) Inhalte an die Aussageperson herangetragen wurden oder die Person in einer Aussagerichtung bestärkt wurde.

Eine Beurteilung der Zuverlässigkeit der Angaben erfolgt vor dem Hintergrund der Zeugenpersönlichkeit. So kann eine sehr beeinflussbare (= suggestible) Person schon bei diskreten Signalen wie einem aufmunternden Lächeln oder einem skeptischen Blick schnell zu einer Veränderung ihrer Angaben gelangen. Andererseits kann eine Person, die gut in der Lage ist, sich gegen eine Einflussnahme abzugrenzen und dies deutlich zu machen, auch dann zuverlässige Angaben machen, wenn in der Aussagesituation deutliche potentiell suggestiv wirkende Faktoren anzutreffen sind.


Diskussion

Neben einer Orientierung an wissenschaftlichen Standards bei der Erstellung psychologischer Gutachten (auch) im Rahmen von Ermittlungs- und Strafverfahren ist es notwendig zu beachten, dass Aussagen von Personen sowie deren Beurteilung (durch Familienangehöre und Freunde, Vernehmungsbeamte, Richter oder Sachverständige) nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum erfolgen.

Wie der Rückblick auf die Entwicklung der Einstellungen zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen zeigt, bestehen wechselnde gesellschaftliche Überzeugungen, die Einfluss auf die Beurteilung eines konkreten Aussagekomplexes nehmen (können).

Um einer (möglicherweise ungewollten) Beeinflussung durch solche gesellschaftlich akzeptierten oder favorisierten Sichtweisen als Sachverständiger begegnen und sich eine weitgehende Neutralität erhalten zu können, ist eine selbstkritische Haltung und Reflektion der eigenen Vorstellungen, aber auch der eigenen Einbindung in ein gesellschaftliches Umfeld erforderlich.

Eine neutrale und kritische Haltung beinhaltet dabei neben einer differenzierten Auseinandersetzung mit postulierten Vorstellungen (z.B. dass Kinder sich grundsätzlich niemals sexuelle Übergriffe ausdenken (können) und deshalb kindliche Angaben dazu immer zu glauben sind, dass Zweifel an kindlichen Angaben immer zu einer erneuten Traumatisierung führen oder dass Zweifel an kindlichen Angaben zu sexuellen Übergriffen in einer Solidarisierung mit dem vermeintlichen Täter begründet liegen) eine aufmerksame und differenzierte Auseinandersetzung mit der konkreten Zeugenpersönlichkeit und dem konkreten Aussagekomplex.


Literatur/Verweise

Bender/Nack (1995): Tatsachenfeststellung vor Gericht Band I: Glaubwürdigkeits- und Beweislehre. München: Verlag C.H.Beck

Fegert, Jörg M. (1993): Sexuell missbrauchte Kinder und das Recht. Köln, Volksblatt Verlag

Greuel, L. et. al. (1998): Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Theorie und Praxis der forensisch-psychologischen Begutachtung. Weinheim: PsychologieVerlagsUnion

Maier, B. (2006): Glaubhaftigkeitsdiagnostik von Zeugenaussagen. Eine diskriminanzanalytische Untersuchung. Saarbrücken: VDM Verlag Dr. Müller.

Niehaus, Susanna (2003, in: Praxis der Rechtspsychologie, 13.Jahrgang, Heft 2): Diskriminationsfähigkeit der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse bei teilweise erlebnisbasierten Falschaussagen. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag GmbH

Steller, M. & Köhnken, G. (1989): Criteria-based statement analysis. In D.C. Raskin (Hrsg.), Psycholocical methods for investigation and evidence (S. 217-245). New York: Springer.

Steller, Max/Volbert, Renate (2000, in: Praxis der Rechtspsychologie, 10.Jahrgang, Sonderheft 1: Glaubhaftigkeitsbegutachtung): Anforderungen an die Qualität forensisch-psychologischer Glaubhaftigkeitsbegutachtungen. Bonn: Deutscher Psychologen Verlag GmbH

BGH-Urteil (1 StR 618/98) vom 30.07.1999,Wissenschaftliche Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) http://www.hrr-strafrecht.de/hrr/1/98/1-618-98.php3