Benutzer:Tiao/Ruanda

Titel: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird.

Autor: Gerd Hankel

Jahr: 2016

Verlag: zu Klampen

ISBN: 978-3-86674-539-1

Die Regierung Ruandas hat sich mit Entschiedenheit und Ausdauer zwei Aufgaben verschrieben: der Arbeit an der Vergangenheit und der Gestaltung der Zukunft. Die Vergangenheit - das ist für sie der Völkermord des Jahres 1994. Dessen Aufarbeitung dient eine ausgeprägte Politik des Gedenkens in Verbindung mit einer flächendeckenden Sondergerichtsbarkeit. Die Zukunft - das ist die Transformation des einst bitterarmen und von Wellen kollektiver Gewalt gebeutelten Agrarlandes in ein respektiertes Mitglied der internationalen Gemeinschaft und eine prosperierende Dienstleistungsgesellschaft nach anglo-amerikanischem Vorbild, deren Mitglieder sich nur noch über ihre gemeinsame Staatsangehörigkeit und nicht mehr über Bezeichnungen wie "Hutu", "Tutsi" oder "Twa" definieren.

Zuverlässige Aussagen über Erfolg oder Misserfolg beider Großvorhaben sind naturgemäß erst nach längerer Zeit möglich - vielleicht nach zwei oder drei Generationen. Dennoch hat sich jetzt schon - gerade einmal zwei Jahrzehnte nach dem Genozid - Bemerkenswertes getan. Was die Konfrontation mit der Vergangenheit angeht, so dominiert Thematisierung statt Verdrängung: neue Feiertage und zahlreiche Gedenkstätten halten die Erinnerung wach; der Diskurs über den Genozid ist omnipräsent. Die nach einer traditionellen ruandischen Form der Konfliktregelung benannte Gacaca-Justiz ist schon heute aus der internationalen Diskussion um Transitional Justice nicht mehr wegzudenken und beeindruckt mit ihrer quantitativ unvorstellbaren Leistungsbilanz, hatten doch in der Zeit von Juni 2002 bis Juni 2012 weit über 100 000 Richterinnen und Richter in mehr als 15 000 Gacaca-Gerichten über fast zwei Millionen Tatvorwürfe und mehr als eine Million Angeklagte zu befinden. Und dies alles in einem Staat mit der Fläche eines deutschen Bundeslandes (größer als Mecklenburg-Vorpommern, aber kleiner als Brandenburg) mit weniger als 15 Millionen Einwohnern. Insgesamt trug die Gacaca-Justiz nach den Ergebnissen einer ruandischen Studie zu Einheit und Versöhnung aller Ruander bei, indem sie (auch) in den Augen der Bevölkerung in zügigen Verfahren die Wahrheit ans Licht brachte, die Kultur der Straflosigkeit überwand und die Fähigkeit des ruandischen Volkes zur selbstbestimmten Problemlösung unter Beweis stellte.

Staunenswert auch die Meilensteine Ruandas auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Die per Referendum angenommene Verfassung verspricht die Achtung der Menschenrechte und politischen Pluralismus. Nicht selbstverständlich ist auch die Tatsache, dass das Land mittlerweile drei Parlaments- und zwei Präsidentschaftswahlen ohne Gewaltausbrüche überstanden hat. Die Wahlergebnisse signalisierten zudem große Zufriedenheit mit den Regierenden. Die New Partnership for Africa's Development (NEPAD-Initiative) bescheinigte der ruandischen Politik, alle Entwicklungsindikatoren erfüllt zu haben. Besonders beeindruckt zeigte man sich von dem tief in der Bevölkerung verankerten Wissen um die Inhalte guter Regierungsführung und deren aktiver Teilnahme. Die einst frankophone Gesellschaft wurde binnen weniger Jahre umorientiert: Ruanda trat dem Commonwealth bei und ersetzte auch in den Schulen und in der Verwaltung das Französische durch das Englische. Die Streitkräfte wurden modernisiert und gehören heute zu den schlagkräftigsten des Kontinents, die auch für UNO-Einsätze unverzichtbar sind. Schuldenerlass, Unterstützung durch Weltbank, den Internationalen Währungsfonds und weitere internationale Organisationen sowie technische und wirtschaftliche Unterstützungen des Westens helfen dem Staat nicht nur, seiner ambitionierten "Vision 2020" näher zu kommen, sondern manifestieren auch den Wert, den man diesem kleinen, aber im Gebiet der Großen Seen tonangebenden Verbündeten zumisst. Dass sich im Oktober 2016 die Vertreter von mehr als 150 Nationen in Ruandas Hauptstadt Kigali trafen, um ein neues Welt-Klima-Abkommen zu verabschieden, bestätigte diesen Weg der ruandischen Regierung unter Paul Kagame, der sich nach eigener Aussage nunmehr (wie manch anderer afrikanischer Regierungschef) von allen Seiten bedrängt sieht, der Verfassung zum Trotze sich für eine dritte Amtszeit bereitzuhalten.

Mit diesen Hinweisen lässt sich die Erfolgs-Story von "Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord" allerdings weder hinreichend beschreiben noch erklären. Sie erklären nicht wirklich das urplötzliche Verschwinden des Hasses und der Gewalt. Sie erklären auch nichgt das Ausmaß des Wirtschaftswunders oder der internationalen Anerkennung.

Um diese phänomenale Entwicklung zu begreifen - und sich ihrer Kosten bewusst zu werden - bedarf es der Lektüre dieses gerade erschienenen Standardwerks, das in ruhigem Ton und abwägender Argumentation zu ergründen versucht, was diese schier unglaubliche Ruandan success story ermöglichte.

Das Buch Ruanda geht so tief und ist dank der profunden Kenntnisse des Autors (er ist nicht nur einer der besten Kenner der vielsprachigen Literatur über das Land, sondern hat auch im Laufe der vielen Jahre seiner Befassung mit dem Land mit Hunderten von Ruandern gesprochen: mit Politikern, Tätern, Opfern, Diplomaten - und hat im Lande selbst aktiv an der Aufarbeitung der Verbrechen mitgewirkt) so stabil inseiner Argumentation, dass es zweifellos für lange Zeit neue Maßstäbe setzt.

Hankel zufolge beruht der ruandische Erfolg nicht nur auf einer Verschränkung von Vergangenheits- und Zukunftspolitik, bei der die Domestizierung der Vergangenheit den Handlungsspielraum in der Innen- und Außenpolitik signifikant erweitert und damit einen ökonomischen (und politischen) Mehrwert zu erwirtschaften ermöglicht, der seinerseits wiederum den Erfolg hervorbringt, auf den die Regierenden verweisen können, wenn sie sich durch das Erreichte zu legitimieren suchen - im Sinne von "Was wollt ihr denn, es geht und und euch doch so gut wie nie zuvor" - sondern es gibt auch Gründe anzunehmen, dass der ruandische Erfolg seinerseits nur ein scheinbarer, sozusagen ein Erfolg in Anführungsstrichen sein könnte.

Was ist das für ein "Erfolg", der in Ruanda und um Ruanda herum im Laufe der Jahre und Jahrzehnte Mord und Vergewaltigung, zu Folter und Ausbeutung führt - toleriert durch eine ruandische wie auch internationale Kultur der Straflosigkeit, die all diese Taten wohlwollend vernachlässigt, weil sie von Akteuren begangen wurden, die im weitesten Sinne auf den Respekt rechnen konnten, der den Opfern eines Genozids zusteht? Gewiss: es gibt keine Befreiungsbewegung von Algerien über Südafrika bis Vietnam und Zimbabwe, in der es nicht zu Exzessen kam. Doch wie ist es, wenn es sich um Hunderttausende von Opfer handelt oder um Millionen, denen jede Anerkennung, geschweige denn Gerechtigkeit, durch systematische Geschichtsfälschung und Diskriminierung vorenthalten wird?

Das große und bleibende Verdienst dieses dicken Buches, das ich immer wieder erschöpft und entgeistert aus der Hand legen, dann aber wieder zur Hand nehmen und in einer sehr langen Nacht durchlesen musste, ist wohl dieses: es legt die Dimension der Kosten frei, die "wir" uns normalerweise nicht klar machen, wenn "wir" einer machtbasierten und erfolgreichen Politik bescheinigen, im Großen und Ganzen doch das Gute befördert zu haben.

Diese Kosten sind enorm. Sie beinhalten im Falle Ruandas zigtausendfache, vielleicht sogar millionenfache Morde, Folterungen und Vergewaltigungen innerhalb und außerhalb des Landes, vor allem in Ostkongo. Auch davon handelt dieses Buch. Ich will darauf hier nicht eingehen. Ich will nur die Frage stellen: Kann man angesichts solcher "Kosten" (ganz zu schweigen von der Entwürdigung der Opfer durch das Negieren ihres Opfer-Seins) noch von "Erfolgen" der ruandischen Entwicklung sprechen?

Angesichts des Leidens zahlloser Menschen wirkt der "Erfolg" schal wie eine Disneyland-Fassade. Dahinter stehen Geschäftemacher und eine auf ihren Vorteil und ihre Herrschaftsansprüche fixierte Elite, die ihren eigenen Vorteil organisiert - auf Kosten einer Gesellschaft, in deren Namen sie sich aufgrund manipulierter Wahlen anmaßt zu sprechen, die aber eine eingeschüchtere und unterworfene Masse von Untertanen darstellt, bzw. dazu erniedrigt wird.

Dem landläufigen Gut-Böse-Schema vom Genozid, wie es von alternativen Tageszeitungen, wichtigen Fernsehsendern und Literaten verbreitet wird, entgehen diese Tatsachen. Aber das ruandische Wunder verblasst nach der Lektüre von "Ruanda" auf eine traurige Art.

Was stattdessen schemenhaft auftaucht, ist eine neue Zeit, in der diejenigen, die Gleicher sind als die anderen, die lange gesuchte Formel der Massenbeherrschung und Reputationssicherung für die Eliten gefunden haben. Der Fortschritt, so definiert, verträgt offenbar eine Menge Unrecht, solange es ihm gelingt, dieses Unrecht nicht als solches kenntlich werden zu lassen. Tschetschenien und Ruanda sind nicht so weit voneinander entfernt, wie man glauben möchte. Und Bücher wie das von Gerd Hankel lassen allenfalls der Hoffnung Raum, dass das Unrecht jedenfalls von erfahrenen und selbstdenkenden Individuen, die das damit verbundene Risiko nicht scheuen, noch wahrgenommen und ausgesprochen werden kann. Vielleicht nicht in Ruanda, aber in Deutschland. Zu sagen wagen, was ist, ist nach wie vor die revolutionärste Aktion. Sie erfordert beharrliches Bohren dicker Bretter. Und nichts anderes ist es, was diese Analyse - zugleich Entwicklungsroman und Länderstudie - zu einem unverzichtbaren Bestandteil jeder Lehre über Makrokriminalität, Kriminalität der Mächtigen, repressives und revoltierendes Verbrechen und für die Konstruktion einer Allgemeinen Kriminalitäts- und Kontrolltheorie macht. Eine vorbildliche Darstellung und Analyse von Unterdrückung und Verfolgung, Krieg und Massakern in und um Ruanda, die als Standardwerk nicht nur neben Alison Des Forges und Roméo Dallaire besteht, sondern diese in wesentlicher Hinsicht auch ergänzt, teilweise korrigiert und jedenfalls auf unverzichtbare Weise fortschreibt. Kein Werk eines Kriminologen, aber ein wichtiges Werk für die Kriminologie.