Das Schiff auf hoher See galt selbst Sozialisten wie Friedrich Engels ("Von der Autorität", 1872) als Beispiel für die gelegentliche Notwendigkeit diktatorischer Vollmachten. Die politische Struktur der karibischen Freibeuter war ihm wohl nicht bekannt gewesen. Jedenfalls litt das Gewerbe der Freibeuter in der Karibik keineswegs unter der Tatsache, dass sich die seeräuberischen Gemeinschaften durch die Einigung auf eine egalitäre Satzung - die sog. Artikel - gründeten und sich auch danach verhielten. Diese "Artikel" bestimmten in meist recht ähnlicher Weise, dass jeder Mann eine Stimme, gleichen Zugang zu Lebensmitteln und jederzeit auch zu den Spirituosen hatte (ausgenommen, wenn eine Rationierung aufgrund vorübergehender Knappheit im Interesse aller notwendig war). Bevorzugungen - wie z.B. das Recht auf das Entern eines Beutschiffes - wechselten nach dem Rotationsprinzip; Streitigkeiten durften nur an Land ausgetragen werden; die Besatzung verpflichtete sich zur Zahlung von Invalidenrente für im Einsatz verkrüppelte Genossen. Auch die Aufteilung der Beute wurde in den Artikeln geregelt. So bekam der Kapitän meist zwei Beuteanteile, Funktionsträger bekamen zwischen einem und zwei - und sonstige Mitglieder der Mannschaft einen Anteil. Die Kapitäne selbst wurden aus der Mittte der Mannschaft per Mehrheitsentscheid gewählt. Kapitäne konnten aber auch abgesetzt werden, denn die Macht blieb in erster Linie beim "Rat", d.h. der Versammlung aller Besatzungsmitglieder.

Die Herrschaftsfreiheit der Piraten resultierte wohl zum einen aus der Reaktanz gegenüber dem normalen Seemannsdasein, das im 17. und 18. Jahrhundert durch die oft unerträgliche Willkür eines diktatorischen Kapitäns gekennzeichnet war. Zum Piraten wurde man ja nicht zuletzt immer wieder auch durch eine erfolgreiche Revolte gegenüber dem eigenen Kapitän - und immerhin die Hälfte aller Revolten erwies sich in dieser Epoche als erfolgreich. So lässt sich auch erklären, dass sich die Piratenkultur recht parodistisch zu Staatlichkeit und Autorität verhielt - man denke zum Beispiel an die karnevaleske Kleidung der Piraten und ihrer Flaggen, ihre "Hochschätzung der Völlerei, des Zechens, von Musik und Tanz". Nimmt man dann noch ihren ökonomischen und politischen Egalitarismus dazu, dann erscheint das Piratenschiff nicht anders als die Piratenverkleidungsmanie im heutigen Karneval als Ausdruck der Sehnsucht nach Freiheit und Abenteuer, nach Negierung aller Autorität und als Versuch, die Welt der Notwendigkeit auf den Kopf zu stellen (vgl. Speckmann 2009).

Literatur

  • Haude, Rüdiger (2008) Frei-Beuter. Charakter und Herkunft piratischer Demokratie im frühen achtzehnten Jahrhundert. Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 56, Heft 7/8.
  • Speckmann, Thomas (2009) Teuflische Kostümierungen der Egalität. Piraten als Demokraten in einem undemokratischen Zeitalter. FAZ 28.01.09: N3.