Geschichte von unten

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Geschichte von unten befasst sich mit historischen Prozessen aus der Sicht von Personen(gruppen) mit wenig Macht und Einfluss, also z.B. aus der Sicht einfacher Soldaten statt der Strategen, aus der Sicht von Gefangenen statt der Justiz, aus der Sicht von Verelendeten statt aus der Sicht der Sozialpolitiker und aus der Sicht der Patienten in psychiatrischen Kliniken statt aus derjenigen des Leitungspersonals.

Geschichte von unten wird z.B. von der französischen Annales-Schule und von denjenigen betrieben, die sich in den USA im Rahmen der Social History (Grassroots History; history from below) mit der Geschichte der Bürgerrechtsbewegung in den 1950/1960er Jahren befassen.

Als Meilenstein in der Geschichte von unten gilt "The Making of the English Working Class" (1963) des britischen Historikers Edward P. Thompson.

Nach Bernd Hüttner entwickelte sich in Deutschland die Praxis einer Geschichte von unten in drei Schritten:

  • Traditionelle Geschichtswissenschaft ("Große Männer machen Geschichte")
  • Gesellschaftsgeschichte mit der Betonung auf Klassen und Schichten, technischen Innovationen und Ökonomie.
  • Alltagsgeschichte mit der Betonung auf Individuen, Alltag, subjektivem Erleben und der kollektiven Organisation in sozialen Bewegungen.

Bezüge

  • Kritische Historie im Sinne Friedrich Nietzsches. Die Rekonstruktion der Geschichte "von unten" dient den "Leidenden und der Befreiung Bedürftigen", die Nietzsche erwähnt, zur Lokalisierung der Gründe für ihre Misere und der Aufdeckung von Chancen der Befreiung aus dem Elend.
  • Historischer Materialismus im Sinne Walter Benjamins. Im Sinne der vierten geschichtsphilosophischen These dient die Rekonstruktion der Historie "von unten" der Aufdeckung des Unscheinbaren und Spirituellen in der Vergangenheit, was "als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem Kampf lebendig" war und "immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen" wird: "Wie Blumen ihr Haupt nach der Sonne wenden, so strebt kraft eines Heliotropismus geheimer Art, das Gewesene der Sonne sich zuzuwenden, die am Himmel der Geschichte im Aufgehen ist."
  • Erinnerung vs. Geschichte im Sinne Benjamins. Im Sinne der sechsten geschichtsphilosophischen These widmet sich die Artikulation des Historischen nicht (nur) der Erkenntnis, "wie es denn eigentlich gewesen ist", sondern einer Bemächtigung einer Erinnerung, "wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klasse herzugeben. In jeder Epoche muß versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriff steht, sie zu überwältigen. Der Messias kommt ja nicht nur als der Erlöser; er kommt als der Überwinder des Antichrist. Nur dem Geschichtsschreiber wohnt die Gabe bei, im Vergangenen den Funken der Hoffnung anzufachen, der davon durchdrungen ist: auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein. Und dieser Feind hat zu siegen nicht aufgehört."


Methode

"Forschungsschwerpunkte und Fragestellungen werden autonom entwickelt und sind nicht verordnet vorgegeben; der Forschungsprozeß der (Laien-)Historiker ist als kollektiver Lernprozeß konzipiert; das Forschungsinstrumentarium wird nicht ungeprüft aus wissenschaftlicher Tradition und Konformität übernommen, sondern dem Forschungsgegegenstand gemäß angewendet; Umwege werden bewußt in Kauf genommen, da kein unmittelbarer wissenschaftlicher Verwertungszusammenhang besteht; kooperatives Arbeiten wird der Konkurrenz entgegengesetzt; vor allem aber bleiben die ermittelten Informationen und erarbeiteten Zusammenhänge kein Geheimwissen, das in Studierstuben und Bibliothek verstaubt, sondern werden öffentlich gemacht und 'teilnehmeradäquat' der dörflichen oder städtischen oder verbandseigenen Öffentlichkeit weitervermittelt." (Gerhard Paul, Bernhard Schoßig)

Literatur

  • Ankele, Monika (2009) Alltag und Aneignung in Psychiatrien um 1900. Selbstzeugnisse von Frauen aus der Sammlung Prinzhorn. Wien, Köln, Weimar: Böhlau.
  • Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte. Münster 1994., ISBN 3-924550-95-6
  • Evans, Richard (1989) Kneipengespräche im Kaiserreich. Die Stimmungsberichte der Hamburger Politischen Polizei 1892-1914. Reinbek: Rowohlt. ISBN 9783499185298.
  • Hannes Heer/Volker Ullrich: Geschichte entdecken. Erfahrungen und Projekte der neuen Geschichtsbewegung; Reinbek 1985., ISBN 3-499-17935-0
  • Sven Lindqvist: Grabe wo du stehst. Handbuch zur Erforschung der eigenen Geschichte. Bonn: Verlag J.H.W. Dietz Nachf. 1989, ISBN 3-8012-0144-9 (schwedisches Original: 1978)
  • Gerhard Paul, Bernhard Schoßig (Hrsg.): Die andere Geschichte. Geschichte von unten, Spurensicherung, ökologische Geschichte, Geschichtswerkstätten Köln 1986 ISBN 3-7663-0946-3
  • Edward P. Thompson: The Making of the English Working Class 1963
  • Howard Zinn: A People's History of the United States (1980, revised 1995) ISBN 0-06-052837-0

Weblinks

  • Bernd Hüttner: Geschichte von unten und radikale Linke [[1]]


Aufbauend auf: Geschichte von unten in: Wikipedia (dt.) [[2]]