Erfundene Memoiren

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Erfundene Memoiren sind fiktive, aber dem Publikum als authentisch dargestellte Lebensgeschichten von Ich-ErzählerInnen. Gelegentlich werden diese Memoiren von der Literaturkritik in höchsten Tönen gelobt und finden eine große Leserschaft, bevor sich herausstellt, dass die AutorInnen die dargestellten Ereignisse gar nicht selbst erlebt hatten. Solche (betrügerischen) Handlungen ähneln (anderen) Formen der Hochstapelei, doch während "der klassische Hochstapler nach oben zielte und gern als ungarischer Adliger auftrat, gehen die neuen in die tiefste Hölle" (Jäger 2008). Ihr Reputation leihen sie sich nicht vom Adel, sondern von den Opfern der schlimmsten Menschheitsverbrechen.


Fälle

  • Misha Defonseca/Monique de Wael. Eine dramatische Lebens- und Leidengeschichte im Zusammenhang mit dem Holocaust von Misha Defonseca berichtete von einem Mädchen, das in den 1940er Jahren alleine auf der Suche nach ihren Eltern durch Europa irrte - geschützt und genährt von Wölfen. Das Buch erhielt positive Kritiken - basierend auf dem Respekt vor den Leiden der Opfer. Dann stellte sich heraus, dass die Autorin in Wirklichkeit Monique de Wael hieß, dass ihr literarisches Vorbild eigentlich eher das "Dschungelbuch" von Rudyard Kipling war und sie selbst "ungefähr so jüdisch wie Mowgli" (The Times).
  • Margaret B. Jones/Margaret Seltzer. Das Buch "Love and Consequences" erschien als Autobiographie von Margaret B. Jones, die angeblich von Indianern abstammte und von einer Adoptionsfamilie zur nächsten gereicht (und sexuell missbraucht worden) war. Dann folgen Drogenmissbrauch und -handel, das Erleiden von Massenvergewaltigungen durch Jugendbanden in Los Angeles und vieles andere mehr. - Das Buch wurde von der TV-Berühmtheit Oprah Winfrey lobend vorgestellt. - Tatsächlich handelt es sich um eine erfundene Geschichte einer wohlbehütet bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsenen weißen Mittelschichtsautorin (M. Seltzer), die eine Privatschule besucht hatte. Ihre Involviertheit in Delinquenz war dennoch spätestens seit den Delikten, die sie beging, um ihr Buch zu lancieren, eine reine Tatsache. Nur waren es eben andere Delikte: "Sie schaffte Zeugen für ihre Bandenkarriere bei, einen Professor, der sie für absolut glaubwürdig hielt - und sie unterzeichnete einen Verlags-Vertrag, in dem sie sich zur Wahrheit der Darstellung verpflichtete" (Jäger 2008). Der Verlag musste 19000 Exemplare zurückrufen. Wer das Buch schon gekauft hatte, wurde entschädigt. Allerdings kosteten Exemplare bei e-bay nach dem Auffliegen des Schwindels schon um die 50 Euro.
  • Binjamin Wilkomirski/Bruno Doessekker. "Seine Geschichte von der Kindheit in Konzentrationslagern entpuppte sich vor zehn Jahren als literarisch hochbegabte Flunkerei. Daniel Ganzfried, der Sohn eines Lagerüberlebenden, hatte sich von dem gern weinend auftretenden Doessekker nicht beeindrucken lassen, er war ihm auf die Schliche gekommen und dabei gleich noch jenen Frauen, dei seinen Unterstützerkreis gebildet hatten: der Literaturkritikerin Klara obermüller (sie sprach von der 'Rückgewinnung einer verlorenen Identität' und fügte an: 'Wer daran rühen will, muss sich im Klaren sein, was er tut'), Doessekkers damaliger Ehefrau, dann der Psychoanalytikerin Alice Miller, schließlich seiner Literaturagentin. Sie all waren auf das Kindchenschema hereingefallen, das Doessekker so überaus glaubwürdig vorspielte" (Jäger 2008).

Reaktionen

Die Öffentlichkeit reagiert mit Entrüstung auf derlei Phänomene. Caldwell (2008) meint, man sehe darin eine Art Sakrileg. Die Gegenwart verfüge über keinen positiven Wertekanon mehr, nur noch über eine Ersatzidentität aus Opfer-Verehrungen. Wer zu einer verfolgten Minderheit gehört, hat Zugang zur Gewinnung einer Position moralischer Autorität. Wer nicht, der hat einen signifikant eingeschränkten Zugang dazu. Daher die Attraktivität "geliehener" Identität als Opfer in der Form selbstbeigebrachter (angeblich von Neonazis beigebrachten) Verletzungen (Hakenkreuz-Einritzungen im Gesicht) oder auch in der Form der "geliehenen" Autobiographie. Es ist eine Konkurrenz um das "kulturelle Kapital" der aus der Opfereigenschaft folgenden moralischen Autorität.

Literatur

  • Caldwell, Christopher (2008) Tall tales of the would-be victim. aufgerufen am 13.03.08 unter: http://www.effedieffe.com/content/view/2420/183/
  • Jäger, Lorenz (2008) Das Drama eines weiteren begabten Kindes: Wilkomirski, Defonseca und jetzt Margaret Seltzer - sie flunkern uns ihr Leben vor. FAZ 06.03.08: 44.