Freiheitsvoraussetzungen

Freiheitsvoraussetzungen sind die materiellen Bedingungen, ohne welche es kein freies Leben geben kann. Zu den Freiheitsvoraussetzungen zählen elementare Lebensbedingungen wie z.B. Atemluft und Trinkwasser und darüber hinaus ein Minimum an Bildung und Geld (oder "Vermögen"). Ohne sie gibt es keine Entfaltungsmöglichkeiten und damit keine wirkliche, über die Worthülse hinausgehende Freiheit (vgl. Ekardt 2005: 119 ff.). Jenseits dieser "elementaren" gibt es auch "weitere" Freiheitsvoraussetzungen, die über das Elementare hinausgehen. Also z.B. die Existenz von Kinderbetreuungsmöglichkeiten (Kindertagesstätten, Kindergärten), von Universitäten, von kulturellen Einrichtungen wie Museen, Kinos und Theatern. Nach Ekhardt dürfen Beschränkungen der Freiheit der Bürger nur im Interesse der Gewährleistung der unmittelbaren und der weiteren Freiheitsvoraussetzungen vorgenommen werden. Die elementaren und die weiteren Freiheitsvoraussetzungen unterscheiden sich insofern, als jeder Bürger zwar einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen hat, nicht aber auf die weiteren. Letztere können nur objektiv eine Freiheitseinschränkung begründen (z.B. Steuerpflicht zur Finanzierung von Kindergärten).

Ein freies (würdiges) Leben ist für diejenigen unmöglich, die keinen Zugang zu all diesen Voraussetzungen haben. Allein was das Trinkwasser angeht, so leben gegenwärtig 2,6 Milliarden Menschen (darunter fast eine Milliarde Kinder) - vor allem in Südostasien und in Afrika südlich der Sahara - ohne sanitäre Grundversorgung, d.h. mit verschmutztem Wasser, ohne Toiletten und mit nicht entsorgten Fäkalien. 88% aller Durchfallerkrankungen werden dadurch verursacht. Jährlich sterben daran 1,5 Millionen Menschen (insbesondere Kinder unter 5 Jahren. Der Staatssekretär im Bundesentwicklungsministerium Erich Stather erklärte dazu 2008: "Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind an den Folgen einer Krankheit, die durch mangelhafte hygiene, verschmutztes Wasser oder mit Keimen verunreinigte Nahrung verursacht wird. In vielen Entwicklungsländern ist mangelnde Sanitärversorgung eines der größten, häufig tödlichen Gesundheitsrisiken für Kinder" (FAZ, 19.08.08: 13).

Ähnlich dramatisch ist die Verhinderung eines freien Lebens für diejenigen Menschen, denen der Zugang zu den anderen oben genannten Bedingungen der Möglichkeit eines freine (würdigen) Lebens fehlt.

Ihre Bedeutung erhalten die Freiheitsvoraussetzungen erst in einem politischen und menschenrechtlichen Zusammenhang. Wenn man nämlich - wie Ekardt (und alle liberalen politischen Theoretiker) - die Freiheit als obersten Wert einer sozialen Ordnung ansieht, dann hängt alles davon ab, wie man Freiheit definiert und was genau gemeint ist, wenn man davon spricht, dass es ein Menschenrecht auf Freiheit gibt.

Insbesondere zwei Fragen sind von besonderer Bedeutung:

(1) Inwiefern umfasst das Recht auf Freiheit und Autonomie auch ein Menschenrecht auf die Voraussetzungen der Freiheit?

(2) Inwiefern kann der Staat das Recht auf Freiheit und Autonomie zum Schutz der Umwelt oder zum Schutz der Bürger vor Terrorangriffen einschränken oder aufheben?


Das Menschenrecht auf die elementaren Voraussetzungen der Freiheit

Sollte es ein Menschenrecht auf saubere Atemluft, sauberes Trinkwasser, auf elementare Bildung und elementare finanzielle Mittel geben, damit das Grundrecht auf Freiheit und Würde mit Leben erfüllt werden kann und für die Armen nicht hohles Versprechen bleibt?

Die klassisch-liberale Theorie verneint diese Frage. Sie tendiert dazu, Freiheit nur als Abwesenheit von Zwang zu definieren und die Frage der Freiheitsvoraussetzungen zu einer Privatangelegenheit der jeweiligen Individuen zu erklären. "Wenn jemand die z.B. bildungsmäßigen oder finanziellen Voraussetzungen für seine Freiheit nicht mitbringt, ist dies für klassische Liberale kein Problem der Grundrechte" (Ekardt 2005: 119). Das kann gegenüber denjenigen, die z.B. ohne Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten in einem Slum leben und nicht einmal Zugang zu sauberem Trinkwasser haben, leicht zynisch wirken. Auf der anderen Seite ermöglicht es den Reichen und Mächtigen, ihre Freiheit zu ökonomischen Aktivitäten zum reinen Eigennutz und auf Kosten der Umwelt, der Mitmenschen und der künftigen Generationen zu gestalten und auf diese Weise letztlich die Freiheitsvoraussetzungen für andere und für spätere Menschen zu zerstören.

Die sozialistische Theorie bejaht diese Frage. Sie tendiert dazu, Freiheit und Wohlfahrt zusammen zu denken und es zur Pflicht des Staates zu erklären, den Bürgern sämtliche wünschenbaren Freiheitsvoraussetzungen zu garantieren. Das würde dem Staat die Pflicht und das Recht zur Etablierung eines riesigen Wohlfahrtsstaates einräumen und schnell zu dem Paradox einer freiheitsvernichtenden wohlfahrtsstaatlichen Diktatur führen. Die Aufnahme schlichtweg aller Freiheitsbedingungen in den Schutzraum des Menschenrechts auf Freiheit würde "leicht einen totalitären und in jede Lebensregung intervenierenden illiberalen Staat heraufbeschwören. Und dann wäre die Grundordnung keine auf Freiheit und Autonomie hin ausgerichtete mehr. Freiheit soll es ja gerade deshalb geben, damit jeder ein eigenständiges Leben führen und auf je eignee Weise sein Glück suchen kann, ohne dass der Staat darin Vorgaben machen darf" (Ekardt 2005: 120).

Felix Ekardt schlägt als Ausweg aus der doppelten Freiheitsgefahr, die sich aus der liberal-defizitären Berücksichtigung von Freiheitsvoraussetzungen einerseits und der sozialistisch-übertriebenen Gewährleistung von Freiheitsvoraussetzungen andererseits ergibt, als dritten Weg ein Verständnis des Menschenrechts auf Freiheit und Autonomie vor, das (nur, aber dafür unbedingt) auch die elementaren Freiheitsvoraussetzungen umfasst. Der Anspruch auf die Freiheitsvoraussetzungen ergibt sich aus dem Menschenrecht auf Freiheit, Würde und Autonomie. Freiheit ist also nicht das Sahnehäubchen auf dem Grundrecht auf Leben - irgendein Luxusrecht, das erst nach Schaffung der anderen Voraussetzungen überhaupt zum Tragen kommen kann - sondern das Recht des Menschen schlechthin, von dem sich alle anderen Rechte ableiten und dessen Inhalt selbst schon die elementaren Voraussetzungen der Möglichkeit von Freiheit umfasst. Nur so lässt sich ihm zufolge in der politischen Wirklichkeit die doppelte Freiheitsgefährdung durch einen zynischen Raubtierkapitalismus einerseits und durch eine freiheitsvernichtende Öko-Diktatur andererseits vermeiden.


Einschränkungen des Rechts auf Freiheit und Autonomie zum Schutze der Umwelt oder der inneren Sicherheit

Wie steht es mit der Notwendigkeit, die Freiheit aus Gründen der Sicherheit (vor Terrorangriffen) oder aus Gründen er Erhaltung der Umwelt und damit der Lebensgrundlagen der Menschheit einzuschränken? Gibt es nicht Wichtigers als die Freiheit, wenn zum Beispiel das Überleben einer ganzen Gesellschaft oder der Menschheit auf dem Spiel steht?

Felix Ekardt zeigt sich - anders als andere liberale Philosophen, die in diesem Zusammenhang auch die Zulässigkeit einer Art Öko- oder Sicherheitsdiktatur erwägen - von diesem Argument wenig beeindruckt. Für ihn gibt es keine "Überrecht" auf Leben oder Sicherheit, das dem Recht auf Freiheit vorgelagert sein könnte: das höchste Recht ist und bleibt das Recht auf Freiheit, Autonomie und menschliche Würde. Das, was andere Denker als Überrecht ansehen, ist für ihn lediglich eine Voraussetzung für die Möglichkeit von Freiheit, also Freiheitsvoraussetzung damit ein Teil des Menschenrechts auf Freiheit. Daraus ergibt sich dann für ihn auch eine originelle Lösung des Dilemmas zwischen Freiheit und Sicherheit:

"Für meine Integration der elementaren Freiheitsvoraussetzungen in das generelle Recht auf Freiheit sprechen nicht nur allgemein die Freiheit und die Notwendigkeit, die Bedingungen eines würdigen (autonomen) Lebens zu garantieren. Für sie spricht vielmehr auch, dass nur so die doppelte Freiheitsgefahr abgewehrt wird: Indem die materiellen Existenzbedingungen in den Freiheitsbegriff integriert und nicht etwa der Freiheit als Überrecht vorangestellt werden, welches sodann beliebige Freiheitseinschränkungen deckt, wird die Idee einer Ökodiktatur ebenso zurückgewiesen wie die einer entgrenzten ökonomischen Freiheit. Denn nur so wird der Lebensgrundlagenschutz stets daran erinnert, dass er freiheitlich sein muss. Auf diese Weise entwertet man die ständigen Entschuldigungen z.B. Chinas, ein armes Land müsse den Hunger bekämpfen, wobei jedes, auch jedes freiheitszerstörende Mittel recht sein müsse. Das Recht auf die Existenzminimumsaspekte Nahrung, Atemluft, Sicherheit gegen Hunger, Unbildung, Naturkatastrophen, Kriege, Verbrechen anderer Menschen usw. ist eben kein Selbstzweck, für den man jederzeit z.B. die Presse- oder Versammlungsfreiheit opfern kann (wie Hans Jonas meint); die Existenzminimumsaspekte sind erst um unserer Autonomie willen wichtig. Darum muss die physische Existenz einer unter mehreren Aspekten der Freiheit sein - und nicht etwas sie Überragends, wie auch ein John Rawls kurz vor seinem Tod erwogen hat. 'Sicherheit als Selbstzweck' impliziert dagegen stets ein paternalistisches (oder ein hobbesianisches, autoritär-liberales) Staatsverständnis. Frieden usw. ist also Freiheitsvoraussetzung - und als solche ein globales Recht" (Ekardt 2005: 121 f.).


Man kann die Bedeutung der Freiheitsvoraussetzungen in der politischen Rechtsphilosophie von Felix Ekardt so zusammenfassen:

(1) Freiheit als Menschenrecht umfasst auch die elementaren Freiheitsvoraussetzungen

(2) Die elementaren Freiheitsvoraussetzungen (z.B. das Recht auf Leben) gehören nicht zu einer Art Überrecht, das dem Recht auf Freiheit vorangestellt ist, sondern sie sind selbst Teil des Freiheitsrechts

(3) Einschränkungen des Freiheitsrechts sind nur dann gerecht und erlaubt, wenn sie zum Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen (also um der Freiheit selbst) willen notwendig sind.


Insofern sind die Prinzipien der Nachhaltigkeit - der Respekt vor der Umwelt, vor den anderen und den künftigen Menschen auf dem Globus - schon Teil des Rechts auf Freiheit, die in die Bestimmung des Inhalts und der Grenzen der Freiheit des Einzelnen mit einfließen. Die Freiheit von Zwang - tun und lassen zu können, was man will - darf nur um dieser Aspekte der Freiheit willen eingeschränkt werden. Das ist der springende Punkt in der Argumentation mit den Freiheitsvoraussetzungen und in der Neuinterpretation der Menschenrechte (Grundrechte) und das entscheidende Kriterium für eine gerechte soziale Ordnung überhaupt.


Relevanz

Vielfach versteht man unter Freiheit nur die Abwesenheit von Zwang. Frei ist man, wenn man nicht gezwungen wird, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen. Diese (altliberale) Auffassung von Freiheit betont in der Praxis besonders die wirtschaftliche Freiheit und tendiert dabei zur Ausblendung negativer Handlungsfolgen für andere Menschen sowie der Kollision mit den Rechten anderer auf Leben, Gesundheit und das Existenzminimum. Damit lädt die altliberale Freiheitsauffassung "sozusagen zur egoistischen Nutzenmaximierung ein, ohne normativ rational zu einer unparteiischen, den Mitbürgern gleichermaßen Achtung entgegenbringenden Perspektive aufzufordern" (Ekardt 2005: 114).

Diese Art der Ausübung von Freiheit droht sich ihrer eigenen Grundlagen zu berauben und damit mittelfristig selbst zu vernichten. Da aber nur eine freiheitliche Ordnung eine gerechte und universal richtige Ordnung sein kann, muss diese Art der Selbstvernichtung der Freiheit durch ihre Ausübung verhindert werden. Möglich ist das nur, wenn man den Begriff der Freiheit vorsichtig erweitert und zur Garantie der Freiheit auch die Garantie der Freiheitsvoraussetzungen hinzurechnet. Das Menschenrecht auf Freiheit würde dann nicht nur die Abwesenheit von Zwang für die aktuell lebenden Individuen umfassen, sondern auch die Möglichkeit zur Freiheit (im sinne von Zwangsabwesenheit und autonomer Selbstentfaltung) für weit entfernte und künftige Individuen.

In einer zukunftsfähigen und globalen Konzeption der Gerechtigkeit (und der Menschenrechte) ist Freiheit also die Abwesenheit von Zwang für alle Menschen in Gegenwart und Zukunft (und Nord und Süd) zuzüglich der elementaren Voraussetzungen für Würde, Autonomie und Selbstentfaltung.


"Trotzdem müssen unsere Freiheitsrechte die elementaren Freiheitsvoraussetzungen garantieren und damit auch ein Recht auf Leben, Gesundheit und Existenzminimum. Dieses Recht muss es bekanntlich schon deshalb geben, weil es Diskursvoraussetzung ist (...) Denn wenn unser Sprechen in Gründen die Freiheit garantiert, impliziert das zugleich, dass auch solche elementaren Voraussetzungen mit gleicher Festigkeit und Durchsetzbarkeit (also subjektivrechtlich) garantiert sind, ohne die es keinesfalls Freiheit geben kann - andernfalls garantiert man eben gerade keine Freiheit im Sinne von voller, an der Autonomie orientierter Entfaltungsmögichkeit" (Ekardt 2005: 120).

"Somit ist ein Freiheits- und Menschenrecht auf die elementaren Freiheitsvoraussetzungen geboten - durch die allgemeine Gerechtigkeitslehre, aber auch durch unsere Verfassungen, die von Würde und Freiheit sprechen und ergo die gleiche Argumentation tragen. Wir alle, auch junge, künftige und in armen Ländern lebende Menschen, haben damit dieses Recht Und wie wir schon (...) sahen, umfasst jenes Recht auch Topoi wie Atemluft, ein stabiles Globalklima oder den Zugang zu sauberem Trinkwasser" (Ekardt 2005: 120).

Probleme

  • Begrifflich schwierig erscheint das Verhältnis von Freiheit zu Freiheitsvoraussetzungen und Freiheitsausübung. Zum einen sind die Voraussetzungen von X nicht dasselbe wie X und auch nicht ein Teil von X. Insofern ist es formallogisch nicht ganz überzeugend, die Freiheitsvoraussetzungen zum Schutzbereich der Freiheit zu zählen. Des weiteren lässt sich argumentieren, dass eine verarmte Person zwar die Freiheit hat, um die Welt zu reisen, wenn sie will, aber dass sie diese Freiheit nicht ausüben kann, solange sie kein Geld für ein Ticket hat. Eine gewisse ökonomische Ausstattung ist also nicht die Voraussetzung für Freiheit, sondern nur für die Ausübung der Freiheit. Insofern ist die Freiheitsvoraussetzung nichts anderes als die Voraussetzung für die Freiheitsausübung. Die Abgrenzung Ekardts (2005: 119 f.) zwischen Freiheitsvoraussetzungen und Freiheitsausübung(svoraussetzungen) ist insofern nicht zwingend.
  • Politisch schwierig erscheint die Unschärfe der Trennlinie zwischen den "elementaren Freiheitsvoraussetzungen", die menschenrechtlich Teil des (subjektivrechtlichen) Anspruchs auf Würde und Autonomie sein sollen, und den "weiteren Freiheitsvoraussetzungen" (bis hin zu sämtlichen Freiheitsvoraussetzungen), die auf keinen Fall Teil des Anspruchs der Individuen sein dürfen, weil das Bemühen des Staates um deren Realisierung in eine Wohlfahrtsdiktatur münden würde.

Literatur

  • Ekardt, Felix (2005) Das Prinzip Nachhaltigkeit. Generationengerechtigkeit und globale Gerechtigkeit. München: C.H.Beck.