Blutrache

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Die Blutrache (in Süditalien: Vendetta; in Montenegro krvna osveta) ist ein Prinzip der vergeltenden Gerechtigkeit und Ausdruck des Reziprozitätsprinzips, bzw. des Talionprinzips ("Auge um Auge, Zahn um Zahn"). Allerdings können nicht nur Tötungen durch Tötungen gerächt werden, sondern u.U. auch Entführungen, Ehebruch oder Verleumdung.

Die Blutrache gehört zu den prä- und parastaatlichen Vor- bzw. Frühformen des Rechts. Kodifiziert wurde sie z.B. im Kanun des Lekë Dukagjini. Heute ist die Blutrache vor allem in ländlichen Gegenden des Balkans (Kosovo, Albanien), in Ostanatolien sowie in Teilen Ostasiens und Amerikas verbreitet.

Normierungen

Kriminalität

Staatlicherseits sind Akte der Blutrache als Straftaten Gegenstand der Strafverfolgung.

Regeln

Die Blutrache ist hochgradig normiert. Dies betrifft die Parteien der Blutrache (die Familien, den Clan), die Anlässe für Blutrache, die dafür erlaubten Opfer, Zeitpunkte und Orte.

So sind zum Beispiel Frauen grundsätzlich keine erlaubten Angriffsziele (es sei denn, sie erfüllen eine anerkannte "männliche" Rolle, wie etwa die "Mannfrau" in den patriarchalen Gesellschaften des Balkans). Ziel der Blutrache ist die Wiederherstellung der kollektiven Ehre (der Familie, des Clans). Ein Ausgestoßener, für den sein Clan keine Blutrache üben würde, ist in diesem System schutzlos. Hochzeiten und Beerdigungen sind in den meisten gewohnheitsrechtlichen Normierungen als Anlässe für die Ausübung von Blutrache tabu. Auch darf Blutrache nicht in Kirchen ausgeübt werden.

Regeln

Die Regeln des albanischen Gewohnheitsrechts waren im Kanun des Lekë Dukagjini versammelt worden. Danach wurde in die Blutrache verwickelt, wer einen Bluträcher mit einer Tatwaffe versorgt oder ihn am Tattag verpflegt hatte "Die Büchse und das Brot, das am Tage des Totschlags gegeben wird, bringen das Blut auf jenen, der sie gab." Der Täter durfte die Waffe des Getöteten nicht an sich nehmen. Auch hat der Bluträcher die Nachricht vom Tode seines Gegners der Familie selbst mitzuteilen, am besten sogar persönlich - wofür er das Recht hatte, um einen zeitlich beschränkten Gottesfrieden zu bitten (ihn zu gewähren war eine Sache männlicher Ehre). So konnte der Bluträcher auch unangetastet an der Beerdigung seines Opfers teilnehmen: "Wenn das Haus des Erschlagenen dem Täter Gottesfrieden gewährt, so wird dieser, obschon er ihn erschlug, an Totenfeier und Klage teilnehmen und ihn zu Grabe geleiten und zum Totenessen bleiben."

Nicht jede Tötung musste zur Blutrache führen: wer seine Ehefrau in flagranti tötet, hat keine Blutrache zu fürchten. Im Gegenteil: die Familie der Getöteten hatz dem Ehemann mit dem Wort "Deine Hand sei gesegnet" die Patrone zu ersetzen. Auch die Tötung des Sohnes durch den Vater führt nicht zur Blutrache.

Im osmanischen Reich wie in den Kleinstaaten, die aus dessen Untergang entstanden, war die Blutrache schon aufgrund des schwachen Staates eine wichtige gesellschaftliche Institution, die für Ausgleich (Reziprozität) und zugleich für die Begrenzung der Gewalt (Talionsprinzip) sorgte. Sie kam dort nicht nur bei den Muslimen, sondern auch bei den Slawen des Balkans vor. Bei den Montenegrinern hieß sie krvna osveta.

Literatur

  • Grutzpalk, Jonas (2002) Blood Feud and Modernity. Max Weber’s and Émile Durkheim’s Theory. In: Journal of Classical Sociology 2:115-134.[1]
  • Kaser, Karl (1995) Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur. Wien; Einzelfälle (Međugorje): S. 230 ff.
  • Kaser, Karl (1994) Die Mannfrau in den patriarchalen Gesellschaften des Balkans und der Mythos vom Matriarchat. L'homme: 59–77
  • Krasztev, Péter (2002) The Price of Amnesia. Interpretations of Vendetta in Albania. In: Journal for Politics, Gender and Culture. 1(2002), Heft 2, S. 33-63.
  • Ismail Kadare (2001) Der zerrissene April. Zürich: Amman.*Mile, Klementin (2007) /Albanian Institute for International Studies: Gjakmarrja: Mes Kanunit dhe Shtetit (The Blood Feud: Between Kanun and State). Tirana
  • Martens, Michael (2009) Blut und Rache. Das Massaker von Bilge: Archaische Wertvorstellungen und moderner Gewaltkonsum. FAZ 11.05.09: 10.
  • Rohnstock, Katrin & Ralf Pasch (2008) Mein Leben im Schatten der Blutrache. Die Geschichte der Gülnaz Beyaz. München: dtv.
  • Peter Zihlmann (2007) Blutrache in Basel – Eine Mutter im Banne archaischer Traditionen. Zürich: Orell Füssli.