Wirtschaftskriminalität

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Wirtschaftskriminalität ist eine Bezeichnung für Straftaten, die wirtschaftliche Bezüge aufweisen und sich entweder gegen Privatpersonen, Wirtschaftsunternehmen oder den Staat richten.

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Begriff

Wirtschaftskriminalität wird häufig als White Collar Crime (Weiße-Kragen-Kriminalität) bezeichnet. Dieser Begriff geht auf Edwin H. Sutherland zurück, der ihn 1939 zuerst verwandte.

Eine grundlegende juristische Bestimmung von Wirtschaftskriminalität erfolgt über den § 74c Gerichtsverfassungsgesetz (GVG). Sie folgt arbeitsorganisatorischen Kriterien und soll sicherstellen, dass Straftaten dieser Zuordnung von speziellen Wirtschaftsstrafkammern der Gerichte bearbeitet werden. Eine weitere juristische Bestimmung erfolgt im 2. Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (2. WiKG), wobei die deliktische Zuordnung von Wirtschaftskriminalität Differenzen zu den vom § 74c GVG erfassten Straftatbeständen aufweist. Es besteht kein einheitliches kriminologisches Verständnis vom Begriff der Wirtschaftskriminalität. Die sozialwissenschaftliche Betrachtung orientiert sich jedoch nicht nur an einer bestimmten juristisch definierten Deliktgruppe und geht über die im § 74c GVG erfassten Delikte hinaus. Hierunter werden die unterschiedlichsten Normverstöße sozial hoch stehender und an sich geachteter Personen, jedoch teilweise auch jegliche Devianz im legalen beruflichen Umfeld verstanden (vgl. Opp 1982 und Punch 1995). Einige sozialwissenschaftliche Ansichten betrachten auch die Regierungskriminalität (Governmental Crime) und das organisierte Verbrechen als Unterarten der Wirtschaftskriminalität. Allgemein üblich ist es, den Oberbegriff der Wirtschaftskriminalität zumindest in zwei Deliktgruppen zu trennen: Die ein Unternehmen begünstigende „Unternehmens- und Verbandskriminalität“ (Corporate Crime) sowie die Gruppe der Delikte, bei der sich ein Mitarbeiter im beruflichen Umfeld persönlich bereichert und die als „berufliche Kriminalität“ (Occupational Crime) bezeichnet wird.

Geschichte

Die historische Entwicklung der Wirtschaftskriminalität ist vor allem mit der Entdeckung und der Entwicklung der weltweiten Verkehrswege, aber auch mit der wachsenden Bedeutung der Werkspionage verbunden. Schon weit vor Christi Geburt prägte ein Fall von Wirtschaftskriminalität die weltweite Ökonomie. Als erstes großes Verbrechen im globalem Handel gilt der Schmuggel von Seidenraupen von China nach Indien im Jahre 500 v. Chr. Im Mittelalter betraf kriminelles Wirtschaftsgebaren auch die Hanse, die bis zum 15. Jahrhundert in ganz Europa sehr einflussreich war. Gerade die intensiven internationalen Kontakte des Hansebundes beförderten auch eine verstärkte Ausbreitung der Auskundschaftungen in den verschiedenen Betrieben und Unternehmen. Nachdem ein Gewürzhändler 1389 die Rezeptur, die zur Herstellung von Papier benötigt wurde, aus dem arabischen Andalusien nach Hause geschmuggelt hatte, entstand schnell die erste Papiermühle in Deutschland. Einige weitere spektakuläre Fälle wirtschaftskrimineller Art prägten die Historie wie z. B. die Wirtschaftsspionage des Barbier und Perückenmacher Richard Arkwright (1732-1792), welcher mittels ausspioniertem Wissen die erste Spinnmaschine Englands baute. Dem Sohn des Gussstahlfabrikgründers Friedrich Krupp, Alfred Krupp, gelang es 1839 in englischen Stahlwerken das Rezept des englischen Stahl auszuspionieren. 1841 entdeckte der US-Amerikaner Charles Goodyear eine innovative Verarbeitungsmöglichkeit des Kautschuks und ließ sie sich vier Jahre später als Vulkanisieren patentieren. Die Technik des Vulkanisierens wurde sehr häufig - und zunächst vor allem in England - rechtswidrig kopiert.

Erscheinungsformen

Insolvenzdelikte Unter Insolvenzdelikten werden die Straftaten im Zusammenhang mit dem Insolvenzverfahren eines Unternehmens verstanden. Eine nicht nur vorübergehende Illiquidität führt zur Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Unternehmens. In dieser Situation haben die persönlich haftenden Gesellschafter oder Geschäftsführer bzw. Vorstände klare Pflichten, wie beispielsweise eine fristgemäße Insolvenzanmeldung beim zuständigen Amtsgericht vorzunehmen.

Finanzierungsdelikte Finanzierungsdelikte sind alle Straftaten im Zusammenhang mit der Vermittlung, Erlangung und Gewährung von Krediten, sämtliche Erscheinungsformen der Scheck- oder Wechselreiterei sowie der Fälschung von Geldmarktinstrumenten wie z. B. kurzfristige Schuldscheindarlehen.

Kapitalanlagedelikte Unter Kapitalanlagedelikten werden der Anlagebetrug, der Beteiligungsbetrug, Betrug bei Börsenspekulationen, Wertpapierbetrug, Prospektbetrug, die Untreue bei Kapitalanlagegeschäften sowie Verstöße nach dem Kreditwesengesetz (KWG) verstanden.

Wettbewerbsdelikte Hierunter zählen beispielsweise Produktfälschungen, Verstöße gegen Patent- und Markenrechte, Diebstahl vertraulicher Kunden- und Unternehmensdaten, wettbewerbswidrige Absprachen sowie Wirtschafts- und Industriespionage.

Korruption Korruption bezeichnet die Aktivitäten des „Gebenden“ wie des „Empfängers“. Es wird dementsprechend auch von aktiver Bestechung und passiver Bestechung (Bestechlichkeit) gesprochen. Mindestens einer der Kooperationspartner missbraucht eine Macht- bzw. Vertrauensposition und gerät deshalb in einen Normkonflikt zwischen offiziellen, universalistischen Normen und partikularistischen Normen.

Geldwäsche Geldwäsche bezeichnet die Prozesse, mit denen die Herkunft von Geld aus einer Straftat verschleiert und das Geld in die legale Wirtschaft eingeschleust wird.

Statistik

Hellfeld Quellen für Hellfelddaten in Deutschland sind im Wesentlichsten die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die Rechtspflegestatistik und die „Bundesweite Erfassung von Wirtschaftsstraftaten nach einheitlichen Gesichtspunkten“ (BWE). Aber auch die Strafverfolgungsstatistik und die Strafsachenstatistik der Finanzverwaltung beinhalten relevante Falldaten. Im Jahr 2008 wurden in der PKS insgesamt 35.493 Tatverdächtige und 84.550 Fälle der Wirtschaftskriminalität erfasst. Das sind ca 1,4 % aller erfassten Fälle, die jedoch mit 3,43 Mrd. Euro ein Drittel des in der PKS registrierten Gesamtschadens ausmachen. In 39% der Fälle handelt es sich um Vermögensdelikte wie Betrug und Unterschlagung, gefolgt von Wettbewerbsdelikten (39%) und Korruption (13%).


Dunkelfeld Die individuelle Begehenshäufigkeit (Inzidenz) und die verursachten Schäden sind qualitativ intensiv, aber die geringe personale Verbreitung (Prävalenz) werden weder in den Statistiken, noch in repräsentativen Dunkelfelderhebungen qualitativ bedeutsam aufgezeigt. Sog. „klassische Normaldelikte“ werden in der Regel von Privatpersonen angezeigt; im Rahmen von Wirtschaftsstraftaten beruhen die Ermittlungen diesbezüglich auf eigenen Ermittlungen der Strafverfolgungs- oder auch der Finanzbehörden (sog. „Überwachungs- und Kontrolldelikten“), dies ist wiederum abhängig von der den Kontrollorganen zur Verfügung stehenden Schwerpunktsetzung und den vorhandenen Ressourcen. Offizielle Statistiken erfassen Wirtschaftsdelikte nur unvollständig und wenig differenziert. Delikte, die von den Staatsanwaltschaften/Finanzbehörden und nicht von der Polizei ermittelt wurden, fehlen zum Teil. Täterbefragungen sind schwer oder gar nicht möglich. Opferbefragungen sind auch nicht unproblematisch, was zumeist an der Anonymität der Opfer oder daran liegt, dass sie sich z.B. aus Scham nicht äußern wollen. Den Erkenntnissen der Dunkelfelderhebungen zufolge wird nahezu jedes zweite deutsche Unternehmen Opfer von wirtschaftskriminellen Handlungen, wobei 62 Prozent aller Unternehmen mit mehr als 5.000 Mitarbeitern Opfer waren, was auf ein Risiko der geringen Entdeckungswahrscheinlichkeit in größeren Unternehmen hinweist (vgl. PricewaterhouseCoopers (PwC) 2009). Die Schätzungen für Schäden liegen zwischen 5 und 75 Mrd. Euro jährlich, können sich jedoch nicht auf eine valide Datenbasis berufen. Immaterielle Schäden, wie z. B. der Reputationsverlust werden kaum erfasst. Empirische Studien mit massenstatistischen Daten kennzeichnen ein homogenes Bild des Wirtschaftsstraftäters. Im Gegensatz zu den meisten anderen Straftaten handelt es sich bei den Tätern um Männer deutscher Staatsangehörigkeit, die gesellschaftlich voll integriert sind und über einen überdurchschnittlichen Bildungsstand verfügen. Ein Viertel der Täter ist vorbestraft und das durchschnittliche Alter bei Begehung der ersten registrierten Straftat liegt bei über 40 Jahren. Wirtschaftskriminelle sind demnach „latecomer to crime“. Neuere qualitative Studien durchbrechen das homogene Bild und zeigen den Wirtschaftsstraftäter mit unterschiedlichen sozialen Bezügen, Lebenswegen und Präferenzen und typisieren ihn in Hinblick auf die Stellung zur Tat in „Täter mit wirtschaftskriminologischen Belastungssyndrom“, „Krisentäter“, „Abhängigen“ und „Unauffälligen“ (vgl. Schneider, H. 2009), oder auch "Visionäre" und "Naive" (vgl. PwC 2009).

Bekämpfung und Prävention

Die staatliche Verfolgung obliegt arbeitsorganisatorisch den speziellen Wirtschaftsstrafkammern der Gerichte. Für die Ermittlungen umfangreicherer Wirtschaftsdelikte sind die Schwerpunktdezernate und –abteilungen der Staatsanwaltschaften zuständig. Die Polizeibehörden der Länder und das Bundeskriminalamt halten ebenfalls Fach- und Sondereinheiten vor. Die mit den Ermittlungen betrauten Mitarbeiter der Staatsanwaltschaften und Polizei verfügen in der Regel über Spezialkenntnisse des Wirtschaftsrechts und werden von Wirtschaftsinspizienten und kaufmännisch geschulten Mitarbeitern unterstützt. Konzepte der bundesweiten Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität sehen eine verstärkte behördenübergreifende Zusammenarbeit der Kontrollinstanzen wie z. B. Polizei, Staatsanwaltschaften, Arbeitsämter, Hauptzollämter, Finanzämter und weitere Aufsichtsämter unter Mitwirkung nichtstaatlicher Akteure wie beispielsweise der Task Force's der Krankenkassen und der Gesellschaft gegen Unlauteren Wettbewerb (GVU) vor. Jedoch sind die Wirkungsmöglichkeiten der staatlichen Instanzen und ihrer rechtlichen Initiativen zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und damit zu einem nachhaltigen Schutz eines wirtschaftlichen Systemvertrauens und einer freien Wettbewerbswirtschaft trotz ihres stetigen Ausbaus begrenzt. Immer mehr Unternehmen ergreifen flankierende Maßnahmen für eine effektivere Prävention wirtschaftskriminellen Handelns mit dem Ziel einer selbstbindenden Steuerung wirtschaftlicher Aktivitäten zum Schutz kollektiver Güter „von unten her“ (vgl. Löhr 2005). Dabei erzielen nachgenannte Maßnahmen neben präventiven auch repressive Effekte.

Ombudsmann Mit einem externen Ombudsmann lässt sich als diskrete und unabhängige Kontaktstelle für Hinweisgeber ein spürbarer Präventionseffekt erzielen. Fast alle Unternehmensskandale der letzten Jahre sind durch Insider aufgedeckt worden.

Whistleblowing Whistleblowing bezeichnet dem anglo-amerikanischen Begriff entsprechend die Weitergabe eines im Unternehmen begangenen Verstoßes an Stellen in- oder außerhalb des Unternehmens.

Compliance-Management Damit werden jene Aktivitäten von Unternehmen beschrieben, die der Anpassung an und der Befolgung von aktuellen gesetzlichen Auflagen und Regeländerungen gewidmet sind. Besonders auf den Gebieten des Bilanz- und Kapitalmarktrechts (auf denen hier das Schwergewicht liegen soll) hat es in den letzten Jahren zahlreiche Neuregelungen gegeben, deren Umsetzung für die Unternehmen einerseits mit Kosten verbunden, andererseits zwingend erforderlich ist, um strafrechtliche Probleme und Imageschäden zu vermeiden.

Anti-Fraud-Management-Konzepte haben das Ziel der Identifikation und Analyse von Risiken sowie die Ableitung von (Optimierungs-) Maßnahmen für die Organisation und das operative Tagesgeschäft, z. B. durch Ethische Kodizes, Policies & Procedures und Sensibilisierungsmaßnahmen.

Links

Quellen

  • Berg, A.: „Wirtschaftskriminalität in Deutschland. Ursachen und Bekämpfung von Korruption und Untreue.“ Der Andere Verlag, Osnabrück, 2001, S. 22
  • Bongard, Kai: „Wirtschaftsfaktor Geldwäsche: Analyse und Bekämpfung“, 1. Aufl., Deutscher Universiätsverlag, Wiesbaden, 2001, S. 18-19
  • Bundeskriminalamt "Wirtschaftskriminalität - Bundeslagebild 2008"
  • Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik 2008
  • Löhr, Albert (2005): Ethik der multinationalen Unternehmung. Vortrag vom 20. Mai 2005 an der Universität Zürich.
  • Opp, Karl-Dieter (1982): Soziologie der Wirtschaftskriminalität. München, C.H. Beck Verlag
  • Pies, Ingo; Sass, Peter (2006): Korruptionsprävention als Ordnungsproblem – Wirtschaftsethische Perspektiven für Corporate Citizenship als Integritätsmanagement. Diskussionspapier Nr. 06-7 des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
  • Punch, M.: "Dilemmas in Researching Corporate Deviance" in: Fijnaut, C. et al. (Hrsg.): Changes in Society, Crime and Criminal Justice in Europe: A Challenge for Criminological Education and Research. Vol. II, International organised and corporate crime. Antwerpen 1995, S. 123-135
  • PricewaterhouseCoopers AG "Repräsentative Umfrage zur Sicherheitslage in deutschen Großunternehmen" 2009
  • PricewaterhouseCoopers AG "Studie zur Wirtschaftskriminalität" 2007
  • PricewaterhouseCoopers AG "Wirtschaftskriminalität - Eine Analyse der Motivstrukturen" 2009
  • Schneider,Hendrick, "Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen" Universität Leipzig 2009
  • Zirpins, W.; Terstegen, O.: „Wirtschaftskriminalität. Erscheinungsformen und ihre Bekämpfung“, Verlag Max Schmidt-Römhild, Lübeck, 1963, S. 18 f., 20, 45