Gewalt – sechs abseitige Reflexionen

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Zizgew.png

"Gewalt – sechs abseitige Reflexionen" ist der Titel eines 2011 im LAIKA-Verlag erschienenen Buches des Philosophen Slavoj Žižek. Inhalt des Buches ist das Verhältnis kapitalistischer Demokratien zu Gewalt.

Zum Autor

Der im seinerzeit zu Jugoslawien gehörenden Slowenien geborene Philosoph und Kulturkritiker Slavoj Žižek [ˈʒiʒɛk] (* 21. März 1949 in Ljubljana) ist auch ein Theoretiker der Psychoanalyse, der insbesondere Gedanken Jacques Lacans weiterentwickelte und für die Populärkultur und Gesellschaftskritik fruchtbar macht. Der vielfach dem Poststrukturalismus zugerechnete Autor bezeichnet sich selbst eher als einen „altmodischen Marxisten“ und „Linksradikalen“.

In einem Interview berichtet er, wie er seinen Militärdienst mit der Lektüre von Hegel verbrachte. Er sei seid Ewigkeiten der Erste gewesen, der sich freiwillig für die Militärbibliothek einteilen lies, und da die anderen Soldaten kein großes Interesse an Büchern gehabt hätten, habe er den ganzen Tag seine Ruhe gehabt zur Lektüre: "Es war ein Paradies!". - 1981 zog Žižek nach Paris, wo er bis 1985 bei Jacques-Alain Miller, einem Schüler des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan studierte. 1990 war Žižek Kandidat für das sogenannte „kollektive Präsidium“ für die Liberaldemokratie Sloweniens, nachdem er bereits im Realsozialismus als Dissident aktiv war.

Žižek ist unter anderem Professor für Philosophie an der Universität seiner Heimatstadt Ljubljana und an der European Graduate School in Saas-Fee (Schweiz), außerdem hat er mehrere Gastprofessuren im Ausland inne. 2001 ist er Fellow des Kollegs Friedrich Nietzsche. Seit Anfang 2007 ist er International Director des Birkbeck Institute for the Humanities an der University of London.

Žižek hat einen Sohn aus erster Ehe (mit der Philosophin und Soziologin Renata Salecl). Von seiner zweiten Ehefrau Analia Hounie, der Tochter eines lacanianischen Psychoanalytikers aus Buenos Aires, trennte er sich bald nach der Eheschließung im Jahre 2004.

Kontroversen um Žižek

Žižek in Liverpool 2008. Quelle: wikimedia

Žižek war jahrelanger Herausgeber der Zeitschrift der slowenischen Lacan-Schule „Wo Es war“ und setzte sich unter anderem mit der Philosophie des Deutschen Idealismus, mit Hegel und mit Karl Marx, auseinander, sowie mit zeitgenössischen Denkansätzen aus dem Bereich des Poststrukturalismus, der Medientheorie, des Feminismus und der Cultural Studies. Seine erste englischsprachige Buchveröffentlichung The Sublime Object of Ideology erschien 1989. Seitdem veröffentlichte Žižek über 20 Monographien, in denen er sich zunächst um eine lacanianische Lesart der Philosophie, der Populärkultur und in den letzten Jahren zunehmend der Politischen Theorie bemühte. Žižek wird manchmal auch als "Popstar" oder "Elvis" der Kulturtheorie bezeichnet, da er seine Vorträge gerne mit zahlreichen Witzen und Anekdoten bebildert. Seine Vorliebe für Absurditäten zeigte sich beispielsweise in einer Arbeit über den Zusammenhang von Ideologie und Toilettenformen:

“Und hier denke ich an die Toiletten in Amerika, Frankreich und Deutschland. Sie bilden ein semiotisches Dreieck, das mit Levi Strauss Dreieck korreliert, wir haben also ein fäkales Dreieck. Die traditionellen deutschen Toiletten sind in der Form gebaut, dass die Scheiße auf einer Fläche am hinteren Ende fällt und durch ein Loch nach vorne weggespült wird. So ist man direkt mit dem Exkrement konfrontiert, und man kann sehen, ob man Würmer hat etc. Das ist ein deutsches Ritual. Die französischen Toiletten haben das entgegengesetzte System: Das Loch ist größer und liegt hinten, so dass die Scheiße direkt ins Loch fallen kann und sofort verschwindet. Die amerikanische Variante ist eine Art Levi-Straussche Korrelation, das die Elemente kombiniert: die Scheiße bleibt, aber sie schwimmt im Wasser. Ich habe einige Bücher zu dem Thema angesehen und kam zu dem Schluß, dass jede Nation glaubt, ihr System sei am sinnvollsten. Aber ein komplexes System greift hier. Und da ich das hier schon an einem ekelhaften Beispiel ausführe: Freunde aus Wien erzählten mir, dass in avantgardistischen Studentenkreisen der Schamhaarschnitt stark kodifiziert war, und da ist wieder das Dreieck. Es gibt den New-Age, wo vielleicht nur ein schmaler Streifen ist, den Hippie Style, wo alles wild wuchert und der Punk Stil, wo alles glattrasiert und mit Ringen, die an der Klitoris hängen usw. Ich bin immer wieder fasziniert von den zugrundeliegenden Ideologien. Und hier ist die korrekt Antwort für Lyotard und all diejenigen, die gesagt haben, das Ende der Ideologien. Ja, aber sobald Du die Toilettenspülung drückst, bist Du mitten in der Ideologie.”

Žižek schreibt viel und über viele Themen wie Subjektivität, Ideologie, den Kapitalismus, Fundamentalismus, Rassismus, Toleranz, Multikulturalismus, Menschenrechte, Ökologie, Globalisierung, dem Irak-Krieg, Revolution, Utopie, Totalitarismus, Postmoderne, Popkultur, Oper, Kino, politische Theologie und Religion.

Ein oft gegen die Arbeiten Žižek vorgebrachter Vorwurf zielt auf seinen populärwissenschaftlichen Stil, dem wissenschaftliche Genauigkeit abgehe. Er sei eher ein „Philosophie-Entertainer“ oder gar „Scharlatan“ denn ein ernstzunehmender Wissenschaftler. Beispielsweise schrieb Andreas Dorschel in der Süddeutschen Zeitung:

„Žižek schwafelt. Ins Schwafeln gerät, wer eine Sache nicht auf den Punkt zu bringen vermag. […] Dass Žižek Argumentation simuliert, statt bloß beliebig Assoziationen aufzufädeln, was als Form doch dem Inhalt seines Buches angemessen wäre, scheint starre akademische Gewohnheit. Er ist ein Pedant des Wirren. Statt einfach zu spinnen, behängt er das Resultat solchen Tuns mit Fußnoten“

Žižek bezieht oft Position zu aktuellen Themen. Speziell seine Positionen zum Nahostkonflikt sorgen oft für Kontroversen. So schrieb er beispielsweise im 2002 erschienenen Buch "Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin":

"Wenn man die israelische Besetzung der Westbank bedingungslos ablehnt, sollte man die antisemitischen Übergriffe in Westeuropa, die sich selbst als „exportierte Intifadah“, d.h. als Solidaritätsbekundung mit den unterdrückten Palästinensern rechtfertigen, genauso bedingungslos ablehnen (von Angriffen auf Synagogen in Deutschland bis zu Hunderten von antisemitischen Vorfällen in Frankreich im Herbst 2001). Man darf hier kein „Verständnis“ zeigen. Es darf keinen Platz geben für die Logik des „Aber man muß die Angriffe auf die Juden in Frankreich als eine Reaktion auf das brutale Vorgehen der israelischen Armee verstehen!“, genauso wenig wie für die Logik des „Aber man kann die militärische Reaktion ja verstehen; wer hätte keine Angst nach dem Holocaust und zweitausend Jahren Antisemitismus!“ Auch hier sollte man sich der doppelten Erpressung widersetzen: Wenn man für die Palästinenser ist, ist man eo ipso antisemitisch, und wenn man gegen den Antisemitismus ist, muß man eo ipso pro Israel sein. Die Lösung ist nicht ein Kompromiß, das „rechte Maß“ zwischen den beiden Extremen, sondern man muß beide Projekte radikal bis zum Schluß verfolgen, die Verteidigung der Rechte der Palästinenser und die Bekämpfung des Antisemitismus." (S. 67 Fn. 8).

Zur These, dass der "Anti-Anti-Semitismus" ein "Dead-end" sei, äußerte er sich in seinem Buch "The parallax view" noch dezidierter, was ihm den Vorwurf antisemitischer Argumentation einbrachte.

Gewalt - sechs abseitige Reflexionen

Das Buch untergliedert sich in Einleitung, sechs Kapitel und einen Epilog.

Einleitung: Die blutige Robe des Tyrannen

Žižek verweist gleich zu Beginn des Buches, worum es im Folgenden gehen soll:

Gedanklich sind für uns verbrecherische oder terroristische Akte, Unruhen und internationale Konflikte immer die augenfälligen Anzeichen für Gewalt.
Doch wir sollten lernen etwas zurückzutreten und uns von dem faszinierenden Reiz loszumachen, der von einer solchen, unmittelbar sichtbaren, »subjektiven« Gewalt ausgeht, einer Gewalt, die von einem klar identifizierbaren Agenten ausgeübt wird. Es ist notwendig, die Konturen des Hintergrunds zu erkennen, vor dem sich solche Ausbrüche abspielen. Ein Schritt zurück ermöglicht es uns, eine Gewalt zu identifizieren, die selbst noch unsere Bemühungen, die Gewalt zu bekämpfen und die Toleranz zu befördern, trägt. (S. 9)

Laut Žižek gibt es neben diese "subjektiven" noch zwei objektive Arten der Gewalt. Diese seien

die »symbolische« Gewalt, die sich in der Rede und den Ausdrucksformen verkörpert, die Martin Heidegger »Haus des Seins« nannte. Wie wir später sehen werden, ist diese Gewalt nicht allein in den offensichtlichen – und ausführlich untersuchten – Fällen aufhetzender Reden und den Beziehungen gesellschaftlicher Herrschaft am Werk, die sich in unseren habituellen Sprechweisen reproduziert: Es gibt eine grundlegendere Form der Gewalt, welche die Sprache als solche betrifft, da sie ein bestimmtes Bedeutungsuniversum auferlegt.
Zum zweiten gibt es etwas, was ich »systemische« Gewalt nennen möchte; das sind die oftmals katastrophalen Konsequenzen des reibungslosen Funktionierens unseres ökonomischen und politischen Systems. (S. 9f.)

Ein ganz entscheidender Unterschied zwischen subjektiver und den objektiven Gewaltformen betreffe die Sichtbarkeit:

Der Haken dabei ist, dass subjektive und objektive Gewalt nicht vom selben Standpunkt aus betrachtet werden können: Subjektive Gewalt wird als solche vor dem Hintergrund einer Nullebene erfahren, auf der es keine Gewalt gibt; als Störung der »normalen«, friedvollen Ordnung der Dinge. Objektive Gewalt wiederum ist unsichtbar, da sie gerade diese Nullebene aufrechterhält, vor der wir etwas als subjektiv gewalttätig erfahren. Demzufolge verhält es sich mit der systemischen Gewalt wie mit der berüchtigten »Dunklen Materie« in der Physik. Sie ist das Gegenstück zur nur allzu sichtbaren subjektiven Gewalt. Sie mag zwar unsichtbar sein, muss aber trotzdem berücksichtigt werden, will man verstehen, was sonst nur als »irrationaler« Ausbruch subjektiver Gewalt erschiene. (S. 10)

Eine Gefahr bestehe laut Žižek darin, dass die Befassung mit Gewalt verwirrend und oft irrational sei:

"Meine hier zugrunde liegende Prämisse lautet, dass es etwas grundsätzlich Verwirrendes gibt, wenn man sich unmittelbar mit ihr konfrontiert: Der überwältigende Schrecken der Gewaltakte und das Mitgefühl, das man für die Opfer hegt, verführen uns unweigerlich dazu, das Denken einzustellen. Eine leidenschaftslose konzeptionelle Entwicklung einer Typologie der Gewalt muss schon der Bestimmung nach den traumatisch wirkenden Eindruck ignorieren. Es gibt aber auch das Gefühl, dass eine kalte Analyse der Gewalt auf irgendeine Art und Weise deren Schrecken reproduziert und sogar an ihnen partizipiert." (S. 11)
Man erinnere sich an dieser Stelle an den verfälschten Sinn der Dringlichkeit, der den links-liberalen, humanitären Diskurs über die Gewalt durchzieht. In ihm existieren Abstraktion und drastische (Pseudo-)Konkretheit neben einander, wenn die Szene der Gewalt auf die Bühne gebracht wird – gegen Frauen, gegen Schwarze, gegen Obdachlose, Schwule ... »Alle sechs Minuten wird in diesem Land eine Frau vergewaltigt« und »Während sie diesen Absatz zu Ende lesen, verhungern zehn Kinder« mögen dafür nur zwei Beispiele sein. Hinter all dem steckt das scheinheilige Gefühl moralischer Empörung. [...] Wir haben es bei diesen dringlichen Aufforderungen mit einem grundsätzlich anti-theoretischen Ansatz zu tun. Es gibt keine Zeit zu begreifen: Jetzt muss gehandelt werden. Durch dieses verfälschte Gefühl der Dringlichkeit leugnen die post-industriellen Reichen, die in ihren lauschigen Scheinwelten leben, nicht nur die brutale Wirklichkeit außerhalb ihres Lebensbereichs – sie beziehen sich auch noch die ganze Zeit aktiv darauf." (S. 13f.)

In diesem Sinne sei das Buch ein Beitrag, gedanklich einen Schritt zurück zu treten, um an Stelle empathischen Mitgefühls oder moralischer Empörung zu "verstehen, was diese Gewalt verursacht." (S. 15)

Adagio ma non troppo e molto espressivo | SOS Gewalt: Subjektive und objektive Gewalt

Im ersten Kapitel erläutert Žižek das Konzept der drei Modi von Gewalt (subjektiv, systemisch und symbolisch) genauer. Wesentlich sei dabei,

"sich der Faszination, die von der subjektiven Gewalt ausgeht, zu widersetzen. Einer Gewalt, die von gesellschaftlichen Agenten, bösen Individuen, disziplinierenden und unterdrückenden Apparaten ausgeht: Die subjektive Gewalt ist bloß die sichtbarste unter den dreien." (S. 19)

Dabei sei insbesondere die systemische Gewalt zu historisieren:

"Durch den Kapitalismus hat sie eine neue Form angenommen. [...] Der um sich selbst kreisende metaphysische Tanz des Kapitals hält die Suppe am Dampfen und liefert den Schlüssel für das Verständnis der Entwicklungen und Katastrophen des wirklichen Lebens. Und gerade darin liegt die grundlegende systemische Gewalt des Kapitalismus, viel unheimlicher als irgendeine unmittelbare vor-kapitalistische, sozio-ideologische Gewalt. Diese Gewalt lässt sich nicht länger irgendwelchen Individuen und deren "bösen" Absichten zuschreiben, sondern sie ist rein "objektiv", systemisch und anonym." (S. 19f.)
Bill Gates Quelle: wikimedia commons

Ein besonderes Problem liegt laut Žižek darin, dass es einen neuen Typus des "linken Menschen" gebe, den "Liberalkommunisten". Dieser zeichne sich dadurch aus, dass er die systemische Gewalt vollkkommen aus dem Blick verloren habe. Vielmehr widme sich der Typus "Liberalkommunist", dem Einsatz für aktuelle humanitäre Katastrophen. Das greift laut Žižek jedoch zu kurz, da jeder aktuellen humanitären Katastrophe eine systemische Ungerechtigkeit und damit systemische Gewalt zugrunde liege. Wenn als Gewalt nur diese oberflächlichen Phänomene erkannt würden, ändert sich das System nicht, sondern wird gestärkt, die systemische Ungerechtigkeit bleibt bestehen, und bringt weitere humanitäre Katastrophen hervor, die wiederum sofortiges Handeln erfordern. Ein Teufelskreis:

"Their claim is that we can have the global capitalist cake, i.e. thrive as profitable entrepreneurs, and eat it, too, i.e. endorse the anti-capitalist causes of social responsibility and ecological concern." (englische Ausgabe, S. 15)
"Their preferred motto is social responsibility and gratitude: they are the first to admit that society was incredibly good to them by allowing them to deploy their talents and amass wealth, so it is their duty to give something back to society and help people."(S. 20)
"In liberal communist ethics, the ruthless pursuit of profit is counteracted by charity. Charity is the humanitarian mask hiding the face of economic exploitation. In a superego blackmail of gigantic proportions, the developed countries ‘help’ the undeveloped with aid, credits and so on, and thereby avoid the key issue, namely their complicity in and co-responsibility for the miserable situation of the undeveloped."(S. 21)

Paradebeispiel für den Typus "Liberalkommunist" sei Bill Gates:

"Die zwei Gesichter des Bill Gates (...). Der knallharte Geschäftsmann vern9itchtet seine Mitbewerber oder kauft sie sich einfach ein, versucht faktisch eine Monopolstellung für sich zu installieren und benutzt alle nur denkbaren Tricks, um sein Ziel zu erreichen. Währenddessen fragt dieser größte Menschenfreund in der Geschichte der Menschheit mit warmen Ton: 'Was nützt es schon, wenn die Menschen Computer haben, wenn sie gleichzeitig nicht genug zu essen haben?" (S. 27)

Um Gewalt zu bekämpfen, müsste demnach auch die Gruppe dieser "Liberalkommunisten" in den Blick genommen werden:

"Deshalb sind der empfindliche Liberalkommunist – immer ängstlich, sorgenvoll und gegen jede Gewalt – und der blindwütige Fundamentalist, der vor Wut explodiert, zwei Seiten derselben Medaille. Während sie die subjektive Gewalt bekämpfen, sind gerade die Liberalkommunisten die Agenten der strukturellen Gewalt, welche die Bedingungen für die Explosivität der subjektiven Gewalt bereitstellt. Genau dieselben Menschenfreunde, die Millionen für die Bekämpfung von AIDS oder die Erziehung zur Toleranz spenden, haben durch ihre Finanzspekulationen das Leben Tausender ruiniert und damit die Grundlage gerade für die Intoleranz geschaffen, die es zu bekämpfen gilt." (S. 38)

Allegro moderato - Adagio | Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst! Die Politik der Angst

Im 2. Kapitel verortet Žižek die grundsätzliche Ursache der Gewalt in der Angst vor dem Nächsten und zeigt auf, wie sie in der Gewalt verankert ist, die der Sprache selbst innewohnt. Zunächst legt er hierzu dar, wie die Nähe zum Opfer der Gewalt sowohl die Gewaltausübung als auch die Wahrnehmung verändere. Frappierendes Beispiel hierzu sei, "das abstrakte und anonyme Töten von Tausenden zu tolerieren, während man Fälle, bei denen es um Individuen geht, als Menschenrechtsverletzungen brandmarkt."(S. 46), was nach Žižek auch darin begründet sei, dass im Fall von individuellen Menschenrechtsverletzungen das Individuum als "Nähster" erkennbar sei. Die Nähe sei dabei manchmal auch im umgekehrten Fall schmerzhaft, etwa, wenn erkannt wird, dass Kriegsverbrecher gegenüber ihren Freunden und Familien oft sehr warmherzige und fürsorgliche Menschen seien:

"Hannah Arendth hatte Recht: Diese Figuren sind keine Personifizierungen eines byronschen dämonisch Bösen; der Abstand zwischen diesen Alltagsgestalten und dem Schrecken, den ihre Taten zum Ausdruck brachten, war enorm. Die Erfahrung, die wir in unserem Inneren über unser Leben sammeln, die Geschichte, die wir uns selbst über uns erzählen, um unsere Taten zu erklären, ist grundsätzlich eine Lüge – die Wahrheit liegt da draußen, sie liegt nirgendwo sonst, als in diesen Taten selbst. Was das naive ethische Bewusstsein immer wieder überrascht, ist , dass es gerade dieselben Leute sind, die furchtbare Gewalttaten an ihren Feinden verüben, die auch eine warme Menschlichkeit zur Schau stellen können und sich sanftmütig um die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe sorgen. Ist es denn nicht seltsam, dass derselbe Soldat, der unschuldige Zivilisten hinschlachtet, auch bereit ist, sein Leben für die eigene Einheit zu opfern?" (S. 49)

Dabei sei dieses Näheverhältnis zu Gewalt essentiell für jede Ethik. Jede Ethik müsse ihre eigene Distanz oder Nähe zu den Gewalttaten entwickeln, die jeden Tag geschehen, um weiter bestehen zu können:

"Die Frage, die sich hier stellt ist folgende: Muss sich nicht jede Ethik auf die Geste fetischistischer Verleugnung stützen? Muss nicht auch die allgemeinste Ethik irgendwo einen Strich ziehen und irgendeine Art des Elend ignorieren? (...) Man stelle sich den Effekt auf einen Betrachter vor, der ein Snuff-Movie ansehen müsste, das zeigt, was sich auf der Welt tausende Male an jedem Tag ereignet: brutale Folter, das Herausreißen von Augen, das Zerquetschen von Hoden – diese Liste kann unmöglich vervollständigt werden. Wäre der Betrachter in der Lage, so weiterzumachen, wie bisher? Ja – aber nur dann, wenn er oder sie auch dazu in der Lage wäre, zu vergessen (...), was er oder sie gesehen hat. (...) Es wird nun klar, dass jede Ethik von gerade dieser Geste der fetischistischen Verleugnung abhängt." (S. 53)

Im Weiteren versucht Žižek, diese ethischen Näheverhältnisse allgemeiner zu fassen. Eine besondere Rolle käme dabei der Sprache zu. Oft werde eine verbale Lösung von Konflikten als gewaltfreie Lösung aufgefasst. Nach Žižek ist aber auch denkbar, dass Menschen gewalttätiger als Tiere sind, geerade weil sie zu sprechen vermögen. Unter Bezugnahme auf die Psychoanalyseschule von Jaques Lacan legt er dar, dass Sprache selbst strukturell Gewalt beinhaltet:

"Man kann dasselbe Prinzip auf jeden beliebigen politischen Protest anbringen. Protestieren Arbeiter gegen ihre Ausbeutung, dann protestieren sie nicht einfach gegen eine bestimmte Realität, sondern eine Erfahrung ihrer realen Zwangslage erlangt durch Sprache Bedeutung. Die Wirklichkeit selbst in ihrem stupiden Bestehen ist niemals unerträglich. Die Sprache, ihre Symbolisierung, lässt sie erst dazu werden. Gerade dann also, wenn wir es damit zu tun bekommen, dass ein zorniger Mob Autos und Gebäude in Brand steckt, Menschen lyncht und so weiter, dann solten wir niemals vergessen, was auf ihren Fahnen geschrieben steht und auf die Worte hören, die ihre Taten begleiten und mit denen sie sich rechtfertigen." (S. 63f.)

Beispielhaft führt Žižek die Rolle der Sprache zu rassistischer Gewalt aus:

"Das "Sein" der Schwarzen (oder der Weißen oder von irgendjemandem sonst) ist sozio-symbolisches Sein. Wenn Schwarze von Weißen als minderwertig behandelt werden, dann macht sie das in der Tat auch zu solchen und zwar auf der Ebene ihrer sozio-symbolischen Identität. Mit anderen Worten ist die weiße rassistische Ideologie eine performative Leistung. Sie ist nicht bloß eine Interpretation, was Schwarze nun sind oder nicht, sondern eine Interpretation, die das Sein und die gesellschaftliche Existenz der interpretierten Subjekte bestimmt." (S. 67)

Andante ma non troppo e molto cantabile | »Die blut-dunkle Flut bricht los« Ein merkwürdiger Fall phatischer Kommunikation

Im 3. Kapitel analysiert Žižek die Unruhen in den Pariser Vorstädten im Herbst 2005. Dabei geht er speziell darauf ein, dass es kein Programm und keine politische Aussage hinter den Protesten gab. Nach Žižek ging es bei diesen Aufständen allein darum, Sichtbarkeiten zu erzeugen:

"Ihre Aktionen sprachen für sie: Ob es euch gefällt oder nicht – hier sind wir; wie sehr ihr euch auch bemüht uns nicht zu sehen – hier sind wir! (...) Ihre Absicht bestand darin, ein Problem zu schaffen, klar zu stellen, dass sie das Problem seien, von dem man nicht länger absehen dürfe. Deshalb war auch die Gewalt notwendig. Hätten sie einen gewaltfreien Protestmarsch organisiert, dann wäre das in den Zeitungen bestenfalls als kleine Notiz im Lokalteil aufgetaucht." (S. 73f.)

Insofern seien diese Aufstände insofern ohne weitere inhaltliche Bedeutung als in der Sichtbarmachung der Existenz der Akteure. Solchen Phänomenen stehen laut Žižek in einer Reihe mit andere Typen von Gewalt: Selbstmordattentaten und terroristische Anschläge. Diesen Gewalttaten sei allen gemein, dass die Form ein Versuch sei, Sichtbarkeit herzustellen, und gleichzeitig das implizite Eingeständnis der eigenen politischen Ohnmacht beinhalte. Der entscheidende Unterschied sei indes, dass die meisten Selbstmordattentate und terroristischen Anschläge mit absoluter Bedeutung aufgeladen sind, die oft von religiösen Ansichten herrühren. (S. 76) Dabei sei es paradoxerweise so, dass nicht die Anderen Terroristen als minderwertig betrachteten, sondern sie selbst sich "im Geheimen als minderwertig betrachten." (S. 80) Das entscheidende Ressentiment sei deswegen bei solchen Anschlägen im Regelfall der Neid und das Ressentiment. Darum könne es in solchen Konflikten auch oft nicht ausschlaggebend, dass sie Akteure selbst ihre Interessen durchsetzen: Nicht dass Täter gewinnen sei entscheidend, sondern dass die anderen, gegen die sich das Ressentiment richtet, verlieren (S. 82f.):

"Das wahre Ziel dieses Subjekts ist es, das Vermögen oder die Fähigkeiten des anderen, das Objekt zu genießen, zu zerstören." (S. 84)
" Das darf man auf die fundamentalistische Gewalt anwenden – mag es der Anschlag von Oklahoma sein oder der auf die Twin Towers. In beiden Fällen haben wir es mit reinem Hass zu tun. Das einzige Ziel war die Zerstörung – des FBI-Gebäudes oder des WTC – und kein edles einer wahrhaftigen christlichen oder muslimischen Gemeinschaft." (S. 85)

Presto | Antinomien der toleranten Vernunft – Liberalismus oder Fundamentalismus? Eine zweifache Heimsuchung!

Im vierten Kapitel führt Žižek aus, welche Widersprüchlichkeiten der "toleranten Vernunft" innerwohnen. Ein entscheidender Widerspruch der Toleranz läge in der Frage, inwieweit man Intoleranz tolerieren kann (S. 115):

"Am Horizont lauert demnach die alptraumhafte Aussicht auf eine Gesellschaft, die durch einen perversen Pakt zwischen religiösen Fundamentalisten und den politisch korrekten Predigern der Toleranz und dem Respekt vor den religiösen Überzeugungen anderer kontrolliert wird. Eine Gesellschaft also, die sich danach ausrichtet, den anderen nur nur ja nicht zu verletzen, gleichgültig wie grausam und abergläubisch er auch immer sein mag, und die sich in die Rituale vertieft, permanent "Zeugenschaft" für deren Opfer darzulegen." (S. 116)

Statt sich angesichts von Gewalt in Toleranz zu üben, solle genau das Gegenteil passieren. Nach Žižek soll mit umso größerer Unerbittlichkeit die Wurzel der Gewalt angegangen und kritisiert werden:

"In der Regel ist es doch so, dass wir angesichts religiöser Gewalt der Gewalt selbst die Schuld geben: Der gewalttätige oder "terroristische" politische Vertreter ist es, der die noble Religion "missbraucht", und deshalb solle man doch die ursprüngliche Absicht der Religion wieder freilegen und die politische Instrumentalisierung verhindern. Doch was passiert, wenn man dieses Verhältnis umkehrt? Was, wenn die mäßigende Kraft, die uns dazu bringt, unsere Gewalt im Zaum zu halten, ihr heimlicher Auslöser ist? Vielleicht sollte man in diesem Fall auf die Religion verzichten, anstatt der Gewalt abzuschwören." (S. 119)
"Respekt vor den Glaubensüberzeugungen des anderen als höchster Wert an sich kann nur eines von zwei Dingen bedeuten: Entweder wir behandeln den anderen herablassend und versuchen, ihn nicht zu verletzen oder ihm seine Illusionen zu rauben, oder wir übernehmen den relativistischen Standpunkt vielfältiger "Wahrheitsregimes", die das strikte Beharren auf nur einer Wahrheit als gewaltsame Zumutung ablehnen. Doch warum unterzieht man nicht den Islam und alle anderen Religionen einer respektvollen, doch aus diesem Grunde nicht weniger schonungslosen und kritischen Analyse? Das, und nur das, ist der Weg, wie man gegenüber Muslimen wahren Respekt bekundet: Man behandelt sie als ernstzunehmende Erwachsene, die für das, was sie glauben auch verantwortlich sind." (S. 123)

Molto Adagio – Andante | Toleranz als ideologische Kategorie – Die Kulturalisierung der Politik

Im 6. Kapitel geht Žižek der Frage nach, welche ideologische Funktion der Kategorie "Toleranz" zukommt:

"Warum meint man, dass so viele der heute bestehenden Probleme Probleme sind, die aus der Intoleranz resultieren und nicht aus Ungleichheit, Ausbeutung oder Ungerechtigkeit? Warum schlägt man uns Toleranz als Heilmittel vor und nicht Emanzipation oder den politischen – ja, sogar bewaffneten – Kampf? Die Antwort verweist uns ohne Umschweife auf die liberal-multikulturalistische ideologische Grundoperation: Aus die "Kulturalisierung der Politik" (S. 127)

Die Grundoperation besteht darin, dass politische Differenzen, die aus politischer Ungleichbehandlung oder ökonomischer Ausbeutung entspringen, zu kulturellen Differenzen gemacht werden. Indem dann eingefordert wird, dass diese kulturellen Unterschiede toleriert werden müssten, bleibe der Status Quo erhalten. Dabei sei die Warte, aus der diese Kulturalisierung vorgenommen werde, die eines scheinbar kulturlosen Liberalismus (der konsequente Ausübung einer Kultur als Fundamentalismus kennzeichne). De facto habe aber auch dieser Liberalismus eine Kultur: er folge in seiner strukturellen Trennung von öffentlich und privat einer männlichen Ausrichtung, sei individualistisch und intolerant gegenüber anderen Kulturen, bei denen bspw. das Gemeinwesen mehr im Vordergrund stehe. Dabei wendet sich Žižek sowohl gegen einen universalistischen Absolutheitsanspruch der westlichen Kultur, als auch dagegen, andere Kulturen als überlegen zu glorifizieren (S. 133).

Ein Beispiel für die Widersprüchlichkeiten des Liberalismus seien die Menschenrechte, die Abwehrrechte gegen staatliche Gewalt sein sollen. Tatsächlich sei die liberale Kultur tief in die sich universalistisch gebenden Menschenrechte eingeschrieben. Eine Kritik, die diese Einschreibungen (bürgerliche Gleichheit, Freiheit, Demokratie) auf bloßen Schein reduziere (wie im Fall mancher marxistischer Kritiken), greife zu kurz, denn dieser Schein entfalte reale Wirkung.

Der Liberalismus sei darüber jedenfalls in dem Aspekt universalistisch, dass er die Kultur des Kapitalismus sei:

"Der Kapitalismus, dessen Ideologie der Liberalismus ist, ist in der Tat universell. Er wurzelt nicht länger in einer besonderen Kultur oder "Welt".
(...)
Die Universalität des Kapitalismus liegt in der Tatsache beschlossen, dass Kapitalismus kein Name für "Zivilisation" ist, nicht für eine spezielle, kultur-symbolische Welt steht, sondern er ist der Name für eine wahrhaft ökonomisch-symbolische Maschine, die genau so gut mit asiatischen Werten operiert, wie mit allen anderen auch.
(...)
Das Problem des Kapitalismus ist nicht seine geheime eurozentristische Schlagseite, sondern die Tatsache, dass er wirklich universal ist – eine neutrale Matrix gesellschaftlicher Verhältnisse." (S. 139)

Allegro | Göttliche Gewalt – Benjamin mit Hitchcock

Umschlag der englischen Ausgabe

Im letzten Kapitel befasst sich Žižek mit den verschiedenen Darstellungen der Angriffe des 11. September. Einige der Darstellungen würden fast religiöse Motive verwenden, etwa, wenn die Attacken als Angriff Gottes verstanden würden, der das sündhafte Amerika bestrafen wolle. Andere Darstellungen würden die Attacken metaphysisch überhöhen, da ihnen zufolge angesichts der Attacken die Menschen zusammenrücken würden und das Gute in ihnen zur Geltung käme.

Tatsächlich sei etwas wie göttliche Gewalt beispielsweise dann zu erkennen gewesen, als

"vor etwa einem Jahrzehnt die Armen Rio des Janeiros aus den Favelas aufbrachen und in den von den Reichen bewohnten Teilen der Stadt begannen, Supermärkte zu plündern und niederzubrennen. Das war tatsächlich nichts anderes als göttliche Gewalt...Das waren biblische Heuschreckenschwärme, göttliche Strafe für das sündhafte Verhalten der Menschen." (S. 175)

Žižek wendet sich also nicht grundsätzlich gegen Gewalt, sondern kann in ihr auch etwas positives erkennen. Bereits in seinem 2001 erschienenen Buch "Die Tücke des Subjekts" hatte er ähnlich argumentiert:

Wird ein Linker also beschuldigt, dass seine ansonsten lauteren und wohlwollenden Vorschläge im Endeffekt den Grund für den stalinistischen oder maoistischen Terror legen, dann sollte er der liberalen Falle auszuweichen versuchen und diese Anschuldigungen nicht als bare Münze annehmen und sich verteidigen, indem er sich für nicht schuldig erklärt („Unser Sozialismus wird demokratisch sein, Menschenrechte, Würde und Glück respektieren; es wird keine allgemeine obligatorische Parteilinie geben…“): Keineswegs; die liberale Demokratie ist nicht unser endgültiger Horizont. So unangenehm es auch klingen mag, die schrecklichen Erfahrungen des stalinistischen Polit-Terrors dürfen uns nicht dazu bringen, das Prinzip des Terrors selbst aufzugeben – vielmehr sollte man zielstrebiger nach dem „guten Terror“ suchen. Ist die Struktur des wahren politischen Akts der Befreiung nicht per definitionem die einer erzwungenen Wahl und als solche „terroristisch“? Als 1940 die französische Résistance die Einzelnen dazu aufforderte, ihr beizutreten und die deutsche Besatzung Frankreichs aktiv zu bekämpfen, da hieß die implizite Struktur dieses Aufrufs nicht: „Ihr könnt zwischen uns und den Deutschen wählen“, sondern: „Ihr müsst uns wählen! Wenn ihr euch für die Kollaboration entscheidet, dann entsagt ihr eurer eigenen Freiheit!“ Bei einer authentischen Wahl der Freiheit wähle ich das, von dem ich weiß, dass ich es tun muss." (S. 527f.)

Adagio: Epilog

Der Epilog beginnt mit der Feststellung, der Kreis der Untersuchungen habe sich nun geschlossen:

"Unsere Reise führte uns von der Zurückweisung einer falschen Anti-Gewalt-Haltung bis zur Befürwortung emanzipatorischer Gewalt. Wir haben bei der Scheinheiligkeit derjenigen begonnen, die, während sie die subjektive Gewalt bekämpfen, sich der systemischen Gewalt bedienen, die gerade die Phänomene hervorbringt, die sie verabscheuen. Wir haben die grundsätzliche Ursache der Gewalt in der Angst vor dem Nächsten verortet und gezeigt, wie sie in der Gewalt verankert ist, die der Sprache selbst innewohnt." (S. 179)

Das Buch wolle drei Dinge lehren:

"Erstens: Die Gewalt rundweg abzulehnen, sie als »böse« zu verdammen, ist eine ideologische Operation und Mystifizierung, die dazu dient, die fundamentalen Formen der gesellschaftlichen Gewalt unsichtbar zu machen. Es ist zutiefst symptomatisch, dass unsere westliche Gesellschaft, die eine derartige Empfindlichkeit gegenüber allen Formen der Belästigung und Schikane an den Tag legt, sich gegenüber der brutalsten Form der Gewalt so unempfänglich gibt – manchmal sogar auf paradoxe Weise in Form menschenfreundlichen Mitgefühls mit deren Opfern." (S. 179)

Die zweite Lektion sei, dass es schwierig sei,

"richtig gewalttätig zu sein, gewaltsam einen Akt zu setzen, der mit den grundlegenden Maßstäben unseres sozialen Lebens bricht." (S. 179)

Ein "kleiner Skandal" war eine Passage, die teilweise als Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen aufgefasst wurde:

„Ähnlich in Nazi-Deutschland, wo die brutale Auslöschung von Millionen uns nicht über eine entscheidende Tatsache hinwegtäuschen sollte: So verrückt und geschmacklos es auch immer klingen mag, so besteht dennoch das Problem mit Hitler darin, dass er nicht gewalttätig genug war. Die Einschätzung Hitlers, die ihn als Schurken ausweist, der zwar den Tod von Millionen verschuldete, trotzdem aber einer war, der den Mumm hatte bis zum Ende mit eisernem Willen auszuharren, ist nicht nur ethisch gesehen widerlich, sondern darüber hinaus auch einfach falsch: Nein. Hitler hatte nicht »den Mumm«, die Lage wahrhaft zu verändern. Alle seine Aktionen waren nichts weiter als Reaktionen: Er handelte stets so, dass alles beim Alten blieb. Er handelte, um die Möglichkeit eines echten Wandels durch die Kommunisten zu verhindern. Als er die Juden ins Visier nahm, war das eine Verschiebung, die es ihm gestattete, sich dem wahren Feind nicht stellen zu müssen – das Kernstück der kapitalistischen Gesellschaftsbeziehungen selbst anzugreifen. Hitler inszenierte das Spektakel einer Revolution, damit die kapitalistische Ordnung überleben konnte. Die Ironie bestand darin, dass seine großen Gesten, mit denen er zu zeigen trachtete, wie sehr er die bürgerliche Selbstgerechtigkeit verachtete, zu nichts anderem führten als zu deren Fortbestand.
(...)
Versteht man unter Gewalt die radikale Umwälzung der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Ordnung, dann war Hitler (auch wenn es wie gesagt verrückt und geschmacklos erscheint) nicht gewalttätig genug. Will man einen Akt nennen, bei dem wirklich etwas riskiert wurde, für den man wahrhaftig den »Mumm haben musste«, das Unmögliche zu wagen, und der zugleich ein Akt abscheulichen Verbrechens war, ein Akt, der Leiden jenseits jeglicher Vorstellungskraft mit sich brachte, dann sollte man sich an Stalins Zwangskollektivierung Ende der 20er Jahre halten. Doch selbst dieser Aufführung rücksichtsloser Gewalt kulminierte in den großen Säuberungen zwischen 1936 und 1937, und auch diese waren, wieder einmal, eine ohnmächtige passage à l’acte.“ (S. 181f.)

Entscheidend, um in diesem Sinne "richtig" gewalttätig zu sein, sei die dahinter stehende innere Einstellung:

"Es ist daher angebracht, hier mit Nietzsche zu argumentieren und den grundlegenden Unterschied zwischen radikal-emanzipatorischer Politik und derlei Ausbrüchen ohnmächtiger Gewalt dahingehend zu begreifen, dass eine authentische radikale Politik sich aktiv verhält. Politik setzt eine Vision durch, zwingt sie auf. Ausbrüche ohnmächtiger Gewalt hingegen sind grundsätzlich reaktiv, Reaktionen auf einen störenden Eindringling." (S. 184)

Die Frage, wie eine solche "radikal-emanzipatorische Gewalt" aussehen könnte, beantwortet Žižek überraschend in den letzten Zeilen des Buches:

" Besser ist es nichts zu tun, als sich in lokal begrenzte Aktionen verwickeln zu lassen, deren letzte Aufgabe darin besteht, das System umso besser geschmiert am Laufen zu halten (zum Beispiel Akte, die darauf abzielen, neue Subjektivitäten zu generieren). Nicht die Passivität stellt heute die Bedrohung dar. Es ist die Pseudo-Aktivität, dieser Drang »aktiv zu sein«, »teilzunehmen«, mitzuhelfen, das Nichts all dessen, was vorgeht, zu maskieren. Die Leute intervenieren die ganze Zeit, »tun was«; Akademiker partizipieren an bedeutungslosen Debatten und so weiter. Wirklich schwierig ist es, heraus zu treten, sich zurück zu ziehen. Diejenigen, die sich an der Macht befinden bevorzugen oft die »kritische« Teilnahme, den Dialog, und nicht das Schweigen – man braucht uns nur in den Dialog einzubinden um sicher zu stellen, dass unsere verdächtige Passivität gebrochen wird.
Die Enthaltung der Wähler ist folglich ein wahrhaftiger Akt. Nachdrücklich rückt er uns die Leere der heutigen Demokratien vor Augen.
Manchmal ist nichts zu tun die äußerste Gewalt." (S. 187)

Rezensionen und Kritik

Florian Schmid stellte in der Wochenzeitung Der Freitag fest, Žižek hole "die antikapita­listische Philosophie aus dem Elfenbeinturm, offenbart aber auch Geschmacklosigkeit". Ein generelles Problem des Buches läge

in der mangelnden Kohärenz seiner slalomartigen Gesellschaftslesart über die Gesamtlänge des Textes. Auch wenn er stellenweise sehr pointiert schreibt. So bunt der Strauß an anekdotenhafter Abarbeitung semi-aktueller Themen ist – Žižeks Texte beziehen sich im Grunde auf die Nachrichten-Headlines von vorgestern."

Bezogen auf Žižeks Ausführungen zur Gewalttätigkeit Hitlers schreibt Schmid:

Ob Žižeks Argumentation trotzdem eine Relativierung nationalsozialistischer Verbrechen darstellt, darüber lässt sich durchaus streiten. Auf jeden Fall ist sie geschmacklos. Für den Suhrkamp-Verlag, der vor zwei Jahren den jüngsten, neu übersetzten Titel von Žižek, Auf verlorenem Posten, herausbrachte, war das Grund genug, eine ähnliche Passage aus dem englischen Original nicht zu übernehmen. Auf diese bürgerlich-autoritäre Didaktik verzichtet der Laika-Verlag, und so kann sich der Leser hierzulande selbst ein Bild machen.

Adi Quarti bemängelt auf kritisch lesen die maoistischen Ansichten Žižeks:

"Über die Art und Weise, wie Žižek die Symptome der modernen Welt gegen den Strich bürstet, kann man sicher diskutieren, nicht aber darüber, wie hier deren Auswüchse und wohlbekannte Protagonisten (Bill Gates, Georges Soros, Thomas Friedman) kurzerhand zu „Liberalkommunisten“ erklärt werden. An dieser Stelle muss auf Žižeks Werk von 2009, „Auf verlorenem Posten“, verwiesen werden, wo er sich als Maoist zu erkennen gibt."

Žižek stoße wichtige Debatten an, schieße aber an einigen Stellen weit übers Ziel hinaus, so das Fazit von Quarti.

Carl Packman befand im International Journal of Žižek studies, der Text sei geeignet "to penetrate the current political and economic landscape":

"Any further correlation of the conclusions Žižek has reached in his separate studies on violence and his theological turn should be a major philosophical step in breaking down the current political and economic climate."

Insgesamt kam dem Buch weniger Aufmerksamkeit zu, als anderen Werken von Žižek.

Weblinks