Gerechte Gesellschaft

Eine gerechte Gesellschaft ist eine Gesellschaft mit einer normativ richtigen Grundordnung, die in der Praxis auch gelebt und erlebt wird. Eine gerechte Gesellschaft ist nicht willkürlich, nicht ausbeuterisch, nicht grausames "Recht des Stärkeren" und sie ist sicherlich auch keine Gesellschaft ohne Mitgefühl für andere Menschen und ohne Achtsamkeit gegenüber anderen Geschöpfen. Was allerdings genau eine gerechte Ordnung ausmacht - und wie diese zu realisieren wäre - sind zwei seit der Antike umstrittene Fragen. Während sich die Idee der Gerechtigkeit von der Antike bis zum 20. Jahrhundert immer nur auf die jeweils Lebenden - und meist nur auf die in einem relativ engen Raum Lebenden - bezog, ist der Bremer Hochschullehrer Felix Ekardt (2005) der Ansicht, dass man nicht mehr sagen kann, dass ein Zusammenleben von Menschen gerecht ist, wenn es nicht auch die Gerechtigkeit zwischen den Völkern dieser Erde und zwischen den (jetzigen und künftigen) Generationen mit einbezieht. Seine Arbeit ist womöglich ein Meilenstein auf der Suche nach der Begründung, Bestimmung und Realisierung einer gerechten Gesellschaft, weil sie gute Argumente für die Möglichkeit der Benennung einer universal gerechten Grundordnung enthält. Aus der normativen Vernunft ergeben sich zwingende Argumente dafür, dass ein gerechtes Zusammenleben zwei Voraussetzungen hat: Achtung und Unparteilichkeit. Eine universal gerechte Ordnung ist demnach eine liberale Ordnung aus den Elementen der Vernunft, der Würde (Achtung), der Unparteilichkeit und Freiheit. Das ist nicht nur Ekardts Meinung, sondern es ist eine philosophisch begründete Position, die sich seiner Meinung nach gegen alle tatsächlichen und denkbaren Einwände erfolgreich - d.h. mit den besseren Argumenten - verteidigen lässt.

Felix Ekardt

Grundbegriffe, Grundthesen

Die Basis einer gerechten Gesellschaftsordnung kann nur in der Vernunft liegen. Genauer: in der normativen Vernunft (vgl. Ekardt 2005: 21 f.). Zu sehen, was gerecht ist, ist Aufgabe der normativen Vernunft. Zu realisieren, was als Gerecht erkannt wurde, ist Aufgabe der instrumentellen Vernunft. Es geht um die effektive Umsetzung dessen, was gerecht wäre. "Effektivität bezeichnet die Wirksamkeit z.B. von politisch-rechtlichen Steuerungsinstrumenten im Hinblick auf ein als richtig vorausgesetztes Ziel wie etwa die Nachhaltigkeit" (2005: 34).

Normative Vernunft ist die menschliche Befähigung zu begründeten - und zwar womöglich universal begründeten - Wertungen; genauer: "die Befähigung, über die Richtigkeit von Ordnungen/Normen/Zielen/Präferenzen/Wertungen und ihre Abwägung untereinander mit Gründen zu entscheiden. Sie bildet das Gegenstück zur wertungsfreien instrumentellen Vernunft, die nach effketiven Mitteln zur Verwirklichung ihrerseits nicht weiter hinterfragter Ziele sucht (und zur ebenfalls wertungsfreien theoretischen = nicht handlungsbezogenen Vernunft z.B. des Naturwissenschaftlers ...)" (2005: 33).

Da aber niemand die gesamte Vernunft gepachtet hat und man deshalb nie endgültig Klarheit über die besten Prinzipien erlangen kann (weil also substantialistische Maßstäbe für eine gerechte Gesellschaft fehlen), ist es ein Gebot der Vernunft, allen Menschen die Chance zu geben, sich ungezwungen zu äußern und zu verhalten und gegebenenfalls auch ihren Beitrag zur Optimierung der Verhältnisse zu leisten. Das geht nur, wenn jeder Menschen jeden anderen Menschen achtet - und zwar als autonomes Wesen achtet. Die Vernunft selbst hat also die Gebote der "Achtung" und der "Autonomie" zur Folge.

Insofern muss eine gerechte Gesellschaft immer auch eine liberale Gesellschaft sein: liberal allerdings im Sinne der Achtung der Freiheit, nicht im Sinne mancher "Marktliberaler" oder "Neoliberaler".

"Liberalismus ist hier einfach die Lehre, die diejenige Grundordnung für gerecht hält, die gut und womöglich universal begründet ist, also der normativen Vernunft entspricht. Diese liberaler Vernunft unterscheidet sich dabei von anderen Lehren, die sich z.T. ebenfalls vernünftig nennen, durch ihren kritizistischen Anspruch, also durch ihre Reflexivität: Liberale Normen werden, noch ungeahctet aller Details nicht religiös oder aus rein faktisch gelebten Sitten deduziert. Vielmehr werden vorfindliche Traditionen kritisch auf rechtfertigende Gründe befragt" (2005: 40).

Ein richtig verstandener Liberalismus ist dann nicht nur eine Auffassung neben anderen, sondern die einzig mögliche Grundlage einer gerechten Gesellschaft. Tatsächlich behauptet Felix Ekardt beweisen zu können, "dass Menschenrechte und Demokratie für alle Völker dieser Welt gerecht und geboten sind (universale Gerechtigkeit)" (2005: 22).

Darüber hinaus ist der der Ansicht, dass eine Gesellschaft heutzutage nur dann als gerecht bezeichnet werden kann, wenn sie ihre Maßstäbe des Gerechten auch gegenüber künftigen Generationen und gegenüber räumlich entfernten Erdbewohnern einlösen kann (=Generationengerechtigkeit, globale Gerechtigkeit).

Ekardt glaubt auch (mittels einer transzendentalen Argumentation) beweisen zu können, dass Gerechtigkeit vier Elemente beinhaltet: Vernunft, Würde, Unparteilichkeit und Freiheit.

Das Erfordernis der Vernünftigkeit einer politischen Grundordnung

1. Was bedeutet "vernünftig"?

Vernunft ist das menschliche Vermögen, Wertungsfragen mit Gründen zu entscheiden; vernünftig bedeutet "begründet". Da nun aber keine Möglichkeit besteht zu wissen, wer wann die besten Gründe liefern wird, um die letzten Wertfragen zu entscheiden - weil also substantialistische Maßstäbe dafür fehlen - ist eine Ordnung nur dann vernünftig, wenn sie jedem Menschen (heutigen und künftigen, über alle Grenzen hinweg) mit Achtung vor seiner individuellen Autonomie entgegentritt und ihm ganz unparteiisch genau so viel Raum zur Artikulation seiner Gründe gibt wie allen anderen. Achtung vor allen anderen Individuen und vor ihrer freien Meinung ist also eine Konsequenz der Vernünftigkeit einer sozialen Ordnung - ebenso wie es auch die Unparteilichkeit ist.

Wer selber Gründe anführt, würde sich zu sich selbst in Widerspruch setzen, wenn er nicht allen anderen ebenfalls die Möglichkeit freier Argumentation gäbe. "Jemand, der in einem Gespräch Gründe gibt, dann aber dem Gesprächspartner die Achtung streitig macht, widerspräche sich ergo selbst, weil er das leugnet, was sein Reden in Gründen als Diskursregel logisch impliziert. Andernfalls wäre ja kein freies Sich-Überzeugen mit Gründen möglich. "Und sofern ein Gerechtigkeitsdiskurs geführt wird, muss, wieder mangels substantialistischer Maßstäbe und wegen der auf gleiche freie Überzeugung gerichteten Kategorie Grund, sowohl der Ablauf als auch das Ergebnis allgemein zustimmungsfähig, also unparteiisch, sein. Dies ist die Begründung der liberalen Basis - und sie ist universal, weil sie an die humane Praxis des Sprechens in Gründen anknüpft und damit alle Kulturgrenzen übersteigt" (Ekardt 2005: 62 f.).

Gerecht ist eine politische Grundordnung nach E. "dann, wenn sie dem Achtungs- und dem Unparteilichkeitsprinzip genügt (...) und daraus Freiheitsrechte und Demokratie herleitet. Freilich ist die Richtigkeit (...) nur gegeben, wenn die Ordnung (...) die Freiheitsrechte zeitneutral und auch (...) global-zwischenstaatlich anerkennt (sich also der Nachhaltigkeit öffnet) und (...) den Freiheitsbegriff neu interpretiert" (2005: 59).

Ekardt bricht mit altliberalen Vorstellungen, denen zufolge die Freiheitsrechte ausschließlich Rechte des Bürgers gegen staatliche Bevormundung und Eingriffe darstellen. Er spricht von der Multipolarität der Freiheit (als der Schutzrichtung der Freiheit gegen Staat und Mitbürger) - vgl. 2005: 130.

Zitate aus "Das Prinzip Nachhaltigkeit"

"Nachhaltigkeit bzw. nachhaltige Entwicklung meint das Ziel, dass unsere Kinder und Kindeskinder auch morgen noch etwas auf dem Teller haben - und dass überhaupt erstmals alle Menschen dieser Welt etwas auf den Teller bekommen. Es geht also um eine lebenswerte, freiheitliche und friedliche Erde für alle Menschen" (S. 25).

Die vier Nachhaltigkeitsregeln bezeichnen "als Konkretisierung der intertemporalen und internationalen Gerechtigkeit, dass (1) erneuerbare Rohstoffe nur unter Beachtung der Nachwachsraten genutzt ("Regenerativen-Regel"), (2) nicht-erneuerbare Rohstoffe sparsam bzw. unter Berücksichtigung ihrer Substituierbarkeit verwendet ("Sparsamkeits-Regel"), (3) die Assimilationsgrenzen des Naturhaushalts beachtet und Schädigungen des Klimas sowie der Ozonschicht vermieden ("Assimilations-Regel") und (4) Gefahrne und Risiken z.B. durch schädliche Stoffeinträge weitgehend vermieden werden sollen ("Gefahrne- und Risiken-Regel") (...) Hinzutreten könnte im Sinne physischer Grundbedürfnissicherung eine elementare Existenzsicherung für alle einschließlich Rente und elementarer Bildung (weltweit) ebenso wie Fragen des Staatshaushaltes" (S. 29 f.).

"Ohne eine neu fundierte Lehre von der gerechten Grundordnung und eine Neuinterpretation unserer Verfassungen, ohne ein auf beiden Ebenen neuformiertes Freiheitskonzept, vor allem aber ohne mehr Generationengerechtigkeit und Gerechtigkeit zwischen dne Völkern diesre Erde können wir nicht länger sagen, dass unser Zusammenleben gerecht ist. Und ohne ein neues Konzept politischer Steuerung wird die Politik als Mittler unserer Konflikte endgültig scheitern. Ganz besonders die Jahrhundertaufgabe Nachhaltigkeit, unter die wir die Generationen- und die globale Gerechtigkeit seit kurzem begrifflich fassen, wird ohne ein solches Konzept nicht zu meistern sein" (S. 9).

"Liberale Gesellschaften haben fast jedem ihrer lebenden Bürger ein Maß an Freiheitlichkeit und Wohlstand beschert, von dem Menschen früherer Jahrhunderte nur träumen konnten. Doch unser Recht und unsere Moral scheinen sich - wie wohl stehts, seit es Menschen gibt - immer noch auf die Konfliktlösung unter zeitlich und räumlich zusammenlebenden Menschen zu beschränken, und dies in einer informationell vernetzten Welt, in der wir uns wegen des erreichten wirtschaftlich-technischen, auch kriegswaffentechnischen Entwicklungsstandes für alle Zukunft darauf einstellen müssen, dass die Folgen unseres Handelns weit über uns und unser Land hinauswirken - räumlich global und zeitlich weit in die Zukunft hinein" (S. 11).

"Daher sind die normative Vernunft und die Folgerungen Achtung, Unparteilichkeit, Freiheit für alle Menschen die universale Basis. Weder die Vernunftbasis der Grundordnung noch die liberalen Prinzipien selbst können wir noch zurückweisen, sobald wir auch nur einmal im Leben mit Gründen gestritten haben. Dann sind wir, selbst wenn wir jetzt plötzlich nur noch schweigen, im Universalismus gefangen. Warum? Weil alle potentiellen Gesprächspartner Adressat unserer einmal geäußerten Gründe sind und uns so fortwährend binden - und weil auch die unauflösliche Verflechtung von Diskurs und Handeln ein Netz normativer Bindungen über uns wirft" (S. 66).

"Freiheit soll es ja gerade deshalb geben, damit jeder ein eigenständiges Leben führen und auf je eigene Weise sein Glück suchen kann, ohne dass der Staat darin Vorgaben machen darf. Trotzdem müssen unsere Freiheitsrechte die elementaren Freiheitsvoraussetzungen garantieren und damit auch ein Recht auf Leben, Gesundheit und Existenzminimum" (S. 120).

Freiheit darf nicht länger die pauschale Befugnis sein, "andere beliebig zu beeinträchtigen, ohne mit den Folgen konfrontiert zu werden. Vielmehr muss Freiheit gerade ein Gebot enthalten, nicht die Folgen meiner Freiheit auf andere abzuschieben: also ein Junktim von Freiheit und Folgenverantwortlichkeit ("Verursacherprinzip"). Ist es denn etwa mit einer freiheitlichen Ordnung vereinbar, dass ich durch meine freien Handlungen andere, auch räumlich und zeitlich weit entfernte Menschen beeinträchtige, diese Folgen aber als etwas "Fremdes" von mir weise?" (S. 123).

Literatur

Ekardt, Felix (2005) Das Prinzip Nachhaltigkeit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit. München: C.H. Beck.

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