Beyond Punishment

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Was bewegt die Hinterbliebenen nach dem gewaltsamen Tod eines Familienmitglieds? Wie lange, auf welche Art und mit welchem Ziel kreisen ihre Gedanken um den Toten, um sich selbst, um den Täter, um den Sinn des Lebens und um den Wunsch, irgendwie - sei es durch Vergessen, durch Vergeltung oder durch Vergebung - endlich zur Ruhe zu kommen und wieder nach vorne schauen zu können? Ein Tötungsdelikt ist eben weder mit dem Tod des Opfers noch mit der Ergreifung oder Verurteilung des Täters abgeschlossen. Es zieht psychische Kreise und setzt nicht selten ganze psychosoziale Kettenreaktionen der Zerstörung in Gang. Wie die Betroffenen damit umgehen, wie sie nach Auswegen und nach Lösungen suchen - und welche Rolle dabei der Gedanke an die Kommunikation mit dem Täter spielt, ist der Gegenstand dieses preisgekrönten Dokumentarfilms von Hubertus Siegert.

Gefilmt wird an drei Orten: in Norwegen, wo ein Vater um seine Tochter trauert, die mit 16 Jahren von ihrem Freund aus Eifersucht getötet worden war, in der New Yorker Bronx, wo Mutter und Schwester eines erschossenen 16-Jährigen auf ein Geständnis des vermeintlichen Täters warten, der schon längst im Gefängnis sitzt, sich aber selber ungerecht behandelt fühlt, und in Berlin, wo Patrick von Braunmühl noch immer nicht weiß, wer 1986 das Attentat auf seinen Vater ausgeführt und was genau die Täter sich dabei gedacht hatten.

In allen drei Fällen spielen die Täter vor allem im Kopf der Hinterbliebenen eine zentrale Rolle. Da sind Gefühle der ohnmächtigen Wut und Rachephantasien, aber stärker noch ist das Bedürfnis da, mehr über sie zu wissen und die Täter vor allem auch erfahren zu lassen, was sie zerstört und wie viel Leid sie zugefügt haben. Ein innerer Dialog mit den Tätern, der oft umso stärker ist, je weniger tatsächliche Kommunikation zwischen Tätern und Hinterbliebenen stattfindet. Ein Treffen in der Realität kann da - wenn es denn achtsam vorbereitet ist und gut verläuft - enttraumatisierend, befreiend und erlösend wirken und eher zu einem emotional befriedigenden Abschluss des Leidens führen als eine noch so hohe Strafe für den Täter.

Der Film ist also ein Krimi der ganz anderen Art. Im Vordergrund steht nicht die Suche nach dem Mörder, sondern die Suche der Hinterbliebenen nach einer Möglichkeit, das Geschehen zu verarbeiten. Er beschönigt nichts: weder die vielen Windungen dieses Prozesses noch die Ungewissheit seines Ausgangs.

Der Regisseur übt keine Kritik am System der Strafrechtspflege, so wie es nun einmal funktioniert. Er vermittelt aber den bleibenden Eindruck, dass die Strafjustiz die wesentlichen Probleme gar nicht in den Blick nimmt und jedenfalls aus eigener Kraft nichts zu ihrer Lösung beizutragen vermag. Damit stellt er untergründig dann eigentlich doch die Sinnfrage und erinnert an die berühmte Forderung des Rechtsphilosophen und zeitweiligen Weimarer Justizministers Gustav Radbruch, dass das unendliche Ziel der Reform des Strafrechts nicht in einem besseren Strafrecht bestehen dürfe, sondern in etwas Besserem als dem Strafrecht.

Wie es der Gerichtsreporter Gerhard Mauz vor Jahrzehnten einmal formulierte: "Es muss nicht bis zum Ende aller Tage angeklagt und verurteilt werden. Über die Verstöße gegen unsere Vereinbarungen, die wir Gesetze nennen, als hätten wir sie wie Moses vom Berge herabgebracht, kann auch solidarisch verhandelt, sie können auch leidenschaftslos ausgetragen werden (so jedenfalls, dass nicht noch mehr Leid entsteht, so schon gelitten wird). - Es setzt dies nur voraus, dass wir darauf verzichten, über Menschen zu befinden; dass wir uns dazu entschließen, mit ihnen, für sie und damit auch für uns nach Lösungen zu trachten. - Eine Utopie? Eine Utopie ist wohl eher die Vorstellung, es könne unsere Mühe um den Austrag der Konflikte, die im Zusammenhang mit unseren Vereinbarungen entstehen, für alle Zeit im Anklagen und Verurteilen am Ziel sein - in einem Richten, das über uns richtet. Eine Utopie ist doch wohl eher die Vorstellung, wir könnten für alle Zeit damit am Ziel sein, dass wir strafen."

Einzelaspekte

  • Der Diskurs um Restorative Justice kreist in Deutschland häufig um den Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) bei weniger gravierenden Delikten. Der Film zeigt, dass der Grundgedanke der Restorative Justice auch und gerade bei Mord und Totschlag Sinn machen kann. Er tut dies leise und vorsichtig, aber anrührend und zum Nachdenken und Mitfühlen anregend. Er behauptet an keiner Stelle, dass Restorative Justice das herkömmliche Richten und Strafen überflüssig machen könnte. Er zeigt aber, dass es mit dem Richten und Strafen nicht getan ist, dass die Suche nach einer emotionalen Lösung dann oft erst richtig losgeht - und losgehen muss.
  • Bewegend ist in diesem Film immer wieder die verzweifelte Lage der Hinterbliebenen zwischen bittersten Gefühlen gegenüber dem Täter einerseits und dem intensiven Bedürfnis, endlich Frieden zu finden – einen emotionalen Abschluss und damit die Möglichkeit, wieder nach vorne zu blicken und das eigene Leben zu leben. Unweigerlich drängt sich dabei die Figur des Täters in die Gedanken und Gefühle der Opfer – wie ein böses Gespenst, das zu verscheuchen einfach nicht gelingen will und das von negativen Emotionen wie Rachephantasien auch nur noch weiter am Leben gehalten wird. Letztlich könnte wohl nur eine Art Versöhnung zwischen Opfern und Tätern (die mit ihren eigenen Gespenstern kämpfen) für alle Beteiligten die ersehnt closure bringen.
  • Der Täter im Kopf. Der Täter spielt vor allem in den Köpfen der Hinterbliebenen eine wichtige Rolle. Spätestens durch die Tat setzt sich in den Köpfen der Hinterbliebenen das Bild vom Täter fest, kreisen die Gedanken und die Emotionen um seine Motive, seine Persönlichkeit, sein unverdientes Privileg zu leben, während der eigene Angehörige tot ist. Ganz natürlich sind da Frustrationen ohne Ende, auch Hass und Wut einschließlich elaborierter Rachephantasien; doch damit nicht genug. Es gibt auch die Angst vor dem Täter, die Furcht, ihm als entlassenem Strafgefangenen unvermutet wieder zu begegnen.
  • Der Abschluss in der Seele. Es gibt ein jahrelang anhaltendes Bedürfnis, die Sache - das endlose Auf und Ab der Gefühle, die Wiederkehr des Traumas - hinter sich zu bringen, sie um des eigenen Seelenfriedens willen abzuschließen. Es ist die Erfahrung derjenigen, die einen Prozess der Restorative Justice, der "wiederherstellenden Gerechtigkeit", hinter sich gebracht haben, dass es paradoxerweise ausgerechnet das Verstehen des Täters und das Gespräch mit ihm sein kann, das eine solche nachhaltige Erlösung bewerkstelligen kann.
  • Versöhnung nach Tötungsdelikten aber erscheint nicht allein wegen der Abwesenheit der Hauptperson paradox, sondern – davon abgeleitet – auch wegen der emotionalen Bande der Hinterbliebenen zu dieser Hauptperson. Welches Recht, welche Möglichkeit hat eine Hinterbliebene wie zum Beispiel Lisa, die Schwester des in der Bronx erschossenen 16-jährigen Darryl, dem Mörder ihres Bruders zu vergeben? Würde Vergebung nicht einem Verrat an Darryl gleichkommen? Die kurze Szene, in der ihr Versöhnungs-Bedürfnis und das Versöhnungs-Verbot in einem Moment der Verzweiflung aufeinanderprallen, gehört zu den anrührendsten des Films.
  • Dennoch ist der Film nie rührselig. Er ist nüchtern und sachlich – und er zieht Zuschauer nicht durch verblüffende Lösungen, sondern gerade dadurch in seinen Bann, dass er Wege zur Überwindung der Aporien und Traumata erfragt und andeutet, unterstützend zu suchen hilft – und doch immer wieder neue Hindernisse und verpasste Gelegenheiten zu vermelden hat. Er überzeugt am meisten in der Schaffung von Empathie und in der Darstellung des Leidens, das durch Straftaten gegen das Leben in die Welt kommt und das auch durch die Bestrafung der Schuldigen nichts von seiner zerstörerischen Wirkung auf die Seelen von Opfer verliert.
  • Auch die Täter leben mit Schuld, Angst, Wut, Hilflosigkeit – und die für manche Menschen schuldgefühlreduzierende Wirkung der Strafe (Sigmund Freud) erfüllt jedenfalls nicht die Träume ihrer Erfinder. Sie wirken ratlos, gequält von Phantasien über das Bild, das die anderen von ihnen haben – isoliert und verloren. Vor allem: hilfsbedürftig.
  • Der Film überzeugt darin, eindringlich die Bedeutung und das Potential, aber auch die Schwierigkeiten von Schritten zur Aussöhnung jenseits der staatlichen Strafe bewußt werden zu lassen. Es gibt viele Aspekte der Vergeblichkeit in diesem Film, und es erscheint zunächst schwer erklärlich, warum er trotzdem in der Lage ist, Sympathien für die Idee der Restorative Justice zu wecken. Des Rätsels Lösung lautet wohl: immer wieder ahnt man – und gelegentlich wird es auch ausgedrückt (etwa von dem norwegischen Vater Erik, der nur sehr indirekt mit dem Eifersuchts-Mörder seiner Tochter Ingrid-Elisabeth kommuniziert und das Angebot zu einem Treffen letztlich ausschlägt) – dass ein hilfreich begleiteter Prozess des Nachdenkens über Versöhnung auch schon als solcher in der Lage sein kann, einen Teil der Last von den Schultern zu nehmen, dass eine Ahnung von Erlösung also auch schon auf der Wegstrecke selbst möglich ist, schon lange vor dem Ziel.
  • Subtiler Optimismus. Überall sehen wir Mühen, Schmerzen und Leid, einen schier endlosen Prozess des Suchens, überall Bedürfnisse, fast nirgendwo deren Erfüllung. Und doch verlassen die Zuschauer das Kino nicht deprimiert, sondern berührt - offenbar spürend, was der Film nie deutlich sagt, aber um so stärker vermittelt: besser als das Verharren im Schmerz und in der Wut ist der Prozess der Bemühung um Verarbeitung in der Kommunikation. Sie ist es, die aus dem lahmgelegten Hinterbliebenen wieder eine emotional tätige und selbstwirksame Persönlichkeit macht, die ihr Schicksal nicht rückgängig zu machen, aber mit Hilfe anderer Menschen zu bearbeiten vermag.
  • Realismus. Der Film Beyond Punishment von Hubertus Siegert zeigt den Zuschauern, wie die Annäherung von Tätern und Opfern in der Realität aussieht, welche Schwierigkeiten, Widerstände und Ängste die Konfliktparteien zu überwinden haben, um miteinander in ein Gespräch zu treten. Der Film erzählt die Geschichten von Tätern und Opfern von Gewalttaten in Deutschland, Norwegen und den USA. Der Film wurde mit dem Max Ophüls Preis als bester Dokumentarfilm 2015 prämiert.
  • Die Protagonisten in Berlin, Norwegen und New York haben bislang keinen Frieden gefunden mit einer jeweils ihr Leben verändernden Gewalttat, weder die Opfer noch die Täter. Auch Jahre nach dem Strafurteil und verbüßter Zeit im Strafvollzug sind beide Seiten weiterhin auf der Suche nach Möglichkeiten, die Tat und den Verlust zu verarbeiten.
  • Eine Jugendliebe in Norwegen endet in einem Mord, als Stiva seine 16-jährige Freundin Ingrid-Elisabeth aus Eifersucht tötet. Nach sechs Jahren Gefängnis kehrt Stiva zurück in den kleinen Ort, in dem Ingrid-Elisabeths Vater Erik immer noch zu Hause ist.
  • Lisa und Leola leben in der New Yorker Bronx, unweit des Supermarkts, wo ihr damals 16-jähriger Bruder und Sohn im Zorn erschossen wurde. Sie warten seit inzwischen elf Jahren darauf, dass der zu 40 Jahren Gefängnis verurteilte Sean die Tat zugibt.

Patricks Vater Gero von Braunmühl, ein hoher Beamter im Außenministerium, wurde 1986 von der linksmilitanten RAF (Rote Armee Fraktion) getötet. Es gibt ein Bekennerschreiben, doch die Täter sind bis heute unbekannt. Gleichwohl findet Patrick im Film ein Gegenüber – Manfred, der als Gründungsmitglied der ersten Generation der RAF einen Polizisten getötet hat.

  • Der Film beginnt seine Reise in die Innenwelt von Gewalt und Strafe in einem Gefängnis in Wisconsin. Hier, in einer maximum security facility, wo normalerweise die Verantwortlichen von Gewalttaten für Jahrzehnte möglichst weit aus der Gesellschaft weggeschlossen werden, findet regelmäßig etwas weltweit Einmaliges statt. Alle halbe Jahre begegnen 30 Häftlinge einer vielköpfigen Gruppe von Verbrechensopfern und sie machen etwas, was sonst nicht vorkommt: Sie reden miteinander.
  • Ergänzende Materialien. Wie lang und schmerzhaft, aber auch wie wichtig und wie wohltuend ein Prozess der Annäherung zwischen Täter- und Opfer (-Familien) sein kann, zeigt übrigens das Beispiel der Familien des Bankiers und RAF-Opfers Jürgen Ponto und der RAF-Attentäterin, seiner Patentochter Susanne Albrecht. Das Buch “Die Patentöchter: Im Schatten der RAF. Ein Dialog” von Julia Albrecht und Corinna Ponto (2011) und die TV-Dokumentation “Die Folgen der Tat” (WDR, 2015) wären eine fruchtbare Ergänzung der drei Fälle und der Thematik, die Hubertus Siegert in “Beyond Punishment” so meisterhaft erschließt.
  • Bei einer Vorführung vor Gefangenen fiel mir auf:
  1. der ebenso verblüffende wie überzeugende Hinweis eines wegen Totschlags verurteilten Gefangenen, dass das, was in dem Film als wünschbares und notwendiges Reflexions- und Kommunikationsverhalten dargestellt wurde, nicht nur nach Straftaten, sondern auch schon in der normalen Alltagswelt ebenso schwierig wie selten und doch wohltuend und notwendig sei – auch im normalen Alltagsleben gäbe es doch Verletzungen und die Notwendigkeit der Aussöhnung, und vielleicht resultierten viele Gewalttaten aus dem Mangel an Restorative-Justice-Prozessen im Verlaufe alltagsweltlicher Eskalationsprozesse
  2. die Diskussion um Schwierigkeiten, die sich durch Restorative Justice im Strafvollzug ergeben könnten: das System Gefängnis lade förmlich dazu ein, dass Gefangene sich nur pro forma für derartige Programme interessieren würden, im Hinterkopf immer mit dem Gedanken an eine frühere Entlassung auf Bewährung
  3. die vorauseilende Beschwichtigung möglicher Einwände gegen eine Einführung tatfolgendausgleichender Maßnahmen und Programme im Strafvollzug durch die Anstaltsleitung: der Allgemeine Vollzugsdienst brauche sich keine Sorgen zu machen, dass jetzt schon wieder neue Änderungen eingeführt würden – es handele sich nur um wenige Teilnehmer und keine grundstürzenden Neuerungen.

Dieser letzte Punkt erinnerte mich an die Warnung von Nils Christie aus dem Jahre 2009 (Restorative Justice – Five Dangers Ahead) vor den Deformationen und den großen Risiken, die sich aus einer bürokratischen Aneignung und Verwässerung der eigentlich revolutionären Gedanken der Restorative Justice ergeben könnten.

Weblinks und Literatur