Becker-Gouldner-Kontroverse

Aus Krimpedia – das Kriminologie-Wiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Becker-Gouldner-Kontroverse war ein Streit zwischen Howard S. Becker und Alvin Gouldner. In seiner Rede als Präsident der Society for the Study of Social Problems (SSSP) unter dem Titel "Whose Side Are We On?" hatte Becker (1967) dazu aufgefordert, angesichts der Unmöglichkeit umfassender Objektivität eine kritische Haltung gegenüber den Mächtigen und der gesellschaftlichen "Hierarchie der Glaubwürdigkeit" einzunehmen. Wenn schon Vorannahmen über Glaubwürdigkeit erforderlich seien ("sentimentality"), dann sollte man sich lieber einer Haltung "unkonventioneller Sentimentalität" befleißigen und seinen Vertrauensvorschuss nicht unbedingt denen geben, die in einer Hierarchie oben stehen. Alvin Gouldner kritisierte diese Position in einer vehementen Attacke in seinem Aufsatz "The Sociologist as Partisan ....".

Becker: Es ist unmöglich, "to do research uncontaminated by personal and political sympathies"; Sozialwissenschaftler sind unausweichlich "partisan" (= parteilich) und deshalb sollten sie es lieber ausdrücklich und explizit sein. Die Frage ist nicht, "whether we should take sides but rather whose side are we on". Forscher sollten "take sides as our personal and political commitments dictate" - und am besten wäre es, sie würden "challenge 'the view from above'".

Alvin Gouldner kritisiert

  • erstens, dass Becker die Diskussion um die Objektivität und Parteilichkeit in den Sozialwissenschaften für längst entschieden hält und die "blasierte" Attitüde eines Schiedsrichters einnimmt, der das Spiel für beendet erklärt und kategorisch feststellt, dass man entweder auf der Seite der Underdogs oder auf der Seite der Herrschenden stehen müsse. Tertium non datur.
  • zweitens, dass Becker sich um eine klare eigene Stellungnahme herumdrückt. An keiner Stelle spricht er, obwohl seine Sympathien für die Underdogs aus jeder Zeile sprechen, offen für eine Parteinahme für die Underdogs.
  • drittens, dass Becker sich mit den entscheidenden Fragen nicht befasst: warum sollte man, wenn man schon Partei ergreifen muss, für den Underdog Partei ergreifen? Und ist nicht jeder Overdog in Bezug auf seine Vorgesetzten und alle Mächtigeren auch ein Underdog (und vice versa)?
  • viertens, dass Becker sich zu den Underdogs aus Gründen des Exotismus (zoo-keeping) angezogen fühlt und nicht, was legitim und gut wäre, um das Leiden der Underdogs der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu bringen und zu dessen Reduktion beizutragen (1968: 106).


Alvin Gouldner behauptet, dass die Ausweichmanöver Beckers mehrere Gründe haben - darunter auch den, dass es dem Eigeninteresse des Forschers schaden könnte, nähme er explizit für die Seite der Underdogs Partei. Insofern verschweigt Becker die dritte Option: die Möglichkeit, sich weder auf die Seite der Over- noch die der Underdogs zu schlagen, sondern stattdessen sich für das Eigeninteresse zu entscheiden.

Gouldners Kritiken (1968, 1971) an der "Underdog Soziologie" als einer "glib rejection of the 'value-free doctrine'", als "titillated attraction to the underdog's exotic 'unexamined difference'" und "comfortable commitment to political liberalism" kulminieren in dem Verdikt: "The new underdog sociology propounded by Becker is, then, a standpoint that possesses a remarkably convenient combination of properties: it enables the sociologist to befriend the very small underdogs in local settings, to reject the standpoint of the 'middle dog' respectables and notables who manage local caretaking establishments, while, at the same time, to make and remain friends with the really top dogs in Washington agencies or New York Foundations. While Becker adopts the posture as intrepid preacher of a new underdog sociology, he has really given birth to something rather different: to the first version of new Establishment sociology..." (Gouldner 1971: 49).


"If he were to be consistent, then, Becker would answer the question, whose side are we on?, simply by stating that we are on the side of whomever we are studying at a given time. In other words, he would advocate the devotional promiscuity of sacred prostitution" (Gouldner 1968: 104). Was Becker daran hindert, sind seine "sentiments": "His sentimental disposition to see the world of deviance from the standpoint of the deviant conflicts with his theoretical disposition to take the standpoint of whichever group he happens to be studying" (104). Andererseits würde eine klare Stellungnahme zugunsten der Abweichler erhebliche Kosten für den Forscher mit sich bringen. Und als Forscher ist man nicht zuletzt auf Zugang zu allen möglichen Bereichen angewiesen - man ist, mit anderen Worten, auch auf seiner eigenen Seite.

Grenzen

"You must draw the line, to yourself and to the criminal. Precisely where to draw it is a moral decision that each researcher must make for himself (sic) in each research situation...For example, although I am willing to be told about anything and everything, and to witness many kinds of illegal acts, when necessary I make it clear that there are some such acts I prefer not to witness...I have heard of one social worker with violent gangs who was so insecure, so unable to `draw the line' for fear of being put down, that he got flattered into holding and hiding guns that had been used in murders..." (Polsky, 1971, Hustlers, Beats and Others: 131)

The task of sociological research is to be aware of personal biases and assumptions, to make them explicit, and to try not to let them get in the way of what one observes and reports' (Applebaum & Chambliss 1995: 36)

Literatur

Weblinks