Constitutive Criminology

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Entstehung

Die Constitutive Criminology wurde ursprünglich von Stuart Henry und Dragan Milovanovic entworfen und geht, ihrer Selbstauskunft folgend, auf eine Reihe von Gesprächen zwischen ihnen zurück. Beide arbeiteten in den 1980ern, bis dato unabhängig, an verschiedensten Ideen, die heute als Teile ihrer Theorie gelten (hierzu zählt hauptsächlich die von Stuart Henry entworfene „integrated theorie“ als Ergebnis seiner Studien zu Kriminalität und sozialer Kontrolle) welche in den 1990ern entwickelt wurde. Der Begriff Constitutive Criminology als solcher ist ein Vorschlag Christine Harringtons aus einer, offensichtlich konstruktiven, Kritik an einer 1983 von Henry verfassten Schrift. Er wurde seitdem übernommen.

Definition

Die Constitutive Criminology versteht sich als affirmativer Ansatz,zur Begründung einer positivistisch-postmodernen Kriminologie, die sich insbesondere durch ihren rekonstruktiven Anspruch, sowohl von modernen Kriminalitätstheorien als auch einem skeptisch-destruktiven Postmodernismus abgrenzen will. „Constitutive“ (zu deutsch: gestaltend/aufbauend) soll in diesem Zusammenhang auf die Reflektierung der Erkenntnis postmoderner Gesellschaften verweisen, die jeden Einzelnen einerseits als Ergebnis, andererseits als Mitgestalter ihrer Umwelt sieht und der somit das Potential für ihre „friedlichere Umgestaltung“ birgt.

„ ..deconstruction and reconstruction are essential co-components for developing a less harmful world: a contingent revisable world, ever open to change, accommodating of emerging and emerged social forms, but having shape and substance (Milovanovic/Henry 1996).”

Ihren Autoren zufolge basiert die Constitutive Criminology auf dem postmodernen Dekonstruktivismus, dem symbolischen Interaktionismus, der Phänomenologie und dem strukturellen Marxismus. Vor diesem Hintergrund ist sie gewissermaßen ein Versuch, den Postmodernismus (erneut) zu erklären und ihn, in einem weiteren Schritt, für die Kriminologie zugänglich zu machen. Sie versteht sie sich als synthetische Weiterentwicklung verschiedenster Theorien unterschiedlichster wissenschaftlicher Herkunft und führt hin zur fünften, und somit bisher höchsten, Stufe einer semiotischen Transformation des Marxismus nach Bergesen:

„In summary then our constitutive approach (…) begins with the strenghts and limitations inherent in: the insights of Lacau and Mouffe; the notion of hyperreality developed by Baudrillard; the semiotics of Saussure and Lancan; the autopoesis/dissipative structure theses; the paralogism of Lyotard; the structuration theory of Giddens; the dialogical paedagogy of Feire; the summary representation hypothesis of Knorr-Cetina; the calls for destruction or “reversal of hierarchies” of Dierra (Milovanovic/Henry 1996, S.69).”

Cowling zufloge sind für ihre praktische Anwendung aus dieser, an anderer Stelle noch erweiteren Liste, insbesondere eine spezielle Interpretation Lacaus als auch die Chaos Theorie zu nennen. Letzte wird herangezogen um zu belegen, dass kleine Ursachen große Wirkung haben können und daher nichts wirklich vorhersehbar ist.

Kriminalitätsbegriff

Die Kriminalitätsdefinition ist, basierend auf einer postmodernen, daher hoch-komplexen Gesellschaftsform, sehr weit gefasst. Sie sieht Kriminalität im Wesentlichen als „harm“ ( zu deutsch: Leid/Schaden), resultierend aus einem betrieben Aufwand zur Herstellung von „harm-producing relations of power“ (Henry/Milovanovic 1999, S.7). In „Constitutive Criminology – Beyond Postmodernism“ wird Kriminalität wie folgt definiert:

„…crime is the expression of some agency`s energy to make a difference on others and it is the exklusion of some agency`s energy to make a difference on others and it is the exklusion of those others who in the instant are rendered powerless to maintain or express their humanity (Henry/Milovanovic 1996, S.115).”

Dieser Definition zufolge handelt es sich bei Kriminalität um ein sehr umfassendes Ereignis sozialer Interaktion. Es ist eine sozial-konstruierte, diskursiv-konstituierte Kategorie, die als Überbegriff für eine „brutale Subsummierung“ unterschiedlichster Formen menschlicher Konflikte herhält und als neue Begrifflichkeiten, beispielsweise in Form von „violent crime“ oder „property crime“, re-differenziert wird. Entgegen „herkömmlicheren“ Kriminalitätsdefinitionen fallen unter der rezitierten Definition ebenfalls Vorgänge wie „business practices, governmental policies, hierarchical social relations, historically social relations, historically contingent constitutive interrelational sets and a lot of what occurs in familiy life (Milovanovic/Henry, S.116).“ Kriminalität wird als ein Moment der Ausübung von Macht beschrieben, das sowohl von Völker, sozialen Gruppen, Parteien, Institutionen oder den Staat ausgeübt werden kann und deren Opfer, eine demokratische Teilhabe am Aushandlungsprozess sowohl für den Moment, als auch möglicherweise für die Zukunft, verwehrt bleibt: „Crime, then, is the power to deny the others their ability to make a difference(...). It is the ultimate form of reinfication in which those subjekt to the power of another agency suffer the pain of being denied their own humanity (...)(Henry/Milovanovic 1996).”

Kriminalpolitische Implikation

Von zentraler Bedeutung für eine kriminalpolitische Praxis ist der so genannte „replacement-discourse“. Dieser „Ersetzungsdiskurs“ de-konstruiert alte Konzepte und Vorstellungen und re-konstruiert gleichzeitig neue Begriffe, Ideen und Unterscheidungen, die unter anderem dazu führen sollen, den Begriff der Kriminalität erfolgreich zu erweitern. Als Beispiel hierfür wird neben Foucault und Christie, u.a. Sutherlands erfolgreiche Implementierung der „White collar crime“ herangezogen. In diesem Sinne wird den Kriminologen der Auftrag erteilt, sich gewissermaßen als „Kulturrevolutionäre“ in etablierte Diskurse einzumischen um dort den geforderten „replacement-discourse“ zu initiieren. Dieser soll in der Praxis zu neuen Umgangsformen und Handlungsstrategien führen. Als Ziel einer entsprechenden, strukturellen Transformation gilt hierbei der von Roberto M. Unger entworfene „Superliberalism“.


Als Beispiele für eine erfolgreiche Annäherung an das Konzept der Constitutive Criminology werden für die kriminalpolitische Praxis „just-community“ Konzepte oder „narrativer Therapien“ genannt, Opferhilfe geschieht dabei hauptsächlich in Form von Selbsthilfegruppen oder in Projektarbeit, beides Formen des Empowerment, das auch aus der Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit bekannt geworden ist.(vgl. hierzu bspw. Herriger, Empowerment oder Mullaly, Structural Social Work).

Kritik

Der folgende Abschnitt bezieht sich auf zwei kritische Quellen zur Constitutive Criminologie, zum einen auf eine Rezension des Buches Constitutive Criminology aus dem Jahr 1996 von Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, zum anderen auf einen 2006 erschienenen Artikel im „Internet Journal of Criminology“ von Mark Cowling mit dem Titel „Postmodern Policies? The Erratic Interventions of Constitutive Criminology“.

Ludwig-Mayerhofer`s recht kurz ausgefallene Besprechung kritisiert in ihrem Kern die Art und Weise der analytischen Herangehensweise des Buches. Die bereits im ersten Unterpunkt zitierte Autorenliste, die von den Verfassern zur Erklärung ihrer Theorie herangezogen werden, kritisiert er als „lose Aneinanderreihung von Theorien“, die als Erklärung für einen affirmativen Postmodernismus herhalten sollen, der zumindest im Rahmen dieses Buches, nicht analytisch hergeleitet werden kann und im wesentlichen aus wenig prägnanten und keineswegs nachweisbaren Daten besteht. Die von Milovanovic/Henry verfasste Kriminalitätsdefinition sieht er darüber hinaus als zu umfassend und wenig reflektiert an („ Ich habe mich verwundert gefragt, warum das Problem, ob es sinnvoll ist, alles Böse der Welt als „Verbrechen“ zu bezeichnen, überhaupt nicht diskutiert wird- oder besser gesagt: warum die Autoren hier offenbar überhaupt kein Problem sehen“), so dass er im Endeffekt zu einem, wie sich bereits vermuten lässt, von Skepsis geprägten Fazit kommt. Er sieht in der Constitutive Criminology lediglich eine weitere „moderne“ Kriminologie eine, die theoretisch die „allerjüngsten Angebote des sozialwissenschaftlichen Marktes (…) zubereitet“ und so auf den (aller)neusten Stand gebracht wurde (Ludwig-Mayerhofen in KrimJ, S.225). Einschränkend erkennt Ludwig-Mayerhofen hierbei jedoch an, dass es den beiden Autoren mit ihren Ausführungen im Kern nicht um die von ihm kritisierte Belegbarkeit ihrer Theorienbildung, sondern letztlich um die Begründung einer kritischen Kriminologie geht, „welche die Subjekte aus ohnmächtigen machenden Strukturen befreien und Herrschaft (auch die der Experten angreifen)- oder besser gesagt untergraben- möchte (Ludwig-Mayerhofen in KrimJ, S.226).“

Um die möglichen positiven Effekte der Anwendung der Constitutive Criminology geht es Mark Cowling. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sie (mit einer Einschränkung, nämlich Williams/ Arrigos Anarchietheorie), über nur wenige und konkrete Maßnahmen einer ganzheitlichen politischen Strategie verfüge („They lack consistent theoretical rationals“) und daher hauptsächlich Verwirrung stifte. Die von einer entsprechenden Praxis profitierenden Gesellschaftsgruppen gehen zurück auf eine „moderne“ Kategorisierung, die im grundsätzlich zunächst im Widerspruch zur Constitutive Criminology als postmoderner Ansatz steht. Cowling sieht ferner die von der Constitutive Criminology nicht berücksichtigte Möglichkeit der schon bestehenden Einflussnahme von entsprechenden Minderheiten bzw. Opfern von Kriminalität auf eine (sozialdemokratische) Partei. Als Beispiel nennt der den gegenwärtigen Einfluss feministischer Gruppierungen auf die englische Regierung. Seiner Argumentationslinie über die Schwächen der Constitutive Criminology folgend kommt er zu der Überzeugung, dass eine auf der kritischen Kriminologie aufbauende, neue Theorie, die einen marxistischen Ansatz mit Hilfe von feminstischen und liberalen Elementen modifiziert werden würde und „an awarness of some of the features of the real world which have been emphasized by post-modernists“(das auch noch!), dem Constitutive Criminology Ansatz vorzuziehen wäre.

Literatur

  • Henry,S./Milovanovic, D., Constitutive Criminology – Beyond Postmodernism, New York 1996.
  • Henry,S./Milovanovic, D., Constitutive Criminology at Work: Applications to crime and justice, NewYork 1999.
  • Ludwig-Mayerhofen, W., Buchbesprechung Stuart Henry/Dragan Milovanovic: Constitutive Criminology. Beyond Postmodernism, in: Kriminologischen Journal, 30.Jg, H.3, S.223-228, Hamburg 1998.

Weiterführende Literatur

  • Milovanovic, D., Postmodern Criminology, Justice Quarterly 13, 1996.
  • Milovanovic, D. Postmodern Criminology, New York: Garland Publishing, 1997.
  • Milovanovic, D. Chaos, Criminology, and Social Justice: the New Orderly (Dis)Order, Westport: praeger,1997.
  • Mullalay, B., The New Structural Social Work, Oxford University Press,2006.
  • Herriger R., Empowerment in der Sozialen Arbeit, Kohlhammerverlag 2006.
  • Unger, R. M., False Necessity, New York 1987.
  • Bergensen, The Rise of the Semiotic Marxism, Sociological Perspesctives 36, 1993, S.1-22.
  • Williams, C. R. and Arrigo, B. A., Theory, Justice and Social Change: Theoretical Integrations and Critical Applications, New York 2004.

Internetquellen

  • Cowling, M., Postmodern Policies? The Erratic Interventions of Constitutive Criminology, Internet Journal of Criminology 2006 in: www.internetjounalofcriminology.com [1]
  • Henry, S., and Milovanovic, D.‘Constitutive Criminology: Origins, Core Concepts, and Evaluation’ Social Justice, Vol. 27, No. 2, 268. Questia. 9 Nov. 2006 in: www.questia.com/PM.qst?a=o&d=5001793345 [2]