Der Selbstmord (Durkheim 1897)

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

In dem Werk "Der Selbstmord" (Durkheim 1897) vertrat der französische Soziologe die Auffassung, dass angesichts der unterschiedlichen Suizidraten in unterschiedlichen Ländern die üblichen Erklärungen des Suizids mit Geisteskrankheit, Rasse/Vererbung, Jahreszeiten, Nachahmung etc. nicht stimmen könnten. Ursächlich seien vielmehr der Grad der sozialen Integration der Gesellschaft (Grad der Verflechtung sozialer Netzwerke) und der Grad der gesellschaftlichen Regulierung (Maß, in dem Wünsche und Emotionen der Menschen durch gesellschaftliche Normen geregelt werden). Er nahm einen kurvenlinearen Zusammenhang (also U-förmig) zwischen dem Grad Sozialer Integration und Selbstmord (sowie zwischen dem Grad gesellschaftlicher Regulierung und Selbstmord) an.

Bei extrem hoher oder extrem niedriger sozialer Integration der Gesellschaft trete Suizid häufiger auf:

  • altruistischer Selbstmord“ bei zu hoher sozialer Integration (nicht genügend ausgeprägte Individualität als Folge, z.B. in „primitiven“ Gesellschaften, wo Selbstmord als gut betrachtet wird, bzw. die Nicht-Tötung mit Sanktionen belegt ist)
  • egoistischer Selbstmord“ bei zu niedriger Integration (z.B. in protestantischen Gemeinden, weniger stark sozial vernetzt, zu viel Individualität).

Der Zusammenhang gelte ebenfalls für den Grad gesellschaftlicher Regulierung:

  • extrem starke Regulierung fördere den „fatalistischen Selbstmord“ (z.B. bei Sklaven; überhöhte Regulierung des Lebens des Individuums)
  • extrem schwache Regulierung provoziere den „anomischen Selbstmord“ (keine gesellschaftlich vorgegebene Begrenzung der zur Entgrenzung neigenden individuellen Bedürfnisse und Wünsche, diese können nicht erfüllt werden => Anomie => Selbstmord, häufiger in modernen Industriegesellschaften).

Durkheim verstand den Suizid als selbstbestimmte und bewusste Handlung des Täters. Der Tod des Selbstmörders sei die Folge seiner eigenen Handlung. Der Selbstmörder müsse nicht identisch sein mit der Person, die die lebensbeendende Handlung durchführt. Die bewusst in Kauf genommene Todesstrafe könne z.B. dann als eine Form von Selbstmord bezeichnet werden (vgl. auch heute: „victim-precipitated homicide“(1) „Suizide-by-Cop“(2) ). Durkheim wollte in seine Definition von Selbstmord auch das Kriterium Wille zum Tod des Opfers (als soziologisch beobachtebare Kategorie in Form des Verzichts auf Leben) mit einbeziehen, um die Kategorie des Selbstmordes stärker von anderen menschlichen Todesfällen abzugrenzen, welche ebenfalls auf ein bestimmtes Handeln des Opfers zurückzuführen sind. Durkheims vollständige Definition von Selbstmord lautet:

Anmerkungen

(1)Marvin Wolfgang (1958): Das Verhalten eines Mord-Tatopfers ist durch unbewusste Suizidwünsche motiviert; die Opfer provozieren andere zur Tötung um auf diesem Weg ihre unbewussten Wünsche zu befriedigen.

(2)Ähnliche psychische Dynamik wie„victim-precipitated homicide“; Personen die oft eindeutig suizidgefährdet sind, verhalten sich so, dass sie die zum Tatort gerufenen Polizisten dazu provozieren, zu töten, z.B. zur Selbstverteidigung. Die Opfer greifen die Polizisten an und bedrohen ihr Leben, den tödlichen Folgen ihrer Handlungen sind sie bewusst.