Der NSA-Komplex

Das SPIEGEL-Buch von Marcel Rosenbach, Holger Stark (2014) Der NSA-Komplex: Edward Snowden und der Weg in die totale Überwachung. München: DVA, wurde von Nils Minkmar in der FAZ besprochen.

Als der US-Präsident den UN-Generalsekretär zu einer vertraulichen Unterredung traf, wusste er schon, was kommen würde: seine Geheimdienste hatten ihm "den Sprechzettel des Generalsekretärs schon vorab besorgt. Der NSA war es gelungen, auch die geheimsten Kommunikationswege der Vereinten Nationen zu entschlüsseln. Der Spion, der diesen Vollzug in einem Bericht meldete, fügte auch die modische Gefühlsbezeugung 'Yay!' ein, als gelte, es, Punkte zu machen in einem globalen Brettspiel. Während der Arbeit an der Ausforschung der Vereinten Nationen bemerkten die NSA-Teams allerdings auch die Präsenz des chinesischen Geheimdienstes. Die Kollegen versuchten ebenfalls, die verschlüsselten Kommunikationswege der Vereinten Nationen auszuspionieren, und das kam der NSA ganz gelegen. Sie zapften einfach die chinesischen Agenten an, so bekamen sie alle gewünschten Daten und noch einige mehr."

Während die portionsweise Veröffentlichung von Snowdens Informationen zu einer serialisierten Wahrnehmung mit kurzen dramatischen Spitzen der Erregung führte, denen dann die von Beschwichtigungsversuchen der politisch Handelnden gekennzeichneten Latenzphasen folgten, überwindet die zusammenhängende Darstellung die alltägliche Abwehr und eröffnet dem Leser "die ganze Dimension des widerrechtlichen und fortschreitenden Machtmissbrauchs durch amerikanische Institutionen. Und weil die Programme immer in Anwendungen und Fallgeschichten dargestellt werden – zum Teil handelt es sich ja um stolze Darstellungen der Leistungskraft der NSA für den internen Gebrauch –, liest sich das Buch wie der Roman zum Kriminalfall des Jahrhunderts. Edward Snowden war, dies machen die Autoren deutlich, kein x-beliebiger oder gar wegen mangelnder Karrierechancen frustrierter kleiner Angestellter, sondern wurde vielmehr früh aufgrund seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten bemerkt und gefördert. Kollegen beschreiben ihn als besonders begabten Mitarbeiter, der in jedem Team als der Beste galt. Er erfasste daher, statt sich an der Bewältigung einzelner Operationen zu erfreuen, nach und nach das gesamte Ausmaß der Programme und kam zu einem unabweisbaren rechtlichen und moralischen Urteil. Und es ist ihm gelungen, ein Set von Dokumenten mitzunehmen, die die internen Auswerter der NSA ganz offen als „die Schlüssel zu unserem Königreich“ bezeichnen. Ohne Snowdens heldenhaften Verrat hätten selbst Profis nicht für möglich gehalten, in welchem Umfang, mit welcher Ruchlosigkeit und welcher kriminellen Energie spioniert wird. Die Autoren machen ohne Sensationslust klar, dass es sich hier um eine planmäßige, mit schier unendlichen Mitteln und großem politischem Willen betriebene Subversion des Rechtsstaats handelt.

Recht und Gesetz existiert nur in einer begrenzten Sphäre Nahezu die gesamte digitale Kommunikation wird früher oder später zu einem Instrument der amerikanischen Dienste, deren Mission keine Grenzen kennt. Die oft zitierte Terrorabwehr, das Trauma des 11.Septembers 2001, sind nur die massentauglichen Verkaufsargumente, die die Öffentlichkeit ruhigstellen sollen, bis endgültig alles verwanzt, verdrahtet und jedes Quentchen Vertrauen und Vertraulichkeit ausgehöhlt ist.

Wir würden ohne Snowdens Dokumente nicht glauben, dass Recht und Gesetz nur in einer begrenzten Sphäre gelten, die wir bisher für das ganze Universum hielten. Doch darüber und darunter sind ganz andere, ziemlich effektive Kräfte am Werk, und es scheint nicht so, als reichte der Einfluss einer Bundesregierung dorthin. Ohne Furcht und ohne jeden Respekt wurde nicht allein das Telefon der Kanzlerin abgehört.

Im Buch dargestellte Indizien legen auch den Schluss nahe, dass so ziemlich jede wichtige Figur aus Politik und Wirtschaft hierzulande, bis hin zu Mittelständlern der IT- Branche, zu einer ahnungslosen Quelle sammelwütiger Dienste geworden ist. Dabei werden zunächst einzelne Mitarbeiter ins Visier genommen, etwa über manipulierte Homepages beliebter Anbieter wie LinkedIn, dann deren engste Kollegen, schließlich deren Familien, der Freundes- und Bekanntenkreis, bis man so ziemlich alle Kontakte, Kommunikationen und Bewegungen beieinanderhat.

Es scheint nicht vorzukommen, dass die NSA und ihre befreundeten Organisationen auch mal ablehnen, irgendetwas auszuforschen. Was gemacht werden kann, wird gemacht. Und das Ziel ist klar: Zugriff auf alle digitalen Endgeräte, jederzeit. In einem wie von Jorge Luis Borges imaginierten allumfassenden Sammelwahn soll eine geheime digitale Parallelwelt errichtet werden, in der alle verfügbaren Informationen im Interesse der jeweiligen Auftraggeber so lange bearbeitet werden können, bis das Gewünschte herauskommt. Das Datensammeln, das wird jedem Leser klar, dient keiner guten Sache, es ist durch kein Gesetz gerechtfertigt, sondern Selbstzweck eines sich selbst autorisierenden, von der eigenen Überlegenheit berauschten Komplexes aus Geheimdiensten, zuarbeitenden Unternehmen und der politischen Führung in den Vereinigten Staaten.

Snowden hat mit seinem persönlichen Mut in idealistischer Absicht die höchsten Orden verdient – wofür haben wir solche Auszeichnungen denn sonst? Ohne seine Aktion würden wir weiter in jenen Illusionen leben, die die Dienste so sorgsam für uns inszenieren, so wie jene treudoofen Nutzer der auf den großen Gipfeln der Politik errichteten Internetcafés, in denen man kostenlos mailen und surfen konnte, während kleine Programme jede Tasteneingabe unmittelbar an die Sammler von der NSA und ihre britischen Kollegen weitergaben. Dieses Buch zerstört solche Illusionen und lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Und es wird klar, dass es so nicht weitergehen kann."

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