Überwachen und Strafen (Zusammenfassung)

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Diese Zusammenfassung von Michel Foucaults "Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses" stammt von Jörg Sabel und ist mit vorläufig erst einmal nur mikroskopischen Veränderungen aus www.freiereferate.de übernommen.

Eine lesenswerte Kontextualisierung von Überwachen und Strafen gibt es auch von Brian Williamson.


Einleitung

Das Buch behandelt die Entstehung des Gefängnisses und des damit verbundenen Strafsystems. Er durchleuchtet dabei den historischen Prozess vom Spätmittelalter, der Zeit des Ancien Régime, bis hin zur Neuzeit und wie sich Art der Bestrafung und Vollstreckung des Urteils in dieser Zeitspanne geändert haben. Dabei unterteilt er sein Werk in vier große Kapitel, die ich in dieser Einleitung kurz erläutere, bevor ich im Hauptteil genauer auf das vierte Kapitel „Gefängnis“ eingehe.

Marter

Das erste Kapitel trägt den Titel „Marter“ und ist noch einmal unterteilt in „Der Körper der Verurteilten“ und „Das Fest der Martern“.

Der Körper des Verurteilten

Foucault beginnt mit der Darstellung einiger Marterszenen, um die Grausamkeit, aber auch den Sinn und Zweck derselben für den Leser zu erläutern. Dann gibt er einen Überblick über die Entwicklung der Strafen, sowie über deren Ziele und Vollstreckungen, im Laufe der Zeit, vom 18. Jahrhundert bis heute. So wurde Ende des 18. Jahrhunderts die Marter abgeschafft. Die Strafe, die bis dahin nur auf den Körper zielte, sollte fortan auf Kopf und Seele wirken. Damit verschwindet die Bestrafung auch aus der Öffentlichkeit; sie wird einem Verwaltungsapparat übergeben. Bis etwa 1848 schließt sich diese Entwicklung ab. Weiterhin ändert sich die Art der Bestrafung dahingehend, dass man dann versuchte zu „heilen“ und den Bestraften zu „bessern“. Der Körper wird nicht mehr gequält und gemartert, sondern in ein System von Verpflichtungen und Verboten gesteckt. Das Verbrechen bleibt weiterhin das, was vom Gesetzbuch als solches definiert ist, allerdings urteilt man nun über den Willen und die Leidenschaft der Unangepasstheit. Der Anteil des eigenen Willens am Verbrechen und sind sehr wichtig für das Urteil. Das Ziel der Strafe ist nun der eventuell weiterhin gehegte Wille des Angeklagten, gegen die Gesetze zu verstoßen. Dadurch entstehen neue Strafformen, wie beispielsweise die „überwachte Freiheit“, ein „Aufenthaltsverbot“, und ähnliches. Der Ursprung der Tat wird gesucht, um Prognosen und Abschätzungen hinsichtlich der Zukunft des Täters zu machen und ihn auch klassifizieren zu können. Gleichzeitig entwickeln sich neben der richterlichen Tätigkeit sehr viele Instanzen, die auch über die Behandlung und das Strafmaß urteilen. Es sind Psychologen, Sozialarbeiter, alle Aufsichtspersonen der Strafanstalten und mehr, die Beurteilungen abgeben und damit maßgeblich eine Verlängerung oder eine Verkürzung des Urteils beeinflussen.

Foucault stellt vier Regeln auf, die die Geschichte der Seele im Urteil beschreibt:

  • 1. Bestrafung muss als komplexe gesellschaftliche Funktion gedacht werden.
  • 2. Bestrafungen sind in der Perspektive der politischen Taktik zu betrachten.
  • 3. Technologie der Macht beruht auf Erkenntnis des Menschen.
  • 4. Die Art und Weise wie der Körper von den Machtverhältnissen besetzt wird, hat sich verändert und die Frage ist, ob das aufgrund des Eintritts der Seele in die Gerichtspraxis geschehen ist? So versucht der Autor die Entwicklung der Strafmethoden von einer politischen Technologie der Körper her zu untersuchen. Das setzt voraus, dass Herrschaft keinen anderen Zweck verfolgt, als sich selbst um ihrer selbst Willen zu reproduzieren. Allerdings glaubt Foucault an eine politische Ökonomie der Körper, die es erlaubt, die Fähigkeiten nach ihrer Unterwerfung nutzbar zu machen. Dies nennt er die „Mikrophysik der Macht“.

Das Fest der Martern

Im zweiten Teil des ersten Kapitels beschreibt Foucault noch einmal die vormodernen Strafsysteme, bei denen jede ernsthafte Strafe etwas von einer peinlichen Strafe haben musste. Dabei war die Marter die Kunst des Schmerzens und brandmarkend für das Opfer. Die Gerichtsurteile waren zu dieser Zeit geprägt vom Wahrheitsmonopol der Richter, außerdem waren die Verfahren geheim. Dieser dennoch regulierte Teil des Strafsystems und der öffentlichen Vollstreckung hatte mehrere Aspekte: Der Verurteilte musste am Pranger seine Schuld bezeugen, dieses Geständnis wird in der Abbitte erneuert. Durch die Vollstreckung der Strafe am Ort des Verbrechens wird eine Beziehung hergestellt und durch die Länge der Hinrichtung sollen die Qualen der Marter bereits auf das Jenseits vorgreifen. In dieser Zeit war die Souveränität des Königs ausschlaggebend, da sie auch als von Gottes Gnaden gegeben betrachtet wurde. So sollten die Martern auch die Souveränität des Königs wieder herstellen, der seine Macht an die Richter verliehen hatte.

Bestrafung

Das zweite Kapitel „Bestrafung“ beinhaltet ebenfalls zwei Teile.

Die verallgemeinerte Bestrafung

Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit der Entstehung der Polizei, der Reform der Justiz und deren Reformkritiken, sowie der Humanisierung des Strafsystems. Das Ende des 18. Jahrhunderts markiert auch das Ende der Martern. Eine Humanisierung des Strafapparates beginnt, da die Justiz statt zu rächen endlich bestrafen soll und das nur möglich, wenn der Angeklagte als Mensch respektiert wird. Kennzeichnend für diese Zeit ist auch, dass die Zahl der Gewalttaten abnimmt, während die Kriminalität an sch zunimmt. Dies hängt zusammen mit der Anhäufung der Eigentumsdelikte. Es entsteht eine Polizei und eine neue Justiz, die allerdings von Reformern dahingehend kritisiert wird, dass sie keine Gewaltenteilung enthält, die Ämter weiterhin käuflich sind und de königlichen Privilegien noch zu stark sind. Ziel der Reformer ist eine Ökonomie der Strafgewalt und sie war letztendlich auch eine Wiederherstellung der Gesetzlichkeit. Die Humanisierung entsteht aus der Sicht, dass Strafe nützlich werden muss. Das heißt sie muss im Verhältnis zu möglicher Nachahmung und Wiederholung stehen. Diese Strafökonomie muss einen Zweck der Vorbeugung erfüllen. Die Effizienz der Strafe im Bezug auf mögliche Nachahmung beruht auf einigen regeln. So müssen die Nachteile einer Strafe die Vorteile des Verbrechens übertreffen, dabei macht die Erwartung eines Nachteils durch die Strafe ihre Wirksamkeit aus. Das impliziert auch, dass die Strafe am meisten Auswirkungen bei denen hinterlassen sollte, die die Tat (noch) nicht begangen haben. Dazu müssen die Gesetze völlig klar formuliert und veröffentlicht sein. Außerdem müssen die Gesetze alle Möglichkeiten umfassen und es muss gewährleistet sein, dass der Angeklagte bis zur endgültigen Überführung als unschuldig gilt. Um alle diese Regeln durchzusetzen entstehen Gewaltenteilung und ordentliche Gesetzbücher, die Verfahren werden öffentlich und man individualisiert die Strafen, sodass sie zum Charakter des Täters passen. Nicht die Tat selber, sondern die Täter werden klassifiziert. Diese moderne Form der Bestrafung folgt der Meinung, dass man sich als Bürger disqualifiziert, wenn man gegen Gesetze verstößt und von daher zu Recht zum Objekt wissenschaftlicher Untersuchung wird.

Die Milde der Strafen

Der zweite Teil dieses Kapitels heißt „Die Milde der Strafen“. Er beschäftigt sich mit den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit bei den potentiellen Tätern die Anziehungskraft einer Gesetzeswidrigkeit genommen wird. Die Bedingungen sind:

  • 1. Die Strafe muss logische Konsequenz der Tat sein; es darf keine Willkür entstehen und vermittelt werden, dazu gehört die absolute Transparenz zwischen Strafe und Verbrechen.
  • 2. Vorstellung der Strafe und ihrer Nachteile muss lebhafter sein, als die des Verbrechens und seinem Vergnügen. Gegen schlechte Leidenschaft muss gute Gewohnheit gesetzt werden.
  • 3. Zeitliche Abstufung der Strafe ist nötig. Die Strafe bekommt eine flexible Funktion und so eine innere Mechanik, da sie nun auch vorzeitig beendet werden kann, bei beispielsweise guter Führung.
  • 4. Die Hemmzeichen der Strafe müssen der Bevölkerung vor Augen geführt werden. An die Stelle von geheimen Strafen müssen Züchtigungen treten, die als Wiedergutmachung betrachtet werden können.
  • 5. Der Träger des Exempels muss nun die Lektion selbst sein. Die Gesetze werden in der Züchtigung für die Bevölkerung lesbar und ersichtlich.

Die moderne Bestrafung soll in der Öffentlichkeit das Gefühl erwecken, dass man den Täter leider dafür bestrafen musste, dass er ein Vergehen begangen hat. Die Reformer sahen weiter vor, dass jedem Verbrechen eine Strafe zugeteilt wird, aber keine Gefängnisstrafe, weil die nicht dem Öffentlichkeitsprinzip widerspricht. Dennoch erobert das Gefängnis in kurzer Zeit die Strafjustiz und lässt nur noch Unterschiede in verschiedenen Haftbedingungen. Das schon bestehende Prinzip der Zwangs- und Arbeitshäuser wird übernommen. Das Öffentlichkeitsprinzip wird nicht mehr genutzt. Die Gewissheit, dass eine Strafe verbüßt wird, muss reichen. Die größte Neuerung ist die umfassende Registrierung vom Vergehen, über Urteil und Täter, bis hin zu jedem einzelnen Hafttag. Das gesammelte Wissen bezieht sich nicht auf die Tat, sondern auf das Individuum und sein Verhalten. In den neuen Strafanstalten wird vor allem auch die genaue Zeitplanung und Registrierung ein Einzwängen des Körpers und eine Dressur des Verhaltens erlangt. So gibt es Ende des 18. Jahrhunderts drei Formen von Strafgewalt: Das Monarchenrecht mit seinen Martern, das Gesellschaftsvertragsrecht der Reformer, welches Wunschtraum bleibt und den staatlichen Verwaltungsapparat, mit den einem Zwang unterworfenen Körpern, den dressierten Körpern, die Foucault in den weiteren Kapiteln untersucht.

Disziplin

Das dritte Kapitel „Disziplin“ umfasst drei Teile.

Die gelehrigen Körper

Bei „Die gelehrigen Körper“ geht es zunächst um das Militär und die Entwicklung der modernen Disziplin. Der Körper ist zur Zielscheibe der Macht geworden; der unterworfene und geübte Körper soll nun nicht mehr nur ausführen was verlangt wurde, sondern auch wie es verlangt wurde ohne dass dabei eine eigene Macht entsteht. Im folgenden Teil „Die Kunst der Verteilungen“ erörtert Foucault mehrere Techniken der Verteilung der Individuen im Raum. Zunächst geht es um die bauliche Abschließung eines Ortes von allen anderen Orten, um alles Nichtkontrollierbare auszuschließen (Klausur). Darauf folgt ein fremdbestimmter Raum, indem sich das Individuum nicht mit anderen zusammentun kann. Foucault nennt es „elementare Lokalisierung oder Parzellierung“ (S. 183). Der dritte Schritt ist die Zuweisung von sichtbaren Funktionsstellen der Kontrolle in diesem Raum. Das ermöglicht nicht einfach nur Kontrolle, sondern auch Erziehung. Diese Einrichtung „lebender Tableaus“, wie Foucault es beschreibt, ist die „Basis für die Mikrophysik der Macht“ (S. 190). Dann wendet sich der Autor der „Kontrolle der Tätigkeit“ zu. Dabei geht es im ersten Schritt hauptsächlich um die Zeitplanung, die nach Festsetzung der Rhythmen, Zwang zu bestimmten Einzeltätigkeiten und der Regelung der Wiederholungszyklen funktioniert. Das Kloster ist auch hierbei Vorbild für Schule, Spital, Kaserne und Manufaktur. Der zweite Schritt ist die zeitliche Durcharbeitung der Tätigkeit. Dazu sagt Foucault: „Die Zeit durchdringt den Körper und mit der Zeit durchsetzen ihn alle minutiösen Kontrollen der Macht.“ (S. 195). Darauf folgt die Zusammenschaltung von Körper und Geste, wobei der disziplinierte Körper der Träger einer leistungsstarken Geste ist. Die Zusammenschaltung von Körper und Objekt, wobei die Disziplin dabei jedes Verhältnis festlegt, das der Körper mit dem manipulierten Objekt eingehen muss. Als fünftes kommt die „erschöpfende Ausnutzung“ der Zeit, wobei aber die Disziplin eine positive Ökonomie herstellt. „Es geht darum, aus der Zeit immer noch mehr verfügbare Augenblicke zu machen und aus jedem Augenblick immer noch mehr nutzbare Kräfte herauszuholen.“ (S.198). Es entsteht ein neues Objekt und zwar der natürliche Körper, der den mechanischen Körper langsam ablöst. „Es handelt sich mehr um einen Körper der Übung, als um einen Körper der spekulativen Physik.“ (S.199).

Mittel der guten Abrichtung

Im zweiten Teil des „Disziplin-Kapitels geht es um die „Mittel der guten Abrichtung“ und zunächst um „die hierarchische Überwachung“. Dabei handelt es sich um die Einrichtung des „zwingenden Blicks“, wobei die Macht durch die allgemeine Sichtbarkeit durchgesetzt wird. Die Machtausübung beruht auf dem System der genauen Überwachung. Ein weiteres Mittel der Abrichtung ist die „normierende Sanktion“. Jedes Vergehen, von Verspätungen über Unanständigkeit bis hin zu Nachlässigkeit, wird mit Strafmitteln, kleinen Demütigungen wie beispielsweise Lohnentziehung, versehen. Daraus resultiert ein korrigierender Charakter. Der Besserungseffekt entsteht dabei nicht aus Reue, sondern direkt aus der Mechanik der Dressur. Die dritte Form der Abrichtung ist die Prüfung. Sie „kombiniert die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion. Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung.“ (S.238). Es geht im Wesentlichen um die Verknüpfung von Macht um die Feststellung dessen, was erreicht wurde und was damit zu leisten ist.

Panoptismus

Der letzte Teil der „Disziplin“ ist der Panoptismus. In diesem Kapitel erläutert Foucault das von Jeremy Bentham entwickelte Panopticon, ein kompaktes Disziplinaranlagenmodell. Das Panopticon besteht aus einem „ringförmigen Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; das Ringgebäude ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht.“ (S.257). So kann der Gefangene, der in den Zellen rings um den Turm eingesperrt ist, jederzeit beobachtet werden, er allerdings selbst weiß nicht wann und ob er gerade beobachtet wird. Er muss also jederzeit damit rechnen. Das Modell kann auch in Spitälern, Psychiatrien und Schulen eingesetzt werden.

Gefängnis

Im letzten Kapitel des Buches geht es um das Gefängnis und in drei Unterpunkten um „Totale und Asketische Institution“, „Gesetzeswidrigkeiten und Delinquenz“ und um „Das Kerkersystem“.

Totale und asketische Institutionen

In diesem ersten Teil geht es hauptsächlich um Gefängnistypen, Arten von Bestrafungen und den Sinn und Zweck von Gefängnis und Zuchthäusern. Zunächst erläutert Foucault das Gefängnis an sich. So ist es eine Apparatur des Gefügig- und Nützlich-Machens der Individuen, indem man an und mit den eingesperrten Körpern arbeitet. Durch den Einsatz von Gefängnissen wurde die Strafjustiz an sich menschlicher, im Vergleich zu früheren Strafen, wie bspw. die Marter. Die Geburt des Gefängnisses findet statt, weil man eine Strafform sucht, die für die zivilisierte Gesellschaft angemessen sein soll. Und da die Freiheit nun mal ein Gut dieser Gesellschaft ist, beschreibt Foucault die Gefängnisstrafe auch als eine Strafe par exellence.

Die Selbstverständlichkeit des Gefängnisses beruht dabei auf seiner Rolle als Apparat zur Umformung der Individuen (technisch-disziplinäre Begründung).

Des Weiteren gibt es die juristisch-ökonomische Begründung, die besagt, dass zwischen Vergehen und Dauer quantitative Äquivalenzen etabliert werden. Diese beiden Begründungen zusammen lassen das Gefängnis die zivilisierteste Strafform sein. Foucault stellt auch klar, dass das Gefängnis nicht erst bloße Freiheitsberaubung war, sondern immer schon eine Haft mit dem Zweck der Besserung der Individuen, von Anfang an.

Das Gefängnis ist zugleich auch ein differenzierter und zweckgerichteter Mechanismus, differenziert, weil er davon abhängig ist, ob es sich um einen Angeklagten, einen Verurteilten, um einen Bestrafungshäftling oder um einen Kriminellen handelt, da je nachdem entweder Arrestlokal, Besserungshaus oder Hauptgefängnis gewählt wird. Zweckgerichtet, da das Gefängnis einen Zweck verfolgt: die gesetzliche Strafe hat nicht nur Wiedergutmachung, sondern auch Besserung des Schuldigen zum Ziel. Im Vergleich zum Gefängnis, wie bisher beschrieben, werden in so genannten Zuchthäusern Regeln gesunder Moral verwirklicht, indem Verurteilte zu einer Arbeit gezwungen werden, die sie schließlich lieben, wenn sie deren Resultat sehen. Sie gewöhnen sich an diese Beschäftigung, machen sie sich zum Bedürfnis, geben sich so gegenseitig ein Beispiel eines arbeitsamen Lebens und bedauern ihre Vergangenheit.

Die Reformen des Gefängnisses sind an sich so alt wie das Gefängnis selbst. In der Zeit von 1801 bis 1844 gab es zahlreiche Untersuchungen und Reformvorschläge, Programme für die Behandlung der Häftlinge beispielsweise und Modelle für die materielle Ausstattung und einige mehr. Allerdings war dann klar, was das Gefängnis sein muss und was es auszeichnen muss. Es muss erschöpfender Disziplinarapparat sein, es muss sämtliche Aspekte des Individuums erfassen: physische Dressur, Arbeitseignung, alltägliches Verhalten, moralische Einstellung, seine Anlagen. Noch mehr als Schule, Werkstatt oder Armee, die immer eine bestimmte Spezialisierung aufweisen, ist das Gefängnis eine Gesamtdisziplin, hat weder ein Außen, noch Lücken und kommt erst zum Stillstand, wenn seine Besserungsaufgabe ganz erledigt ist. Das Einwirken auf das Individuum darf keine Unterbrechung beinhalten.

Weiter beschreibt Foucault die Charakteristik des Gefängnisses. Das Vorgehen innerhalb muss dem Zwang einer totalen Erziehung nahe kommen. Das verkommene Individuum muss in eine neue Form geprägt werden, es soll ein Umcodieren der Existenz vollzogen werden; mit folgenden Maßnahmen:

  • Erstens das Prinzip der Isolierung von der äußeren Welt, dem, was die Gesetzesübertretung motiviert hat und den Komplizen, die sie erleichtert haben. Außerdem einer Isolierung der Häftlinge untereinander, damit sich die Häftlinge untereinander nicht gegenseitig anstiften und weil die Einsamkeit als positives Umformungsinstrument dienen soll. Durch Nachdenken soll man zur Einsicht kommen und außerdem wird dadurch eine maximale Machtausübung gegen die Häftlinge möglich. Dazu gibt Foucault die Beispiele der Anstalten von Auburn und Philadelphia. Auburn sah die Einzelzelle bei Nacht und Arbeit und Mahlzeiten in Gemeinschaft bei Tag, aber unter Stillschweigen, vor. Philadelphia hingegen bedeutete absolute Isolierung. Die Besserung sollte durch die Beziehung des Individuums zu seinem eigenen Gewissen geschehen. Nicht der äußere Respekt vor dem Gesetz oder die bloße Furcht vor der Bestrafung, sondern die Arbeit des Gewissens selbst wirken auf den Gefangenen ein. Hauptziel beider Anstalten war die Gefangennahme mit Folge zwanghaften Individualisierung durch den Abbruch jeder Beziehung, die nicht von der Macht kontrollierbar war: „Im pennsylvanischen Gefängnis sind die einzigen Besserungsfaktoren das Gewissen und die stumme Architektur, an die jenes stößt. In Cherry Hill sind „die Mauern die Bestrafung des Verbrechens; die Zelle macht den Gefangenen sich selber gegenwärtig; er ist gezwungen, auf sein Gewissen zu hören.““ (S.306)
  • Der zweite Punkt zum Umcodieren der Existenz ist die Arbeit in Verbindung mit der Isolierung. Dabei ist die Arbeit weder Zugabe zur Haft, noch eine Korrektur, sie wird vom Gesetzgeber als Notwendigkeit vorgesehen. Ihr Nutzen besteht nicht in der Produktivität, sondern im Eingriff in die menschliche Mechanik, als Prinzip der Ordnung und Regelmäßigkeit. Die Zwangsarbeit soll aus dem Gefangenen jemanden machen, der eine Rolle mit Regelmäßigkeit spielt. Außerdem müssen sie von der Arbeit der anderen leben, wenn sie sich nicht durch eigene Arbeit erhalten. Dadurch entsteht kein Müßiggang und eine Entlohnung gibt es wegen der Bedingung zur Existenz. Doch dadurch entstanden auch Diskussionen, da die Häftlinge Lohn erhalten, bezahlte Arbeit eigentlich keine Strafe ist und der Verdienst die Geschicklichkeit fördert und nicht die Besserung. In den 1840er Jahren entstehen durch diese Diskussion Streiks gegen die Regierung, die die Gefängnisarbeit begünstigen um die „freien“ Löhne niedrig zu halten, gegen die Arbeitslosigkeit, die die Frauen in die Prostitution und dann ins Gefängnis treibt, wo sie dann mit der Arbeit denen Konkurrenz machen, die draußen noch arbeiten können und gegen die Tatsache, dass die Häftlinge die sichersten Arbeiten machen dürfen. Die Regierung reagierte mit der Meinung, dass die Gefängnisarbeit aufgrund ihres geringen Ertrages für die Wirtschaft kaum ins Gewicht falle.²
  • Der dritte Punkt im Zuge der Umcodierung ist die Möglichkeit zum Revidieren des Urteils, der Kürzung der Haftstrafe wegen guter Führung und schneller Besserung. Dabei ist diese Möglichkeit auch eine Bedingung für das gute Funktionieren des Gefängnisses im Hinblick auf die Besserungsaufgabe. Die Strafdauer droht den Besserungswert zu verlieren, wenn sie im Urteil unwiderruflich festgelegt wird. Dabei ist die Zeit nicht Tauschwert des Vergehens, sondern gilt als Zeit zur nützlichen Umformung des Individuums.³ Wenn vollständige Besserung erreicht ist, soll die Haft zu Ende sein.

Anmerkung — 2 „Was bezweckt die Arbeit im Gefängnis? Nicht Gewinn und auch nicht die Formierung einer nützlichen Fähigkeit, sondern die Bildung eines Machtverhältnisses, einer leeren ökonomischen Form, eines Schemas der individuellen Unterwerfung und ihrer Anpassung an einen Produktionsapparat.“ (S.312)

3 „Aus der Schwere eines Verbrechens lässt sich keineswegs auf die Besserungsfähigkeit des Verurteilten schließen. Vor allem läßt sich die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen, der das Gesetzbuch den Unterschied zwischen Gefängnis und Zuchthaus oder Zwangsarbeit zugeordnet hat, nicht im Hinblick auf Besserung optionalisieren.“ (S.314) — dass Art, Inhalt und Strenge der Strafe nicht durch die Natur des Vergehens bestimmt sind, da Besserungshäftlinge lasterhafter sind und sich Kriminelle bspw. besser Verhalten. Das Gefängnis wird dazu in drei Abteilungen geteilt, der Probeabteilung für die Allgemeinheit der Häftlinge, der Strafabteilung und der Belohnungs-Abteilung, für die auf dem Wege der Besserung. Des Weiteren gibt es vier Perioden im Verlauf der Strafe: Die Ernüchterungsperiode (Verhinderung von Arbeit und jeder inneren und äußeren Beziehung), Arbeitsperiode (Isolierung mit Arbeit, die nach erzwungenem Müßiggang als Wohltat empfunden wird), Phase der Moralisierungsmaßnahmen („Aussprachen“ mit den Direktoren und den offiziellen Besuchern) und Periode der gemeinschaftlichen Arbeit. Die Strafe ist im Prinzip Sache der Justiz, aber die Eigenschaften des Vollzugs und die Strenge gehören zu autonomem Mechanismus, der die Wirkungen der Bestrafung innerhalb des sie produzierenden Apparates kontrolliert. Dabei soll die Möglichkeit Belohnung zu erlangen, im Geist der Häftlinge die Begriffe Gut und Böse wecken. Ein weiterer Faktor spielt die Autonomie des Personals, das die individualisierende Strafhaft verwaltet, da sie den Ablauf der Strafe korrigieren und nicht die Gerichtsinstanzen, da diese Aufseher, Gefängnisdirektor, Gefängnis-geistliche oder Lehrer zur Wahrnehmung der Besserungsfunktion besser geeignet sind. So erhalten die mehr Gewalt über Abstufung der Strafe, etc., die die Bestrafung auch organisiert und kontrolliert und sie gehört nicht mehr der Willkür der Richter. Diese von Charles Lucas erstellten Prinzipien fasst Foucault in der, wie er es nennt, Unabhängigkeitserklärung des Gefängnisses zusammen, die folgendes geltend macht


4: das Strafurteil ist eine willkürliche Einheit, die zerlegt werden muss, die Verfasser der Strafgesetze haben mit Recht bereits die Ebene der Gesetzgebung (welche die Taten klassifiziert und ihnen Strafen zuordnet) und die Ebene des Gerichts (das Urteile fällt) unterschieden, dem Strafvollzugsurteil muss seine Autonomie gegeben werden, Kontrolle der Schätzungen des Richters durch das Straf- und Besserungsgefängnis. Es galt Transformationen an den Individuen vorzunehmen, wofür es drei große Modelle gab: ein politisch-moralisches Modell der Isolierung und der Hierarchie (Zelle), ein ökonomisches Modell der zur Zwangsarbeit eingesetzten Kraft (Werkstatt) und ein technisch-medizinisches —

Anmerkung — 4 „Nennen wir es die Unabhängigkeitserklärung des Gefängnisses, das darin das Recht beansprucht, ein Gewalt zu sein, die nicht nur ihre Verwaltungsautonomie hat, sondern auch einen Teil der Strafsouveränität.“ (S.317) —

Modell der Heilung und der Normalisierung (Spital). Darüber hinaus gab es die Disziplinarzugabe „Besserungsstrafe“ oder „Strafvollzug“, die der Spielraum zwischen der rechtlichen Freiheitsberaubung und der über sie hinaus gehenden Gefängnishaft war. Eine ganz problemlose Zustimmung fand dieser Strafzuschlag allerdings nicht, da das Prinzip galt, dass die Strafe nichts weiter sein dürfe, als Freiheitsberaubung. Seit jener Zeit hat der Strafvollzug ein solches Eigengewicht gewonnen, das sich alle um ihn reißen. Das Gefängnis ist Ort des Vollzugs der Strafe und Ort der Beobachtung der bestraften Individuen. Es geht um Überwachung und um die Erkennung jedes Häftlings, seines Verhaltens, seiner tiefen Anlagen und seiner fortschreitenden Besserung. Der Häftling muss dafür unter ständigem Blick gehalten werden, alle Aufzeichnungen, die man von ihm macht, müssen registriert und verbucht werden. Es entstand dafür das so genannte Panopticon von Jeremy Bentham, welches zugleich Überwachung und Beobachtung, Sicherheit und Wissen, Individualisierung und Totalisierung, Isolierung und Transparenz ermöglichte.


1830 bis 1840 wurde es zum architektonischen Programm der meisten Gefängnisprojekte. Das Panopticon ist eine Gefängnismaschine mit einer Sichtzelle, in der sich der Häftling gefangen findet und mit einem Zentralpunkt, von dem aus ein ständiger Blick sowohl die Häftlinge wie das Personal kontrollieren kann.5 Wegen der dadurch kreisförmig angelegten Gefängnisse ist es möglich, von einem einzigen Zentrum aus alle Häftlinge in ihren Zellen, sowie die Wächter in den Überwachungsgalerien zu sehen. Gleichzeitig entstand mit dem Panopticon auch ein lückenloses Dokumentationssystem mit Buchführung, wobei ständig Wissen über den Häftling erhoben wurde, das zur Besserung beitrug. Mit dieser Buchführung wird jeder Gefangene zu einer Kapitalanlage, die Besserungszinsen bringen soll, wie Foucault es beschreibt. So wird das in das Strafsystem und die Errichtung der Gefängnisse investierte Kapital gewinnbringend.

6 Nun geht Foucault näher auf die Person des Delinquenten ein. Der Delinquent ist die

— Anmerkung — 5 „Als Ort des Vollzugs der Strafe ist das Gefängnis zugleich Ort der Beobachtung der bestraften Individuen. Und dies in zweierlei Sinne. Gewiß geht es um die Überwachung. Es geht aber auch um die Erkennung jedes Häftlings, seines Verhaltens, seiner tiefen Anlagen, seiner fortschreitenden Besserung. Das Gefängnis ist der Ort, an dem sich ein klinisches Wissen über die Sträflinge formiert.“ (S.319)

6 „In jedem Fall handelt es sich darum, aus dem Gefängnis den Konstitutionsort eines Wissens zu machen, das als regulatives Prinzip für die Durchführung des Besserungsvollzugs dienen muß.“ (S.322)


andere Person, die der Straf- und Besserungsapparat dem Verurteilten unterschiebt, es ist weniger seine Tat, als vielmehr sein Leben für seine Charakterisierung entscheidend. Der Besserungsapparat beschäftigt sich mit dem Delinquenten, nicht mit dem Rechtsbruch oder dem Rechtsbrecher. Die Existenz muss völlig neu inszeniert werden, deswegen bezieht sich die Besserung auf das Leben, während die gesetzliche Strafe nur auf die begangene Tat abzielt. Dabei müssen seine Anlagen, die Folgen seiner gesellschaftlichen Stellung und die schlimmen Vorfälle in seiner Erziehung erkennen und feststellen.

Dem Rechtsbrecher wird Verantwortung für ein Vergehen zugeschrieben, der Delinquent zeichnet sich dahinter ab und dessen Charakter will man nun bearbeiten. Wichtig dafür ist die Biografie des Kriminellen, da sie ihn vor dem Verbrechen und unabhängig davon schafft. Je mehr die Biografie des Kriminellen in der Gerichtspraxis die Analyse der Umstände der Tat ergänzt, desto mehr verwischen sich die Grenzen zwischen dem Diskurs des Richters und des Psychiaters. Wo sich beide vermischen, bildet sich der Begriff des „gefährlichen Individuums“. Dadurch ist es möglich, über die gesamte Biografie des Delinquenten ein Kausalitätsnetz zu ziehen und ein Besserungs-Strafurteil zu fällen. Es gibt aber noch weitere Unterschiede zwischen dem Delinquenten und dem Rechtsbrecher. Der Delinquent ist nicht nur Urheber einer Tat, sondern durch Instinkte, Tendenzen, seinen Charakter und Triebe an sein Verbrechen geknüpft. Er weicht vielmehr von der Norm ab, als vom Gesetz.


7 Foucault unterscheidet folglich drei Typen von Verurteilten: erstens diejenigen mit höheren intellektuellen Fähigkeiten, als der Durchschnitt, die aber durch Anlagen, Tendenzen, etc. pervers geworden sind. Zweitens lasterhafte, beschränkte Verurteilte, mit Gleichgültigkeit gegenüber Ehre und Gut, die durch mangelnden Widerstand gegen schlechte Anreize ins Verbrechen hineingezogen wurden und drittens arbeitsunfähige oder unzurechnungsfähige Verurteilte, die nicht arbeitsfähig sind, weil sie Arbeitskonkurrenz mit intelligenten Arbeitern nicht bestehen können, da das überlegte Anstrengung und Willenskraft

7 „Die Besserungsstrafe und der Delinquente sind zusammen und sich gegenseitig verlängernd als ein technologisches Ensemble zutage getreten – ein technologisches Ensemble, das den Gegenstand, auf den es seine Instrumente ansetzt, formiert und definiert. […] Die Delinquenz ist die Rache des Gefängnisses an der Justiz. Die Rache ist so unheimlich, daß sie dem Richter die Rede verschlägt. […] Der Gedanke einer Straf-Gesellschaft und einer allgemeinen Zeichentechnik der Bestrafung, der von der „Ideologie“ Beccarias und Benthams inspiriert war, verlangte nicht unbedingt den universellen Einsatz des Gefängnisses.“ (S.328)


fordert. Foucault beschreibt es so, dass es die Strafjustiz mit dem Verbrecher zu tun hat und der Vollzugsapparat mit dem Delinquenten. Der gemarterte Körper ist verschwunden, stattdessen ist der Körper des Häftlings in den Mittelpunkt getreten, zusammen mit der Identität des Delinquenten. Das Gefängnis produziert den Delinquenten und bietet so „ein einheitliches und von Wissenschaften autorisiertes Gegenstandsfeld und damit einen allgemeinen Horizont von Wahrheit […]“ (S.329).

Gesetzwidrigkeiten und Delinquenz

Der zweite Teil des Gefängniskapitels beschäftigt sich mit Gesetzwidrigkeiten und weiter mit der Delinquenz. Zunächst geht Foucault aber noch einmal auf das Ende der Martern ein (die Marter wurde eingehend im ersten Kapitel des Buches beschrieben) und hier vor allem auf die Ablösung der Sträflingskette durch den Zellenwagen im Jahr 1837. Für den Autor ist der Übergang von der Marter zum Gefängnis der Übergang von einer Bestrafungskunst zur Anderen.8 Die Sträflingskette (bei der die Häftlinge an eisernen Halsringen in einer Kette zusammengeschlossen werden) als Weg in die Haft war ein Teil der Marterzeremonie, die dabei beide Bestrafungsarten vereinte. Das Volk verhielt sich dabei wie bei öffentlichen Hinrichtungen, es lästerte, drohte, schlug,…, außerdem erhob es Zorn gegen zu strenge oder zu nachsichtige Justiz. Die Verbrecher in der Kette antworteten darauf, indem sie ihr Verbrechen zur Schau stellten, als Heldentat oder sich auch über die Polizei lustig machten, aufgrund eventuell unentdeckter Verbrechen. Sie zeigten auf jeden Fall keine Reue, eher Freude und verneinte so die Bestrafung. Sie sangen Marschlieder und huldigt seinem Verbrechen, zeigt keine Angst vor der Marter und lässt das Publikum denken, das Zuchthausleben biete Freude und ließe Freundschaften entstehen.9 Die damals zur Ermahnung der Bevölkerung gedachten „Fliegenden Blätter“, auf denen der Verbrecher die Menge — Anmerkung — 8 „Es handelt sich um eine technische Mutation. Ein Symptom und ein Resultat dieses Übergangs bildet die 1837 vorgenommene Ablösung der Sträflingskette durch den Zellenwagen.“ (S.330) 9 „In diesem Fest des Aufbruchs der Sträflinge ist etwas von den Riten des Sündenbocks, den man schlägt, um ihn zu verjagen; etwas von dem Wahnsinnigen, auf dem sich die Rollen vertauschen; etwas von den alten Schafott-Zeremonien, wo die Wahrheit auflodern muss; und auch etwas von den Volksspektakeln, auf denen man berühmte Persönlichkeiten oder altbekannte Gestalten wieder erkennt: Spiel der Wahrheit und der Verruchtheit, Vorbeimarsch der Bekanntheit und der Schande; Schmähungen gegen entlarvte Schuldige und fröhliches Eingeständnis von Verbrechen. Man sucht nach dem Gesicht der Verbrecher, die ihren Ruhm hatten; […].“ (S.332f) nicht zur Nachahmung aufrufen sollte, wurden nun dazu benutzt, das Publikum anzustacheln, entweder die Barbarei der Henker und die Ungerechtigkeit der Richter oder das Unglück der irgendwann wieder triumphierenden Verurteilten zu wählen. — Dadurch entstanden Unruhen in der Bevölkerung und man änderte die Verlegung der Gefangenen, allerdings auch die Strafen und durch das Gefängnis wurde sie auch unter das Zeichen der administrativen Scham gestellt. Im Juni 1837 wurde der Zellenwagen eingeführt, als ein mobiles Panopticon, bei dem die Besserung schon innerhalb des Wagens beginnt. Wie bei Benthams Panopticon gibt es äußere Auswirkungen (nur Wasser und Brot, Daumenschrauben, kein Schlafkissen, Zusammenkettung der Arme), sowie innere Auswirkungen (da man nicht schlafen, sondern nur denken kann). Weiter beschäftigt sich Foucault mit der Kritik am Gefängnis. Diese meldete sich 1820 bis 1848. Die Geschichte des Gefängniswesens verlief nicht chronologisch, mit Einführung der Haftstrafe, Registrierung des Misserfolgs und anschließenden Reformprojekten, sondern war eher eine Verteilung dieser Elemente. Die Kritik sagte, die Gefängnisse würden nicht zur Minderung der Kriminalität beitragen; die Zahl der Verbrechen nehme ab, aber die Zahl der Rückfälle steige eher, als das sie sinke. Daraus folgerten die Kritiker und auch Foucault, dass die Haft den Rückfall fördere. Anstatt gebesserte Individuen in Freiheit zu schicken, produziert das Gefängnis Delinquenten, durch aufgezwungene Existenzweise des Häftlings, durch Isolation in Zelle oder unnütze Arbeit, für die es in Freiheit keine Anstellung gibt. Dem Häftling werden außerdem gewaltsame Zwänge auferlegt, er fühlt sich ungerecht behandelt und wird so unkontrollierbar und lässt sich nicht bessern. Das Gefängnis ermöglicht und begünstigt die Organisation eines solidarischen und hierarchisierten Milieus von Delinquenten die zu allen Komplizenschaften bereit sind. So gibt es überall in Frankreich solche antisozialen Klubs, wo es Gefängnisse gibt. Für den Autor sind auch die Bedingungen unter denen die Häftlinge nach ihrer Freilassung stehen, ausschlaggebend, da sie sie zum Rückfall verleiten, weil sie unter Polizeiüberwachung stehen, ihnen ein Wohnsitz zugewiesen wird und sie nur mit einem Pass entlassen werden, auf dem Verurteilung vermerkt ist. Die häufigsten Ursachen für Rückfall sind das Aufenthaltsverbot, die Landstreicherei und die Unmöglichkeit, eine Arbeit zu finden. Außerdem produziert das Gefängnis auf indirektem Wege Delinquenten, weil es die Familie des Häftlings ins Unglück stürzt. Es überlässt die Mutter in Not, die die Kinder kaum ernähren kann, welche verlassen von ihrem Vater sind. So muss die Familie betteln oder flüchtet in die Landstreicherei und das Verbrechen droht sich fortzupflanzen. Die Kritik am Gefängnis geht in zwei Richtungen; einerseits, dass es nicht bessernd genug wirke und andererseits, dass es vor lautern Bessernwollen seine Bestrafungsgewalt verliere. Als Antwort darauf wurden die Strafvollzugstechniken wiederbelebt, um den Misserfolg zu überwinden und die Besserungstechniken mussten realisiert werden, „um die Unmöglichkeit seiner Verwirklichung zu übersteigen.“ (S.346). Darauf folgend erläutert Foucault die sieben Universalmaxime des „angemessenen Strafvollzugs“: 1. Haftstrafe muss vor allem zur Änderung des Verhaltens des Individuums führen (Prinzip der Besserung), 2. Gefangene müssen isoliert oder nach der Schwere ihres Verbrechens voneinander getrennt werden; vor allem aber nach Alter, Anlagen, den bei ihnen angewendeten Besserungstechniken und den Phasen ihrer Umgestaltung (Prinzip der Klassifikation), 3. Ablauf der Strafen muss in Abhängigkeit von der Individualität der Gefangenen, von den erzielten Resultaten, von den Fortschritten oder Rückfällen modifizierbar sein (Prinzip der Flexibilität der Strafen), 4. Arbeit muss eines der wesentlichsten Elemente der Umformung und der fort-schreitenden Sozialisierung der Gefangenen sein. Die Zwangsarbeit darf nicht als zusätzliche Erschwernis der Strafe betrachtet werden, sondern als eine nicht wegzudenkende Humanisierung (Prinzip der Arbeit als Pflicht und Recht), 5. Erziehung des Gefangenen ist von Seiten der öffentlichen Gewalt sowohl eine unverzichtbare Vorsichtsmaßnahme, als auch eine Verpflichtung gegenüber dem Gefangenen (Prinzip der Besserungsstrafe als Erziehung), 6. Das Gefängnisleben muss zumindest teilweise unter der Kontrolle und Leitung eines spezialisierten Personals stehen, das die moralischen und technischen Fähigkeiten besitzt, über die gute Entwicklung der Individuen zu wachen. In jeder Strafanstalt fungieren ein Sozialdienst, sowie ein medizinisch-psychologischer Dienst (Prinzip der technischen Kontrolle der Haft), 7. Auf Gefängnishaft müssen Kontroll- und Fürsorgemaßnahmen folgen, bis der ehemalige Häftling endgültig wiederangepasst ist (Prinzip der Anschluss-Institutionen). Die Einführung des Gefängnisses, seine Niederlage und seine Reformen waren keine drei aufeinander folgenden Phasen, sondern ein gleichzeitiges System, dass sich historisch über die bloße Freiheitsberaubung gelegt hat. Vier Elemente beinhaltet dieses System: Den Disziplinarzuschlag des Gefängnisses als Element der Übermacht, die Herstellung einer Gegenständlichkeit, einer Technik und einer Rationalität des Strafvollzug, als Element des angeschlossenen Wissens, die Aufrechterhaltung oder Verstärkung einer Kriminalität die beseitigt werden sollte als Element der verkehrten Wirkung, sowie die ständige Wiederholung einer Reform, die trotz ihrer Idealität mit dem Disziplinarbetrieb identisch ist als Element der utopischen Verdopplung. Dieses komplette Ganze bildet das Kerkersystem. Mit diesem Kerkersystem beschäftigt sich der Autor auch noch einmal eingehend im dritten Teil des Gefängniskapitels. Hier erläutert schon einmal Foucault, was das Kerkersystem zu einem einzigen Komplex zusammenschließt, nämlich „Diskurse und Architekturen, Zwangsregelungen und wissenschaftliche Thesen, wirkliche gesellschaftliche Effekte und nicht aus der Welt zu schaffende Utopien, Programme zur Besserung der Delinquenten und Mechanismen zur Verfestigung der Delinquenz.“ (S.349). Das Gefängnis an sich ist das Instrument für die Strafjustiz, die die vom Gesetz festgelegten Vergehen reduzieren soll. Doch es führte zu Misserfolg und dennoch hielt man 15 Jahre lang daran fest. Foucault stellt sich die Frage, warum man dies tat (Alternative wären nur Deportationen gewesen) und erläutert, wozu dieser Misserfolg des Gefängnisses gut gewesen ist. Er war Fortbestand der Delinquenz, Rückfälligkeit, Umwandlung eines Gelegenheitstäters in einen Gewohnheitsdelinquenten und Organisation eines geschlossenen Delin-quentenmilieus. Strafmittel sollen eben nicht dazu bestimmt sein, Straftaten zu unterdrücken, sondern sie zu differenzieren, ordnen und nutzbar zu machen. So wäre die Strafjustiz dann Verwaltung der Gesetzwidrigkeiten und würde ihre allgemeine Ökonomie sicherstellen.

Ende des 18. Jahrhunderts begann die Reform des Strafsystems ausgehend vom Kampf gegen die Gesetzwidrigkeiten. Es entstand die Utopie einer allgemein und öffentlich strafenden Gesellschaft, in der ständig in Betrieb befindliche Strafmechanismen ohne Verzug, ohne Vermittlung und ohne Ungewissheit arbeiten sollten. Um die Jahrhundert-Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert erhebt sich Gefahr einer neuen volkstümlichen Gesetzwidrigkeit, die neue Dimensionen erreicht. Von 1789 bis 1848 bestimmt sie die gesellschaftlichen Konflikte, die Kämpfe gegen das politische Regime, den Widerstand gegen die Industrialisierung und die Auswirkungen der wirtschaftlichen Krisen.

Wobei sich folgende drei Prozesse unterscheiden lassen:

  • 1. Entwicklung der politischen Dimension der volkstümlichen Gesetzwidrigkeit, die in zwei Richtungen geht; einmal Praktiken, die auf bestimmte Orte und sich selber beschränkt waren und sich während der Revolution zu eigentlichen politischen Kämpfen gegen Regierungs- und Machtstrukturwechsel ausgeweitet haben und umgekehrt haben bestimmte politische Bewegungen an bestehende Formen der Gesetzwidrigkeit angeknüpft
  • 2. zeichnen sich in Ablehnung der Gesetze und der Reglements die Kämpfe gegen diejenigen ab, die sie ihren Interessen gemäß einrichten; gegen das Gesetz selbst und die Justiz
  • 3. verlagert sich im Laufe des 18. Jahrhundert die Kriminalität auf spezialisierte Formen und ist Sache von Außenseitern und Isolierten, aber in den letzten Jahren des Jahrhunderts bahnen sich neue Verbindungen und Beziehungen an. Man nannte diese Menschen Volksverhetzer; sie waren aber keine Kriminellen, lediglich die strengen Regeln, Rechtsformen und Anforderungen des Staates, sowie die Überwachungstechniken vermehrten die Gelegenheit zu Delikten und viele Individuen wurden so zu Rechtsbrechern, obwohl sie sonst nicht kriminell geworden wären. Im 18. Jahrhundert gab es Behauptungen, Verbrechen sei ausschließlich Sache einer sozialen Klasse und keine Anlage, die durch Interesse und Leidenschaft geweckt wird und Kriminelle kämen nun nur noch aus „letztem Rang gesellschaftlicher Ordnung“ und nicht wie früher aus allen Teilen der gesellschaftlichen Klassen.

10 Fakt ist, dass nicht das Verbrechen einen von der Gesellschaft entfremdet, sondern entsteht das Verbrechen, dadurch, dass man in der Gesellschaft ein Fremder ist. Die Sprache des Gesetzes soll allgemein gültig und verständlich sein; sie muss, um erfolgreich zu sein, der Diskurs einer Klasse gegenüber einer anderen sein, die weder dieselben Wörter, noch Ideen hat. Da jedoch das Gesetz und die Justiz ihre Klassenasymetrie weiter proklamieren, verfehlt das Gefängnis gerade nicht seinen Zweck. Weiter macht Foucault deutlich, dass der rechtliche Gegensatz Gesetzmäßigkeit von gesetzwidriger Praxis unterscheidet, während der strategische Gegensatz die Grenze zwischen Gesetzwidrigkeit und Delinquenz zieht. Darauf erläutert der Autor, dass

  • Anmerkung — 10 „ […] , daß es unter diesen Bedingen Heuchelei und Naivität wäre zu glauben, daß das Gesetz für alle und im Namen aller geschaffen ist, daß es klüger ist anzuerkennen, daß es von einigen gemacht ist und auf andere anzuwenden ist; daß es zwar im Prinzip alle Bürger verpflichtet, sic aber in erster Linie an die zahlenmäßig stärksten und am wenigsten aufgeklärten Klassen richtet; […].“ (S.355)

das Gefängnis gerade durch die Produktion der Delinquenz nachträglich Erfolg hatte. Dem Gefängnis ist es gelungen, die Delinquenz als einen spezifischen, politisch und wirtschaftlich weniger gefährlichen und sogar nützlichen Typ von Gesetzwidrigkeit zu produzieren.11 Es produziert eine nützliche Gesetzwidrigkeit, die wiederum die Langlebigkeit des Strafsystems sicherstellt. Foucault stellt sich die Frage, wie es möglich sein kann, dass das Gefängnis eine Delinquenz herstellt, die es eigentlich zu bekämpfen hat? Doch es gibt einige Vorteile der Delinquenz, die dies erklären. Die Unübersichtlichkeit von gelegentlichen unvorhersehbaren rechtswidrigen Praktiken wird ersetzt durch eine relativ beschränkte und geschlossene Gruppe von Individuen, die sich einer stetigen Überwachung unterwerfen lassen, nach ihrer Freilassung. Eine isolierte Delinquenz kann man auf Formen der Gesetzwidrigkeit umleiten, die weniger gefährlich sind. Indem sich die Delinquenz von den anderen Gesetzwidrigkeiten absetzt, schwebt sie über ihnen als Drohung; die Auswertung der Delinquenz als abgesondertes und leicht zu handhabendes Milieu hat sich allerdings an den Grenzen der Legalität vollzogen. Als gebändigte Gesetzwidrigkeit ist die Delinquenz ein „Agent im Dienste der Gesetzwidrigkeit der herrschenden Gruppen“ (S.360); charakteristisch dafür ist die Errichtung von Prostitutionsnetzwerken im 19. Jahrhundert mit Polizei- und Gesundheitskontrollen an den Prostituierten, deren regelmäßige Gefängnisaufenthalte, die Organisation von geschlossenen Häusern und die sorgfältige Hierarchie innerhalb dieses Milieus, sowie die Unterwanderung durch Spitzel. So wurde die „nützliche Delinquenz“ ein Instrument zur Bewältigung und Ausbeutung der Gesetzwidrigkeiten. Eine besondere Überwachung sah das Strafgesetzbuch von 1810 für entlassene Sträflinge und diejenigen vor, die schwere Taten begangen haben und die wahrscheinlich rückfällig werden würden. Auch gefährliche Gruppen und Milieus wurden von Spitzeln überwacht, die ehemalige Delinquenten waren und ihrerseits von der Polizei überwacht wurden. Diese „Das Gefängnis läßt eine sichtbare, stigmatisierte und weitgehend unverwüstliche Gesetzwidrigkeit entstehen, die insgeheim nützlich weil zugleich widerspenstig und fügsam ist. […] Diese vom Gefängnis herausgehobene Form der Gesetzwidrigkeit ist die Delinquenz. Die Delinquenz ist nicht unbedingt die intensivste und schädlichste Form der Gesetzwidrigkeit, die darum von der Strafjustiz mit Hilfe des Gefängnisses niedergehalten werden müßte; sie ist eher ein Effekt des Strafsystems (und zwar des Haftstrafsystems) und trägt zur Differenzierung, Ordnung und Kontrolle der Gesetzwidrigkeit bei.“ (S.356) – Überwachungsarten setzten voraus, dass es Dokumentationssysteme gibt, mit denen die Kriminellen auffindbar und identifizierbar sind, mit Personenbeschreibungen bei Haftbefehlen, Steckbriefen in den Einlieferungsregistern der Gefängnisse, sowie später ein alphabetisches Gesamtverzeichnis beim Innenministerium. Die Delinquenz bietet so ein Instrument zur ständigen Überwachung der Bevölkerung, die aber nur im Zusammenhang mit dem Gefängnis funktionieren kann.

Das Gefängnis und die Polizei bilden eine doppelstrategische Anlage innerhalb des Gesamtfeldes der Gesetzwidrigkeit und stellen zusammen die Differenzierung, Isolierung und die Nutzbarmachung der Delinquenz sicher. Es ist ein Komplex aus drei Elementen: Polizei, Gefängnis, Delinquenz. Die polizeiliche Überwachung liefert dem Gefängnis die Straftäter, die diese zu Delinquenten transformiert, welche dann zu Zielscheiben und Hilfskräften der Polizei werden und einige aus ihren Reihen regelmäßig wiederum ins Gefängnis bringen. 12/13 Die Rolle der Justiz gegenüber den Gesetzwidrigkeiten war die einer differenzierbaren Kontrolle, die neben Polizei, Gefängnis und Delinquenz eine „Relaisstation innerhalb der allgemeinen Ökonomie der Gesetzwidrigkeiten“ (S.364) bildete. Wenn die Delinquenz vom Apparat der Strafjustiz hergestellt und eingeschlossen wird, handelt es sich um Taktiken, die sich immer wieder verschieben, da sie ihr Ziel nie ganz erreichen. Die Aufrichtung der Barriere zwischen den Delinquenten und den Volksschichten aus denen sie stammten und immer noch angehörten, war vor allem in Städten schwierig. Daraufhin kam zu Verfahren zur Moralisierung der Klassen. Es ging um das Eintrichtern einer Grundgesetzlichkeit, das Beibringen der Grundregeln des Eigentums und des Sparens, das Abrichten zum Arbeitsgehorsam, zur Sesshaftigkeit usw. Außerdem gab es spezielle Maßnahmen zur Vertiefung der Feindschaft zwischen Volk und Delinquenten, indem man ehemalige Häftlinge als Denunzianten, Spitzel oder Streikbrecher einsetzte. Man hat auch häufig in Urteilen — Anmerkung — 12 „[…] durch den Druck der Kontrollen an den Rand der Gesellschaft geschoben, auf dürftige und unsichere Existenzbedingungen reduziert, ohne Verbindung mit der Bevölkerung […], werden die Delinquenten unweigerlich auf eine lokalisierte, unattraktive, politisch ungefährliche und wirtschaftlich folgenlose Kriminalität zurückgeworfen.“ (S.358) 13 „[…] die Unterwanderung von politischen Parteien und Arbeitervereinigungen, de Anwerbung von Helfershelfern gegen Streikende und Aufständische, die Organisation einer „Unterpolizei“, die mit der legalen Polizei zusammenarbeitete und zu einer Parallelarmee werden konnte – ein ganzer Bereich des außergesetzlichen Operierens der Macht wurde zum Teil durch eine Manövriermasse aus Delinquenten ermöglicht: Geheimarmee und Reservearmee der Macht.“ (S.361) — gegen Arbeiter größere Strenge an den Tag gelegt, als gegen Diebe und im Gefängnis wurden beide Gruppen vermischt und die Kriminellen besser behandelt.

Foucault geht nun kurz auf die Funktion der Kriminalberichterstattung und des Kriminalromans ein. Die Kriminalberichterstattung lässt die Wahrnehmung über Delinquenten als nahe, überall gegenwärtig und gefährlich erscheinen; sie macht Justiz- und Polizeikontrollen, die die Gesellschaft durchkämmen, annehmbar, wenn sie drüber berichtet. Wogegen der Kriminalroman, der sich in Feuilletons und billiger Literatur entwickelt, eine entgegengesetzte Rolle spielt. Er zeigt, dass der Delinquent einer anderen Welt zugehört, ohne Beziehung zur täglichen, vertrauten Existenz. Kriminalroman und –berichterstattung haben so Verbrechergeschichten hervorgebracht, in denen die Delinquenz zugleich als sehr nahe und sehr fremd erscheint, als ständige Alltagsbedrohung und als äußerst fern. Beide beeinflussen ihrerseits die Kampagnen und Auseinandersetzungen, die vor allem in der Arbeiterbewegung gegen die Delinquenz und ihre Verfolgung aufkommen. In dieser Zeit, den Jahren 1830 bis 1850, geht es auch gegen Gefängnisarbeit, gegen Komfort der Gefängnisse, für den Einsatz der Häftlinge zu schlimmsten und härtesten Arbeiten und gegen die Verbrechen verherrlichende Literatur. Die Volkszeitungen sehen den Ausgangspunkt der Delinquenz nicht im kriminellen Individuum, sondern in der Gesellschaft, die nicht imstande ist, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen oder weil sie Möglichkeiten, Strebungen und Anforderungen unterdrückt, die sich dann wiederum im Verbrechen Luft machen. Allerdings übertönt diese aus Not und Unterdrückung heraus geborene Kriminalität eine andere Gesetzwidrigkeit und zwar die der Reichen, die die eigentliche Quelle der Revolte der Armen ist. Die Delinquenz der Reichen wird von den Gesetzen toleriert und wenn sie mit ihnen in Konflikt kommt, kann sie auf Nachsicht der Gerichte und auf die Diskretion der Presse bauen. Dadurch entsteht die Idee, dass die politischen Gefangenen die Pflicht haben, sich Gehör zu verschaffen, als Wortführer aller Häftlinge müssen sie die Bürger aufklären und mit den Strafen und Gesetzen vertraut machen. So entsteht eine Gegen-Kriminalbericht-erstattung, die die systematisch in der Bourgeoisie vorkommenden Delikte raus streicht und zeigt, dass sie die Klasse ist, die der „physischen Degeneration und der moralischen Fäulnis anheim gefallen ist“ (S.373). An Stelle der Berichte von den Verbrechen der einfachen Klasse, setzt sich die Schilderung des Elends, in das es von denen gestürzt wird, die es ausbeuten, aushungern und zu Tode peinigen. Es gibt also nicht eine kriminelle Natur, sondern Kräftespiele, welche die Individuen je nach Klassenzugehörigkeit an die Macht oder ins Gefängnis bringen. Die „Phalange“ als dieser Quellen der Berichterstattung analysiert die Kriminalaffären als eine von der „Zivilisation“ codierte Auseinandersetzung, die großen Verbrechen nicht als Monstrositäten, sondern als die schicksalhafte Wiederkehr und Erhebung des Unterdrückten und die kleinen Gesetzwidrigkeiten nicht als unvermeidbare Randerscheinungen, sondern als das „Donnerrollen der Schlacht in der Mitte“ (S.375). Alle Gesetzwidrigkeiten, die das Gericht als Verstöße betrachtet, hat der Angeklagte in die Bejahung einer lebendigen Kraft umformuliert, das heißt bspw. das Verlieren der Wohnung in Herumvagieren, das Fehlen eines Lehrers in Autonomie, das Fehlen von Arbeit in Freiheit, usw. 14

Das Kerkersystem

Der dritte und letzte Teil über das Gefängnis behandelt das Kerkersystem. Als Abschluss der Formierung des Kerkersystems legt sich Foucault auf den 22. Januar 1840 fest, was gleichzeitig auch das Datum des „Rettungshauses“ von Mettray ist.15 Die Jugendstrafanstalt von Mettray ist die intensivste Zuchtform. Sie hat etwas vom „Kloster, vom Gefängnis, vom Kolleg und vom Regiment“ (S.379). Die Häftlinge sind in hierarchisierte Kleingruppen aufgeteilt, die auf fünf Modelle verweisen: das Modell der Familie (jede Gruppe besteht aus „Brüdern“ und zwei „Älteren“), das Modell der Armee, das Modell der Werkstätte, das Modell der Schule und das Modell des Gerichts. Bei Nichteinhaltung der Regeln gilt leichte Bestrafung strenger Verstöße, um schwere Vergehen zu verhindern. Hauptstrafe ist die Zellenhaft, da die Isolierung das beste Mittel ist, auf die Bestraften einzuwirken.Dabei kennzeichnet die Überlagerung der verschiedenen Modelle das Spezifische — Anmerkung — 14 „Die Anarchisten glaubten, in der Delinquenz die streitbarste Form der Ablehnung des Gesetzes zu erkennen; es ging ihnen weniger darum, die Revolte der Delinquenten zu heroisieren, sondern vielmehr darum, die Delinquenz aus ihrer Kolonisierung durch die bürgerliche Gesetzmäßigkeit und Gesetzwidrigkeit zu befreien; sie wollten die politische Einheit der volkstümlichen Gesetzwidrigkeiten wiederherstellen oder herstellen.“ (S.378) 15 „Hätte ich das Datum festzusetzen, daß den Abschluß der Formierung des Kerkersystems bezeichnet, würde ich nicht das Jahr 1810 mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch nennen, auch nicht das Jahr 1844 mit der Einführung der Zellenhaft oder das Jahr 1838, das immerhin die Bücher von Lucas, Moreau-Christophe und Faucher erscheinen sah. Ich würde den 22. Januar 1840 wählen, das Eröffnungsdatum des „Rettungshauses“ von Mettray.“ (S.379) dieser Dressur. Die „Verhaltenstechniker, Ingenieure der Menschenführung, Orthopäden der Individualität“ (S.380) haben gelehrige und taugliche Körper herzustellen, wobei auch über das tägliche Verhalten der Insassen ohne Unterlass ein Wissen erhoben wird. Diese Modellierung des Körpers bringt eine Erkenntnis des Individuums; die Erlernung von Techniken führt zur Annahme von Verhaltensweisen und die Aneignung von Fähigkeiten verstrickt sich mit der Fixierung von Machtverhältnissen. Der Effekt dieser Disziplinartechnik ist, eine Seele zu erkennen und eine Unterwerfung, die zu vertiefen ist. Mettray ist dafür exemplarisch, da sie die Besonderheit der Dressur zur Geltung bringt. Dort ist Besserungsstrafe nicht einfach eine Maßnahme, sondern eine Technik, die sich erlernen und weitergeben lässt, da sie auf allgemeinen Normen beruht. Die Aufseher und das zukünftige Personal mussten ihrerseits eine Ausbildung in einer Spezialschule absolvieren und dieselben Lehr- und Übungsprozeduren durchmachen, die sie später durchsetzen müssen. So fällt die Geburt der Psychologie laut Historikern auch in diese Jahre, in denen auch Weber anfing. — Mettray an sich ist kein richtiges Gefängnis: es ist eins, weil junge verurteilte Delinquenten dort inhaftiert werden, aber es ist auch keins, weil auch nach Artikel 66 freigesprochene Minderjährige aufgenommen wurden, sowie Zöglinge, die aufgrund der väterlichen Zuchtgewalt in Verwahrung genommen wurden. Die Grundsätze von Mettray: keine Inhaftierung außerhalb des Gesetzes, keine Haft ohne Entscheidung einer qualifizierten, gerichtlichen Institution, Schluss mit den willkürlichen und massiven Einsperrungen des Ancien Régime. Das Prinzip der außergerichtlichen Einkerkerung wurde aber nie wirklich aufgegeben. Vom Gefängnis aus wurden die gesetzlichen Strafen auf der einen Seite und die Disziplinarmechanismen auf der andern einbezogen. Waren die Grenzen zwischen der Einsperrung, den Gerichtsstrafen und den Disziplinarmechanismen im klassischen Zeitalter schon unscharf, so geht jetzt die Tendenz zur Auflösung der Grenzen – zu einem großen Kerker-Kontinuum, das die Bestrafungstechniken in die harmlosesten Disziplinen einführt und die Disziplinarnormen in das Herz des Strafsystems einpflanzt und die geringste Gesetzwidrigkeit ebenso wie die kleinste Regelverletzung, Abweichung und Anomalie unter die Drohung der Delinquenz stellt. Die Kreise des Kerkersystems erweitern sich und entfernen sich immer mehr von der eigentlichen Strafjustiz, bis von der Gefängnisform nichts mehr übrig bleibt. Es gab auch eine Reihe von Einrichtungen, die nicht auf das „kompakte“ Gefängnis zurückgriffen, sondern andere Kerkermechanismen einsetzten, wie zum Beispiel Wohltätigkeitsgesellschaften, Sittlichkeitsvereine, Unterstützungs- und Über-wachungsinstitutionen, Arbeitersiedlungen und –wohnungen, deren ursprüngliche Kargheit noch sehr deutlich die Spuren des Straf- und Besserungssystems an sich trägt. Alle in der Gesellschaft angelegten Disziplinareinrichtungen bilden zusammen das große Kerkernetz („Kerker-Archipel“), welcher nun diese Technik vom Justizapparat auf den gesamten Gesellschaftskörper überträgt. Mit mehreren Folgen: 1. Das gewaltige System installiert eine allmähliche, stetige und kaum wahrnehmbare Abstufung, in der man gleichsam auf natürlichem Wege von jeglicher Verhaltensstörung zum Rechtsbruch und umgekehrt von Übertretung eines Gesetzes zur Abweichung von einer Regel übergeht. Die Einkerkerung mit ihren Überwachungs- und Bestrafungsmechanismen funktioniert in einer Einheitlichkeit, wegen dem Zusammenhang der Institutionen, die aufeinander verweisen, sowie der kontinuierlichen Abstufung der Bestrafungskriterien und –mechanismen, die von der einfachsten Störung ausgehend sowohl die Regeln wie die Sanktionen zunehmend verschärfen. So wird aus dem Gegner des Souveräns und dem Feind der Gesellschaft ein Abweichler, der durch Ausschreitung, Verbrechen oder Wahnsinn gefährlich ist. 2. Das weit verzweigte Kerkersystem gestattet die Ausmusterung der großen Delinquenten. Es organisiert „Disziplinarkarrieren“, indem es den Unanpassbaren nicht verstößt. In der panoptischen Gesellschaft, deren allgegenwärtige Strategie die Einkerkerung ist, ist der Delinquent kein „Gesetzloser“. Wenn das Gefängnis die Delinquenz bestraft, so wird diese doch wesentlich in einer Kerkeranlage produziert, die vom Gefängnis gekrönt wird. Das Gefängnis, das die Delinquenz sanktioniert, ist nur der „natürliche“ Gipfel einer Schritt für Schritt durchlaufenen Hierarchie. Der Kerker-Archipel macht es möglich, dass sich die Delinquenz aus der Masse der Gesetzwidrigkeiten herauskristallisiert und dann gewisse Gesetzwidrigkeiten abschirmt. 3. Die bedeutsamste Wirkung des Kerkersystems und seiner Ausdehnung weit über die gesetzliche Haft hinaus liegt vielleicht darin, dass es die Strafgewalt zu etwas Nützlichem und Rechtmäßigen macht oder zumindest die Toleranzschwelle ihr gegenüber herabsetzt und ihre beiden Register geschickt kombiniert: das gesetzliche der Justiz und das außergesetzliche der Disziplin. Das Kerkersystem reicht vom eigentlichen Zuchthaus bis zu den Erfassungsprozeduren und es kommuniziert einen Machttyp, den das Gesetz bestätigt und die Justiz als ihre bevorzugte Waffe einsetzt. Das Kerker-Kontinuum und die Ausweitung der Gefängnisform legalisieren oder legitimieren jeweils die Disziplinarmacht, die sich auf dese Weise alle Ausschreitungen und Missbräuche erspart. Umgekehrt hilft sie der gesetzlichen Strafgewalt zu einem Umfeld, in welchem sie von jeder Maßlosigkeit und Gewaltsamkeit befreit erscheint. Dank dem Kerkersystem schleicht sich die Instanz, die verurteilt, zwischen alle anderen, die kontrollieren, modifizieren, korrigieren und bessern. 4. Mit dieser neuen Ökonomie der Macht hat das Kerkersystem, das deren Grundinstrument ist, eine neue Form des „Gesetzes“ zur Geltung gebracht: eine Mischung aus Gesetzmäßigkeit und Natur, aus Vorschrift und Konstitution: die Norm, aus der wiederum eine Reihe von Effekten entstand. Wie die innere Verschiebung der Richtergewalt, eine zunehmende Schwierigkeit beim Urteilen und gleichsam eine Scham vor dem Urteilen; bei den Richtern ein rasendes Verlangen zu Messen, Schätzen, Diagnostizieren und der Anspruch auf die Ehre des Heilens oder Resozialisierens. 5. Das Kerkergewerbe stellt sicher, dass der Körper wirklich in Verwahrung genommen wird und dass er ständig unter Beobachtung gestellt wird. Eine Vorraussetzung für den Durchbruch der Wissenschaften vom Menschen war die Vielfältigkeit und das Zusammenspiel der verschiedenen Einkerkerungs-mechanismen. Außerdem brachte sie neue Verfahren der Individualisierung mit sich. Der erkennbare Mensch ist Effekt/Objekt dieser analytischen Erfassung, dieser Beherrschung/Beobachtung. 6. Das erklärt die Unerschütterlichkeit des Gefängnisses, an dem seit seiner Geburt soviel kritisiert worden ist. Charakteristisch ist, dass wenn es um die Änderung des Haftsystems geht, der Widerstand nicht nur von Seiten der Justiz kommt; Widerstand leistet nicht das Gefängnis als gesetzliche Strafe, sondern das Gefängnis mit allen seinen außerrechtlichen Bestimmungen, Verbindungen und Wirkungen. Es entstehen zwei Prozesse, die den inneren Betrieb verändern und seine Rolle einschränken können: zum einen der Prozess, der die Nützlichkeit einer als spezifische, geschlossene und kontrollierte Gesetzwidrigkeit verwalteten Delinquenz herabsetzt. Und zum anderen der Prozess des Anwachsens der Disziplinarnetze, der Vervielfältigung ihres Austauschs mit dem Justizapparat und der Steigerung ihrer Machtkompetenzen auf Kosten der Justiz. Inmitten dieser immer dichter werdenden Normalisierungsnetze verliert das Gefängnis an Bedeutung. Das Problem liegt laut Foucault in dem großen Aufstieg der Normalisierungsanlagen: in der ungeheuren Ausweitung ihrer Machteffekte mit Hilfe neu eingesetzter Erkennungsmöglichkeiten. Das Gefängnis steht in seiner zentralen Position nicht allein, sondern ist mit einer Reihe anderer „Kerker“-Mechanismen verbunden, die anscheinend wohl unterschieden sind (da sie trösten, heilen, pflegen sollen), tatsächlich aber ebenso eine Normalisierungsmacht ausüben.Und was allen diesen Mechanismen letzten Endes zugrunde liegt, ist nicht das einheitliche Funktionieren eines Apparates oder einer Institution, sondern einer Notwendigkeit eines Kampfes und die Regeln einer Strategie. So schließt Foucault sein Werk ab. 16/17 Fazit Abschließend zusammengefasst ist Michel Foucaults Buch über die Geburt des Gefängnisses eine Darstellung einerseits der chronologischen Abläufe im Strafsystem Frankreichs, von der Zeit des Ancien Régime bis ins 20. Jahrhundert und andererseits auch eine Durchleuchtung eben dieser Abläufe. Von den Martern über die Disziplinaranstalten bis hin zum Kerkersystem und den Besserungsgefängnissen hat das Strafsystem einige Reformen durchlaufen müssen. Letztlich hat es dazu geführt, dass man das Strafsystem unter Kontrolle gebracht hatte; das Gefängnis selbst produzierte die Delinquenz, die es andererseits auch bekämpfen musste. Man hat gesehen, dass mit der menschlichen Weiterentwicklung, auch im geistigen Sinne, eben auch das Strafsystem einer Entwicklung und Neuordnung unterzogen werden muss und das Veränderungen notwendig waren und sinnvoll umgesetzt wurden. — Anmerkung — 16 „Indem es sie solchermaßen homogenisiert und von Willkür bzw. Gewalt befreit, indem es die Gefahr der Revolte vermindert und Erbittung und Maßlosigkeit überflüssig macht, indem es überall dieselben kalkulierten, mechanisierten und diskreten Methoden ins Spiel bringt, läßt das Kerkersystem jene große „Ökonomie“ der Macht wirklich werden, deren Formel das 18. Jahrhundert gesucht hatte, als das Problem der Akkumulierung und der nutzbringenden Handhabung der Menschen auftrat.“ (S.391) 17 „ Wenn wir nach dem Zeitalter der Unersuchungsjustiz in das der Überprüfungsjustiz eingetreten sind, wenn das Prüfungsverfahren ganz allgemein die gesamte Gesellschaft so weitgehend erfaßt hat und den Wissenschaften vom Menschen zum Durchbruch verholfen hat, so war eine Voraussetzung dafür die Vielfältigkeit und das straffe Zusammenspiel der verschiedenen Einkerkerungsmechanismen.“ (S.393)

Quelle

  • Alle Zitate aus: Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Erste Auflage 1994. Suhrkamp Taschenbuch. Veröffentlicht in "freie referate.de" am 29.11.2011.

Weblinks