Viktimisierung

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Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozialwissenschaften verwendet. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").

Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen aber auch die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).

Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der Viktimologie, der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".


Der Opferbegriff

Unter einem Opfer wird überwiegend eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Juristische Personen, die Allgemeinheit oder sogar der Staat können jedoch ebenfalls zum Opfer werden ("Individualopfer" im Gegensatz zum "Kollektivopfer").

Fraglich ist, ob nur diejenigen zu den Opfern gerechnet werden sollen, die als direkte Folge einer Tat einen Schaden erlitten haben, da Tatfolgen auch bei Angehörigen von Opfern auftreten können. Selbst bei Personen, die das Tatgeschehen nur beobachteten, können psychische Beeinträchtigungen ähnlich wie beim Geschädigten auftreten. Auch der Täter selbst kann Opfer werden, etwa durch Notwehr/Nothilfe oder wenn er in Folge seiner Tat (z. B. polizeiliches Handeln) eigene Schäden erleidet.

Dem objektivem Opferbegriff, der auf der Feststellung eines "Betroffensein" durch externe Beobachter beruht, steht der subjektive, sich auf das "Betroffensein" aus Sicht des Opfers beziehende Opferbegriff gegenüber. Für Opferbefragungen wird im allgemeinen der subjektive Opferbegriff bevorzugt.

Für Befragungen wird das "Opfer-ErIebnis" als ein zeitlich begrenztes, unkontrollierbares und aversives, auf andere Personen zurückführbares und (aus Opfersicht) normverletzendes Ereignis definiert . Der Betrug, bei dem das Opfer gerade nicht weiß, dass es getäuscht wird, wird von dieser Definition allerdings ebenso wenig erfasst wie nicht wahrgenommene Viktimisierungen (z. B. bei Kleinkindern, die einen Missbrauch altersbedingt noch nicht als verboten einordnen können) - bloße Empfindlichkeiten oder falsche Normvorstellungen (z. B. bei Sexualdelikten) dagegen werden erfasst.


Das Opfer im Hell- und Dunkelfeld

Das Hellfeld erfasst die den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen. Das Opfer hat zumindest bei der nicht im öffentlichen Raum stattfindenden Kriminalität großen Einfluss darauf, ob die Tat der Polizei/Justiz bekannt wird.

Bei Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung gehen etwa 80% aller Strafverfahren auf eine Anzeige des Opfers, aber nur 9-18% auf Anzeigen Dritter und sogar nur 3-6% auf polizeieigene Erkenntnisse zurück. Erstattet das Opfer keine Anzeige, besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei keine Kenntnis von der Tat bekommt und erst gar keine Strafverfolgung stattfindet - das Opfer wird deshalb auch als "Torwächter des Strafverfahrens" (englisch: "gatekeeper") bezeichnet.

Die Hellfelddaten geben somit nur einen - durch die individuellen Interessen und Bedürfnisse des Opfers verzerrten - Ausschnitt aller erlebten Viktimisierungen wieder.

Als Quelle für die im Hellfeld erfassten Viktimisierungen steht allein die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zur Verfügung.

Um die Belastung der einzelnen Alters- und Opfergruppen zu ermitteln, werden Opfergefährdungszahlen (OGZ) berechnet, die die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer pro 100.000 Personen der Wohnbevölkerung (incl. Ausländern) angeben. Dabei zeigt sich, dass von Körperverletzungsdelikten - und leicht verringert auch von Raub/räuberischer Erpressung - vor allem männliche Jugendliche und Heranwachsende betroffen sind. Sexualdelikte werden vor allem gegenüber Mädchen und jungen Frauen verübt, mit einem hohen Anteil sexuellen Missbrauchs sechs- bis vierzehnjähriger Mädchen.

Die Opferbelastung ist sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld bei Jugendlichen und Heranwachsenden am höchsten. Erwachsene sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, deutlich seltener betroffen.

Aus der Dunkelfeldforschung ist ein hohes Viktimisierungsrisiko im sozialen Nahbereich bekannt. Dies jedoch spiegelt sich im Hellfeld nicht wieder - unter den angezeigten Delikten gibt es nur bei der "Misshandlung von Schutzbefohlenen" einen hohen Anteil (ca. 75%) von Taten, bei denen Täter und Opfer verwandt sind. Bei allen anderen Delikten - außer bei Tötungsdelikten (32%) - spielen Verwandte keine besondere Rolle. Dies gilt auch für den Tatbestand des "sexuellen Missbrauchs von Kindern" - die PKS-Verteilung bestätigt damit den Befund der Dunkelfeldforschung, dass Opfer eine Anzeige gegen Täter aus der eigenen Familie scheuen.

Zahlen zur Opferhäufigkeit

Das Viktimisierungsrisiko - also der Höhe des Risikos, Opfer einer Straftat zu werden - wird in Opferbefragungen erhoben. Es lassen sich grundsätzlich zwei Typen von Opferbefragungen unterscheiden: Kriminalitätsmessungen (englisch: crime surveys), bei denen allerdings mehr die Straftat als das Opfer im Mittelpunkt steht, sowie die viktimologischen Fragestellungen (englisch: victim surveys), bei denen die Gewinnung ausführlicher opferbezogener Daten und die möglichst präzise Messung von Viktimisierungen und deren Umstände im Vordergrund steht.

Opferprävalenz

Die wichtigste Kennzahl im Hinblick auf die Opferhäufigkeit ist die Prävalenz (Definition: Anzahl der Menschen aus einer Gruppe definierter Größe, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer kriminellen Handlung werden). Die meisten Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens Opfer irgendeiner Straftat - ähnlich wie Tätererfahrungen stellen Opfererfahrungen eine nahezu ubiquitäre (= überall verbreitete) Erscheinung dar.

Am häufigsten wird dabei von eher leichten Delikten berichtet, größtenteils gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte. Eine bundesweite Befragung (1995/96) von mindestens 16 Jahre alten Personen ergab, dass knapp ein Viertel der Befragten (22,7%) innerhalb des zurückliegenden Jahres Opfer eines dieser Delikte geworden war. Am häufigsten genannt wurden: Beschädigungen an Kraftfahrzeugen (7,3%), Betrug (5,9%) und Fahrraddiebstahl (5,0%). Noch seltener waren Gewalt- und Sexualdelikte: Körperverletzung/Bedrohung (2,8%), Raub (1,4%) und Vergewaltigung/sexueller Angriff (0,6% - es wurden nur natürliche Personen befragt; die sehr häufigen Delikte zum Nachteil juristischer Personen, z. B. Ladendiebstahl, wurden nicht erfasst).

Eine andere, im Jahre 2000 unter Schülern des 9. Jahrgangs durchgeführte Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) zeigte eine deutlich höhere Opferprävalenz in der Altersgruppe unter 16 Jahren. Hier gaben ca. 25% der Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein - am häufigsten wurden hier genannt: Körperverletzung ohne Waffe (15,2%) und Raub (9,2%).

Jugendliche sind demnach insgesamt gefährdeter als Erwachsene. Zu beachten ist allerdings, dass Opfer- und Täterrollen bei Jugendlichen oftmals ineinander übergehen.

Viktimisierung im sozialen Nahbereich

Bei der Erhebung aussagekräftiger Zahlen muss man insbesondere bei Sexualdelikten und Gewalt in der Familie damit rechnen, dass die Befragten nur wenig offen antworten. Bleiben die Taten deshalb sowohl den Strafverfolgern als auch den Interviewern verborgen, spricht man vom "doppelten Dunkelfeld". Um Ergebnisse zur Opferhäufigkeit auch in "Tabu-Bereichen" zu erhalten wird die sog. "drop off"-Technik - bei der die Befragten die Fragebögen anonymisiert zurückgeben - angewendet. Insbesondere Frauen berichten bei dieser Vorgehensweise sehr viel häufiger über Gewalterfahrungen als beim traditionellen persönlichen Interview ("face to face").

Die nachfolgenden Ergebnisse zeigen, dass insbesondere der soziale Nahbereich für Frauen und Kinder ein erhebliches Risiko bietet - innerfamiliäre physische und sexuelle Gewalt tritt offenbar häufiger auf als in der Öffentlichkeit angenommen.

  • Frauen als Opfer

In einer Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) von 2004 gaben in Bezug auf körperliche Gewalt 37% und in Bezug auf sexuelle Gewalt 13% aller befragten Frauen (Alter: 16 bis 85 Jahre) an, seit dem 16. Lebensjahr wenigstens einmal Opfer einer solchen Tat geworden zu sein.

Körperliche und/oder sexuelle Gewalt hatten schon 40% der Frauen wenigstens einmal im Leben erlitten. Rund 25% gaben an, die Gewalthandlungen seien wenigstens in einem Fall von aktuellen oder früheren Beziehungspartnern ausgegangen.

Bezogen auf den 5-Jahreszeitraum vor der Befragung gaben in der KFN-Studie 17,3% der Frauen an, Opfer von Körperverletzungen geworden zu sein. 3,5% gaben an, in diesem Zeitraum Opfer von Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen geworden zu sein - über das gesamte Leben betrachtet berichteten hiervon 8,6%. Der weit überwiegende Anzahl der Taten fand dabei im sozialen Nahbereich, also innerhalb der Familie oder des Haushalts, statt.

  • Kinder als Opfer

Die "drop off"-Technik wird auch angewendet, um Erkenntnisse über Gewalt gegen Kinder zu erhalten. Über körperliche Züchtigungen durch die Eltern berichteten 75%, etwa 10% über nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckte körperliche Misshandlungen. Über sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend wurde oft berichtet, wobei der Anteil betroffener Frauen etwa zwei- bis dreimal höher lag als der der Männer.

Opfertypologien

Die Prävalenz gibt lediglich an, wie hoch das statistische Risiko ist, Opfer einer Straftat zu werden.

Opfertypologien geben an, aufgrund welch individueller Disposition jemand zum Opfer wird. Die wichtigsten Befunde deutscher Untersuchungen zeigen folgendes Bild:

  • Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, variiert mit dem Alter: Jugendliche und Heranwachsende tragen ein deutlich größeres Risiko als ältere Menschen - besonders bei den Kontaktdelikten (Körperverletzung, Raub, sexuelle Belästigung).
  • Das Geschlecht ist im Zusammenhang mit dem Opferrisiko von untergeordneter Bedeutung: Männer sind stärker von körperlicher Gewalt, Frauen stärker von Sexualdelikten betroffen. Bei den übrigen Delikten ist das Opferrisiko für beide Geschlechter in etwa gleich groß.
  • Bei "Kontaktdelikten" ist der Familienstand von Bedeutung: Alleinstehende sind bei Kontaktdelikten (hier findet ein Kontakt zwischen Täter und Opfer statt, bspw. Körperverletzung) deutlich über-, Paare/Verheiratete unterrepräsentiert. Bei den übrigen Delikten spielt der Familienstand offenbar keine entscheidende Rolle.
  • Bei Nicht-Gewalttaten (insbesondere Diebstahl) stehen Haushaltsgröße und -einkommen in Zusammenhang mit dem Opferrisiko: Haushalte mit drei oder mehr Personen und höherem Einkommen werden häufiger Opfer als kleine Haushalte/Haushalte mit geringem Einkommen.
  • Menschen werden überwiegend an ihrem Wohnort (zu Hause/in der näheren Umgebung) Opfer: Mit zunehmender Entfernung vom Wohnort - Auslandsaufenthalte ausgenommen - nimmt das Viktimisierungsrisiko ab. Menschen in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern tragen ein höheres Risiko als auf dem Land; in den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko höher als in den südlichen.

Viktimisierungstheorien

Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen. Dafür kommen vor allem drei Ausgangspunkte in Betracht: das Opfer selbst, die Beziehungen des Opfers zum Täter und die Tatsituation. Weitere Ausgangspunkte können sozialstrukturelle Bedingungen (Machtlosigkeit der Opfer) oder kulturelle Einflüsse (Zugehörigkeit der Opfer zu einer Minderheit) sein.

Theorie der erlernten Hilflosigkeit

Die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" stellt auf einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und langfristigen Lernprozessen des Opfers ab (Seligman, 1975): Die Erfahrung, die Folgen einer Situation nicht vorhersehen und damit beeinflussen zu können, kann passives Verhalten ("erlernte Hilflosigkeit") zur Folge haben. Wer sich wiederholt oder über einen längeren Zeitraum in einer traumatisierenden, ausweglosen Situation befindet, ist nach der Beendigung dieser Situation oft nicht mehr in der Lage, zu seinem normalen Verhalten zurückzukehren. Sofern die Gefahr einer Viktimisierung durch eine Straftat droht, kann das Opfer dieser nicht ausweichen, weil es nicht gelernt hat, dass es Gefahren erfolgreich abwenden kann. Diese Theorie kann vornehmlich erklären, warum jemand wiederholt zum Opfer wird oder an einer einmal bestehenden Opferrolle festhält - bietet jedoch keine Erklärung für nur einmaliges oder gelegentliches Opferwerden.

Interaktionistische Theorie

Diese Theorie, in der die Viktimisierung als das Ergebnis einer verfehlten Täter-Opfer-Interaktion gesehen wird, knüpft an die Beziehungen des Opfers zum Täter an. Dabei ist vor allem an solche Fälle zu denken, in denen die Tat eine "Vorgeschichte" hat und sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer heraus entwickelt oder in denen es infolge einer Situationsverkennung des Täters zur Tat kommt. Der interaktionistische Ansatz eignet sich nur zur Erklärung von Kontaktdelikten. Auf die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter beziehen sich auch Theorien, die das Tatgeschehen auf eine Mitursächlichkeit des Opfers ("Opferpräzipitation"). Das Opfer wird dabei nicht nur als passiv erduldendes Objekt gesehen, sondern als Subjekt, das einen aktiven Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Tat leistet. In einer Untersuchung über Tötungsdelikte wurde festgestellt, dass in 26% der Fälle der letztlich Getötete als erster Gewalt (Schläge oder Einsatz einer gefährlichen Waffe) angewandt hatte.

Diese älteren Erklärungsansätze sind aber problematisch, weil hier die Mitursächlichkeit des Opfers leicht als Mitschuld erscheinen kann; der falsche Gedanke des "blaming the victim" ("selbst Schuld") wird begünstigt.

Situationsorientierte Ansätze

Diese Ansätze stellen auf die soziale Situation ab, in denen Menschen zu Opfern werden. Das Viktimisierungsrisiko ist hier die Folge der Wahrscheinlichkeit, sich zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Umständen an bestimmten Orten aufzuhalten und auf tatgeneigte/nicht tatgeneigte Menschen zu treffen. Hervorzuheben sind zwei eng benachbarte Konzepte:

  • Das Lebensstil-Konzept (englisch: "lifestyle concept"): Es erklärt das unterschiedliche Viktimisierungsrisiko als Folge des unterschiedlichen Lebensstils von Opfern im Vergleich zu Nicht-Opfern, wobei der Lebensstil durch das berufliche und private Verhalten - beispielsweise ob man zu bestimmten Zeiten einen als riskant bekannten Ort aufsucht oder nicht - geprägt wird. Der Lebensstil bestimmt das Ausmaß, mit dem man sich bestimmten Risiken aussetzt, und die Wahrscheinlichkeit, mit der man auf tatgeneigte Menschen trifft.
  • Das Routineaktivitäten-Konzept (englisch: "routine activity approach"): Es erklärt das Viktimisierungsrisiko als Konsequenz eines in gewissem Maße ritualisierten Alltagsverhaltens ("Routineaktivitäten"), das die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten beeinflusst. Von einer das Viktimisierungsrisiko erhöhenden Gelegenheit wird dann ausgegangen, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Es muss eine Person geben, die zur Begehung einer Straftat bereit ist (englisch: "motivated offender"), das potentielle Opfer oder bestimmte Gegenstände müssen für den potentiellen Täter einen materiellen oder symbolischen Wert haben ("availability of suitable targets") und ein Schützender fehlen ("absence of a capable guardian").

Gegen die Erklärungsansätze der beiden Theorien spricht, dass es häufig auch und gerade dann zu Straftaten kommt, wenn sich ein potentielles Opfer außerhalb üblichen Verhaltensroutinen aufhält und damit leichter in Situationen gerät, in denen es sich unsicherer fühlt und keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Verfügung stehen. Auch eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich kann mit "Routineaktivitäten" kaum in Verbindung gebracht werden. Sinnvoll ist dagegen der Hinweis auf die situativen Bedingungen, also auf die Attraktivität des potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamen Schutzes - hierin liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsstrategien.

Tatbegünstigende Personeneigenschaften

Körperliche oder psychische Eigenschaften können - aufgrund geringerer Abwehrfähigkeiten - eine Opferdisposition im Sinne einer erhöhten Attraktivität für potentielle Täter begründen. Dieser Umstand ist vor allem bei folgenden Deliktsformen wichtig: Die Eigenschaft "erkennbarer Ausländer" für rassistisch motivierte Gewalttaten, die Eigenschaft "alter Mensch" für Raub- und Betrugstaten und für Trickdiebstähle, die Eigenschaft "Kind/Jugendlicher" oder "Frau" für Gewalt- und Sexualdelikte.


Das Opfer nach der Tat

Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie dessen Interessen und Bedürfnisse nach der Tat. Wichtig ist die Reaktion des nahen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, Arbeitskollegen) auf das Tatgeschehen: Ob und inwieweit es dem Opfer bei der Bewältigung der Tatfolgen Hilfe bietet - oder durch Desinteresse oder übertriebene Dramatisierung die Verarbeitung sogar erschwert. Es besteht die Gefahr, dass das bereits durch die Tat selbst (erste, "primäre Viktimisierung") geschädigte Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet (zweite, "sekundäre Viktimisierung").

Dabei ist nicht nicht nur das nahe soziale Umfeld, sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Position des Opfers im Strafverfahren von Bedeutung - vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz mit dem Opfer umgehen, kann hinsichtlich einer späteren psychischen Belastung entscheidend sein - durch Fehler kann es hier zu einer dritten, der "tertiären Viktimisierung" kommen.

Die Stellung des Opfers im Strafverfahren wurde mit dem 1. und 2. Opferschutzgesetz (1986/2008), dem Zeugenschutzgesetz (1998) und dem Opferrechtsreformgesetz (2004) erheblich verbessert. Auch das Opferentschädigungsgesetz (1976/1985), die Förderung der Wiedergutmachung im Strafverfahren durch Änderung des JGG (1990), das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich (1999) sowie das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (2001) haben deutlich zur Verbesserung der Position des Opfers - insbesondere in Form von Beistandsmöglichkeiten durch Vertrauenspersonen und Zeugenanwalt sowie die Möglichkeit der Nebenklagevertretung - beigetragen.

Tatfolgen für das Opfer

Jedes Opfer wird durch die Tat unterschiedlich belastet und geht mit deren Folgen unterschiedlich um. Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Tat scheint dem Umstand zuzukommen, ob zwischen Täter und Opfer vor der Tat eine Bekanntschaft mit einer Vertrauensbeziehung bestand - hier wird das Opfer durch die Tat oft in seinem Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen erschüttert. Darüber hinaus spielen Persönlichkeitseigenschaften wie das Selbstwertgefühl, aber auch Unterstützung im sozialen Umfeld oder durch die institutionalisierten Formen der Opferhilfe (Opferschutzorganisation "Weißer Ring"; Frauenhaus/-notruf) eine erhebliche Rolle.

Eigentums- und Vermögensdelikte haben typischerweise andere Folgen als Gewalt- und Sexualdelikte. Dabei ist schon der juristisch unzweifelhaft den Eigentumsdelikten zuzuordnende Einbruchsdiebstahls aus viktimologischem Blickwinkel kein eindeutiges Eigentumsdelikt mehr - sondern er liegt, wegen des Eindringens des Täters in die Privat- und Intimsphäre, an der Grenze zu den Gewaltdelikten. So gaben nach einem Einbruch ca. 30% der Befragten an, die Tat habe nicht zu materiellen, sondern vor allem zu seelischen Schäden geführt.

Andererseits sind nicht alle Gewaltdelikte gleich: Bei den sog. Kontaktdelikten etwa kann das Spektrum von einer harmlosen Auseinandersetzung bis hin zur lebensgefährlichen Körperverletzung reichen. Knapp 30% der von Kontaktdelikten Betroffenen sagten, die Tat habe zu keinem Schaden geführt - dies deutet darauf hin, dass die Konfrontation mit dem Täter nicht unbedingt als schädigend empfunden wird.

Wenn man nicht auf die Art des Schadens, sondern auf das Schwereempfinden abstellt, ergibt sich folgendes Bild: Etwas 75% der Opfer von Kontakt- und Einbruchsdelikten erwähnten hier eine subjektive Beeinträchtigung - während sich nur knapp 50% der Opfer von Nicht-Kontakttaten durch die Tat beeinträchtigt fühlten.

Die weitere Aufschlüsselung zeigte, dass das Schwereempfinden nicht so sehr von der Art des Delikts oder einem Kontakt mit dem Täter abhängt - sondern davon, ob das Opfer den Täter vor der Tat bereits kannte. War dies der Fall, so schilderten 83,7% die Tat als "belastend", darunter überwiegend sogar "sehr belastend". Bestand keine Vorbeziehung, war der Anteil derjenigen, die die Tat "belastend" empfanden, mit 54,9% am geringsten. (Daten aus einer Studie von Kilchling, 1995)

Bei den psychischen Schäden muss zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden werden: Zu den kurzfristigen, bis zu einigen Wochen anhaltenden Schäden können psychosomatische Beschwerden, Selbstvorwürfe und Angst gehören. Zu den langfristigen Störungen zählen solche, die durch das wiederholte Durchleben des Tatgeschehens, Schlafstörungen, Alpträume und Veränderungen im Sozialverhalten gekennzeichnet sind. Es kann vorkommen, dass das Opfer die Folgen der Viktimisierung nicht mehr allein und dauerhaft bewältigen kann - man spricht dann von einer "posttraumatischer Belastungsstörung" (englisch: "post-traumatic stress disorder").

Eine Opfererfahrung kann aber in seltenen Fällen sogar positive Wirkungen haben: Der mit der Viktimisierung verbundene Einschnitt in das bisherige Leben kann für das Opfer auch mit einem "Neubeginn" unter veränderten Vorzeichen verbunden sein, der langfristig als positiv erlebt wird (Trennung von Beziehungen, neue Kontakte).

Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat

Ebenso wie die Tatfolgen sind auch die Interessen/Bedürfnisse des Opfers nach der Tat individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Opfer wollen nach der Tat vor allem über das Geschehen reden und benötigen einen verständnisvollen Zuhörer. Weitere typische Bedürfnisse, abhängig von der Art/Schwere des Delikts, sind:

  • Sicherheit - keine neue Tat.
  • Keine Vorwürfe wegen der Tat; die eigene Darstellung soll nicht in Zweifel gezogen werden.
  • Materieller Ersatz für erlittene Schäden.
  • Bestrafung des Täters (vor allem bei gravierenden körperlichen/seelischen Schäden).
  • Vergessen der Tat, Rückkehr zur Normalität.
  • Informationen zum Fortgang des Verfahrens durch Polizei und Justiz.
  • Beratung/Unterstützung von Seiten Dritter.

Je weniger sich das Opfer durch die Tat beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Interesse am Ersatz des materiellen Schadens. Je stärker es sich beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Wunsch nach Bestrafung des Täters.

Nach einem Fahr- und Motorraddiebstahl gaben gut 60% als wichtigsten Wunsch den Ersatz des materiellen Schadens an. Anders stellt sich die Bedürfnislage bei den Kontaktdelikten dar: Fast gleichrangig standen im Vordergrund die Wünsche, die Tat zu vergessen (31,8% bei allen Kontaktdelikten; bei Sexualtaten sogar 66,7%) und den Täter zu bestrafen (28,4% bei allen Kontaktdelikten; bei tätlichem Angriff 43,8%). (Kilchling)

Zusammenarbeit des Opfers mit den Strafverfolgungsbehörden

Wichtig ist, ob - und wenn ja, warum - sich ein Opfer nach der Tat an die Strafverfolgungsorgane wendet. Es ist festzustellen, dass sich das Anzeigeverhalten im hohen Maße an Kosten-Nutzen-Überlegungen orientiert. Die meisten Opfer nehmen von einer Strafanzeige Abstand, wenn sie denken, dass die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen (wiederholte Zeugenaussagen bei Polizei und Gericht) in keinem lohnenden Verhältnis zum möglichen Ergebnis (Sicherheit, Schadensersatz, Bestrafung) stehen. Auch Opfer, die unmittelbar nach der Tat ein erhebliches Verlangen nach einer Bestrafung des Täters haben, sehen deshalb häufig von einer Anzeige ab.

Bei den Nicht-Kontaktdelikten, bei denen das Interesse nach wirtschaftlicher Wiedergutmachung im Vordergrund stand, wurde von knapp zwei Dritteln der Befragten (62,6%) Anzeige erstattet (bei Einbruch sogar 76,9%). Hier spielt sicher eine große Rolle, dass die Versicherungen meistens nur dann Ersatz leisten, wenn zuvor auch eine Anzeige erstattet wurde.

Bei den Kontaktdelikten wurde nur in knapp einem Drittel der Fälle (31,8%) Anzeige erstattet, wobei die Quote bei Sexualdelikten auffällig niedrig lag (13,3%). Gründe für die Nichtanzeige waren der Bagatellcharakter der Tat und Resignation ("Polizei kann ja doch nichts machen"). Für die meisten Opfer von Kontaktdelikten (54,5%) war die Vorstellung, im Rahmen einer Gerichtsverhandlung einen öffentlichen Zeugenauftritt haben zu können, unangenehm. (Kilchling)

Weiter ist die Anzeigenbereitschaft vom Alter des Opfers abhängig: Bei älteren Opfern ist sie insgesamt höher als bei jüngeren, nimmt jedoch ab dem 60. Lebensjahr wieder ab (glockenförmiger Verlauf) - die Anzeigenquote beträgt 40% bei den unter 21-Jährigen, 73,5% bei den 50- bis 59-Jährigen, 61,8% bei den Senioren ab 60 Jahren.

Viktimisierung als Grundlage späterer Delinquenz

Kinder, an denen Missbrauchs- oder Gewalthandlungen verübt oder die vernachlässigt wurden, treten im späteren Leben häufiger als Straftäter in Erscheinung als Kinder ohne derartige Viktimisierungserfahrungen. Dieser Zusammenhang scheint unabhängig vom Geschlecht zu sein: Sowohl viktimisierte Jungen als auch Mädchen werden später in erhöhtem Maß auffällig, wobei die Prävalenzrate der Frauen - wie bei kriminellem Verhalten allgemein - deutlich geringer ist als die der Männer.

Viktimisierungserfahrungen begründen also lediglich einen Risikofaktor für Kriminalität, und nicht jede Gewaltanwendung/Misshandlung im Kindesalter führt später zu kriminellem Verhalten. Vermutlich wird die Art der Reaktion nicht nur durch die Qualität (Art, Schwere, Häufigkeit, Dauer), sondern auch durch die Disposition sowie durch die Verfügbarkeit hilfreicher sozialer Beziehungen bestimmt. Delinquenz als Reaktion auf erlittene Traumata ist somit zwar möglich, aber keinesfalls sicher.


Web-Links

World Society of Victimology: [1]

National Criminal Justice Reference Service (NCJRS) - Victims of Crime: [2]

International Victimology Institute Tilburg: [3]

National Crime Victims Research and Treatment Center: [4]

International Victimology Website: [5]

International Crime Victims Surveys: [6]

Prometheus - Literaturdatenbank zu Trauma und Gewalt: [7]

Psychotraumatologie der Psychosomatischen Universitätsklinik Heidelberg: [8]

Statistisches Bundesamt Deutschland: [9]

Bundesministerium für Justiz: [10]

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: [11]

Polizeiliche Kriminalstatistik: [12]

Kriminologisches Forschungsinstitut Nidersachsen e. V.: [13]

Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht: [14] und [15] (Dr. Michael Kilching)

Opferschutzverbände: [16] und [17]

Online-Lexika: [18] und [19]

Vertiefende Literatur

M. Kilching: "Empirische Erkenntnisse aus Kriminologie und Viktimologie zur Lage von Opfern" - in: DVJJ-Journal 2002 (14-23)

H.-J. Schneider: "Verbrechensopferforschung, -politik und -hilfe: Fortschritte und Defizite in einem halben Jahrhundert" - in: MschKrim (Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform) 89, 2006 (389-404)

"Internationales Handbuch der Kriminologie" - Bd. I/II (Grundlagen/besondere Probleme der Kriminologie); 2007 und 2009

Raithel/Mansel: "Kriminalität und Gewalt im Jugendalter - Hell- und Dunkelfeldbefunde im Vergleich"; 2003

Lamnek: "Theorien abweichenden Verhaltens" - Bd. I/II (Klassische/moderne Ansätze); 2007/2008

Hassemer: "Verbrechensopfer - Gesetz und Gerechtigkeit"; 2002