Viktimisierung: Unterschied zwischen den Versionen

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Der Begriff '''Viktimisierung''' wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozial-wissenschaften verwandt. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").
 
Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozial-wissenschaften verwandt. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").


Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer  und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).
Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer  und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).
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Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der Viktimologie, der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".  
Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der Viktimologie, der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".  


I. [[Der Opferbegriff:]]    
==Der Opferbegriff==    
Nach dem heute üblichen Verständnis wird unter einem Opfer eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat.   
Nach dem heute üblichen Verständnis wird unter einem Opfer eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat.   
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Abhängig von der Fragestellung kann es also auch zweckmäßig sein, mit dem objektiven Opferbegriff zu arbeiten.
Abhängig von der Fragestellung kann es also auch zweckmäßig sein, mit dem objektiven Opferbegriff zu arbeiten.


II. [[Zahlen zur Opferhäufigkeit:]]
==Zahlen zur Opferhäufigkeit==


Die Beschäftigung mit dem Opfer beginnt bei der Frage nach dem Viktimisierungsrisiko - also nach der Höhe des Risikos, selbst Opfer einer Straftat zu werden.  
Die Beschäftigung mit dem Opfer beginnt bei der Frage nach dem Viktimisierungsrisiko - also nach der Höhe des Risikos, selbst Opfer einer Straftat zu werden.  
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In den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko wiederum höher als in den südlichen.
In den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko wiederum höher als in den südlichen.


III.[[ Viktimisierungstheorien:]]
==Viktimisierungstheorien==
Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen.
Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen.
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Auf der Täterseite müssen noch die fünf "Neutralisierungstechniken" (nach Sykes/Matza: Leugnung der eigenen Verantwortlichkeit für die Tat / Leugnung eines Schadens / Leugnung, jemanden zum Opfer gemacht zu haben / Herabwürdigung der Strafverfolger / Berufung auf höhere Wertmaßstäbe) genannt werden, bei deren Anwendung durch den potentiellen Täter sich die Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung ebenfalls erhöht.
Auf der Täterseite müssen noch die fünf "Neutralisierungstechniken" (nach Sykes/Matza: Leugnung der eigenen Verantwortlichkeit für die Tat / Leugnung eines Schadens / Leugnung, jemanden zum Opfer gemacht zu haben / Herabwürdigung der Strafverfolger / Berufung auf höhere Wertmaßstäbe) genannt werden, bei deren Anwendung durch den potentiellen Täter sich die Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung ebenfalls erhöht.


IV. [[Das Opfer nach der Tat:]]
==Das Opfer nach der Tat==


Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie seine Interessen und Bedürfnisse nach der Tat.  
Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie seine Interessen und Bedürfnisse nach der Tat.  
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Misshandlungen können auch durch das Verhalten des Kindes zumindest begünstigt werden. Sie müssen deshalb immer - wie andere Faktoren auch - in einem von Wechselwirkungen geprägten innerfamiliären Beziehungssystem gesehen werden.
Misshandlungen können auch durch das Verhalten des Kindes zumindest begünstigt werden. Sie müssen deshalb immer - wie andere Faktoren auch - in einem von Wechselwirkungen geprägten innerfamiliären Beziehungssystem gesehen werden.


V. [[Opfer im Hell- und Dunkelfeld:]]
==Opfer im Hell- und Dunkelfeld==


Das "Hellfeld" stellt Art und Ausmaß der den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen dar.  
Das "Hellfeld" stellt Art und Ausmaß der den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen dar.  

Version vom 1. März 2010, 00:49 Uhr

Der Begriff Viktimisierung wird vor allem in der Kriminologie und der Psychologie, aber auch in den Sozial-wissenschaften verwandt. Wörtlich übersetzt bedeutet Viktimisierung "zum Opfer machen" oder "zum Opfer werden" (lateinisch: "victima" = ursprüngliche Bedeutung: Opfertier, aber auch Opfer; englisch: "victim").

Er beschreibt zum einen die unmittelbaren Ursachen, Wirkungen und Folgen einer Straftat für das Opfer (primäre Viktimisierung), zum anderen die mittelbaren Folgen im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen dem Opfer und seinem sozialen Umfeld (sekundäre Viktimisierung) oder den Instanzen der sozialen Kontrolle (tertiäre Viktimisierung).

Die Viktimisierung ist der zentrale Begriff in der Viktimologie, der "Lehre vom (Verbrechens-) Opfer".

Der Opferbegriff

Nach dem heute üblichen Verständnis wird unter einem Opfer eine natürliche Person verstanden, die als Folge eines Verstoßes gegen Strafrechtsnormen einen körperlichen, seelischen oder wirtschaftlichen Schaden erlitten hat. Juristische Personen und auch die Allgemeinheit können jedoch ebenfalls zum "Opfer" werden ("Kollektivopfer" im Gegensatz zum "Individualopfer"). Für das Verständnis des Kriminalitätsgeschehens und der Tatfolgen sollte man entsprechend nicht auf der Ebene des Individuums stehen bleiben, sondern wissen, dass sich Straftaten auch auf anderen Ebenen auswirken. Kaiser (1996) spricht in diesem Zusammenhang von der "sich verflüchtigenden Opfereigenschaft".

Fraglich ist darüber hinaus, ob nur diejenigen zu den Opfern gerechnet werden sollen, die als direkte Folge einer Tat einen Schaden erlitten haben - dadurch blendet man aus, dass Tatfolgen auch bei Angehörigen von Opfern auftreten können. Selbst bei Personen, die das Tatgeschehen nur beobachteten, können psychische Beeinträchtigungen ähnlich wie beim Geschädigten auftreten. Auch der Täter selbst kann Opfer werden, etwa in Situationen wie Notwehr/Nothilfe oder wenn er in Folge seiner Tat (z. b. polizeiliches Handeln) selbst Schäden erleidet.

Ob und in welchem Ausmaß es tatsächlich zu einer Schädigung gekommen ist, lässt sich verbindlich erst feststellen, nachdem ein Gericht ein Tatgeschehen festgestellt hat. Der Begriff "Opfer" wirft insofern ähnliche Probleme auf wie der des "Täters" - richtig müsste vor dem Urteil vom "mutmaßlichen Opfer" gesprochen werden.

Dem objektivem Opferbegriff, der auf der Feststellung eines "Betroffensein" durch externe Beobachter beruht, steht der subjektive, sich auf das "Opfer-Erlebnis" beziehende, Opferbegriff gegenüber. Für Opferbefragungen wird der subjektive Opferbegriff bevorzugt, da subjektiv nicht vorhandene Probleme oder Sachverhalte kaum zu erheben sind. Das "Opfer-ErIebnis" wird für Befragungen als ein zeitlich begrenztes Ereignis definiert, das als

- aversiv und unkontrollierbar, - auf andere Personen zurückführbar und - aus Opfersicht normverletzend,

erlebt wird. Der Betrug, bei dem das Opfer ja gerade nicht weiß, dass es getäuscht wird, zeigt allerdings die Grenzen dieser Definition. Ebenfalls von ihr nicht erfasst werden nicht wahrgenommene Viktimisierungen (z. B. Kleinkinder, die einen Missbrauch altersbedingt noch nicht als verboten einordnen können) - während andererseits bloße Empfindlichkeiten oder falsche Normvorstellungen (z. B. bei Sexualdelikten) erfasst werden.

Abhängig von der Fragestellung kann es also auch zweckmäßig sein, mit dem objektiven Opferbegriff zu arbeiten.

Zahlen zur Opferhäufigkeit

Die Beschäftigung mit dem Opfer beginnt bei der Frage nach dem Viktimisierungsrisiko - also nach der Höhe des Risikos, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Antwort auf diese Frage geben die durch Opferbefragungen (englisch: victim surveys) erhoben Zahlen. a) Opferprävalenz: Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Prävalenz (Definition: Anteil derjenigen Personen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums Opfer einer kriminellen Handlung wurden). Die meisten Menschen werden irgendwann im Laufe ihres Lebens Opfer irgendeiner Straftat - ähnlich wie Tätererfahrungen stellen Opfererfahrungen eine nahezu ubiquitäre (= allgegenwärtige) Erscheinung dar.

Am häufigsten wird dabei von eher leichten Delikten berichtet, wobei den größten Anteil gewaltlose Eigentums- und Vermögensdelikte ausmachen. Eine 1995/96 durchgeführte bundesweite Opferbefragung (Mindestalter 16 Jahre) ergab, dass knapp ein Viertel der Befragten (22,7%) innerhalb des zurückliegenden Jahres Opfer eines abgefragten Delikts geworden war. Am häufigsten genannt wurden Beschädigungen an Kraftfahrzeugen: 7,3%, gefolgt von Betrug : 5,9%, Fahrraddiebstahl : 5,0%, Diebstahl persönlichen Eigentums: 4,2%, Diebstahl an/aus Kfz: 3,9%, Sachbeschädigung: 3,1 %.

Wohnungseinbruch : 2,1% und Diebstahl von Kfz: 1,3% waren eher selten. Delikte wie z. B. Ladendiebstahl, die quantitativ eine große Rolle spielen, wurden nicht erfasst, da nur natürliche Personen - und nicht die hier überwiegend betroffenen juristischen Personen - befragt wurden. Die Prävalenzraten für die meisten Delikte scheinen nach späteren Studien seit Mitte der 1990er Jahre gesunken zu sein. Gewalt- und Sexualdelikte kommen offenbar deutlich seltener vor:

Körperverletzung/Bedrohung: 2,8%, Raub: 1,4%, und Vergewaltigung/sexueller Angriff: 0,6%.

Untersuchungen zu jüngeren Altersgruppen zeigen jedoch eine deutlich höhere Opferprävalenz. In einer im Jahre 2000 durchgeführten Befragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) unter Schülern des 9. Jahrgangs gaben ca. 25% der Befragten an, im vergangenen Jahr Opfer eines Gewaltdelikts geworden zu sein: Körperverletzung ohne Waffe: 15,2%, Raub: 9,2%, Körperverletzung mit Waffe: 5,6%, Erpressung: 5,1% und sexuelle Gewalt: 2,7%.

Jugendliche sind demnach insgesamt gefährdeter als Erwachsene. Zu beachten ist allerdings, dass Opfer- und Täterrollen bei Jugendlichen oftmals ineinander übergehen.

b) Viktimisierung im sozialen Nahbereich: Insbesondere bei Sexualdelikten und Gewalt in der Familie muss damit gerechnet werden, dass die Befragten nur wenig offen antworten. Wenn die Taten deshalb sowohl den Strafverfolgern als auch den Interviewern verborgen bleiben, spricht man vom "doppelten Dunkelfeld". Um diesem methodischen Hindernis Rechnung zu tragen, wird die sog. "drop off"-Technik - bei der die Befragten die Fragebögen in einem verschossenen Umschlag zurückgeben - angewandt, um Ergebnisse zur Opferhäufigkeit auch in "Tabu-Bereichen" zu erhalten. Insbesondere Frauen berichten bei dieser Vorgehensweise sehr viel häufiger über Gewalterfahrungen als beim traditionellen "face to face"-Interview. In einer Studie des BMFSFJ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend) von 2004 gaben in Bezug auf körperliche Gewalt: 37%, in Bezug auf sexuelle Gewalt: 13%

aller befragten Frauen (Alter: 16 bis 85 Jahre) an, seit dem 16. Lebensjahr wenigstens einmal Opfer einer solchen Tat geworden zu sein.

Körperliche und/oder sexuelle Gewalt hatten schon 40% der Frauen wenigstens einmal im Leben erlitten. Rund 25% gaben an, die Gewalthandlungen seien wenigstens in einem Fall von aktuellen oder früheren Beziehungspartnern ausgegangen.

Bezogen auf den 5-Jahreszeitraum vor der Befragung gaben in der KFN-Studie 17,3% der Frauen an, Opfer von Körperverletzungen geworden zu sein. 3,5% gaben an, in diesem Zeitraum Opfer von Vergewaltigungen/sexuellen Nötigungen geworden zu sein - über das gesamte Leben betrachtet berichteten hiervon 8,6%. Der weit überwiegende Anzahl der Taten fand dabei im sozialen Nahbereich, also innerhalb der Familie oder des Haushalts, statt.

Die "drop off"-Technik wurde auch angewandt, um Erkenntnisse über Gewalt gegen Kinder zu erhalten. Über körperliche Züchtigungen durch die Eltern berichteten 75%, etwa 10% über nicht vom elterlichen Erziehungsrecht gedeckte körperliche Misshandlungen.

Über sexuellen Missbrauch in der Kindheit/Jugend wurde überraschend oft berichtet, wobei der Anteil der betroffenen Frauen etwa zwei- bis dreimal höher lag als der der Männer.

Die Opferhhäufigkeit ist auch abhängig von der jeweils verwendeten Deliktsdefinition. Bei enger Definition (sexueller Missbrauch mit Körperkontakt vor dem 14. Lebensjahr) sind vom sexuellen Missbrauch 2,0% der Männer und 6,2% der Frauen betroffen. Bei weiterer Definition (incl. exhibitionistischer Handlungen) 3,4% der Männer und 10,7% der Frauen.

Die Ergebnisse zeigen, dass der soziale Nahbereich für Frauen und Kinder ein erhebliches Risiko bietet. Innerfamiliäre physische und sexuelle Gewalt hat offenbar ein größeres Ausmaß als in der Öffentlichkeit angenommen. Bedeutsam sind hier vor allem auch die Langzeitfolgen: Gewalt in der Familie kann so durch körperliche und seelische Schäden zum Risikofaktor für eine kriminelle Karriere werden.

c) Opferkategorien: Zahlen geben nur an, wie hoch das statistische Risiko ist, Opfer einer Straftat zu werden - jedoch nicht, ob sich das Viktimisierungsrisiko in der Bevölkerung auch gleichmäßig verteilt. Die wichtigsten Befunde deutscher Untersuchungen zusammengefasst zeigt sich folgendes Bild:

1. Das Risiko, Opfer einer Straftat zu werden, variiert mit dem Alter. Jugendliche und Heranwachsende tragen ein deutlich größeres Risiko als ältere Menschen - besonders bei den Kontaktdelikten (Körperverletzung, Raub, sexuelle Belästigung). 2. Das Geschlecht ist im Zusammenhang mit dem Opferrisiko von untergeordneter Bedeutung. Männer sind stärker von körperlicher Gewalt, Frauen stärker von Sexualdelikten betroffen. Bei den übrigen Delikten ist das Opferrisiko für beide Geschlechter jedoch in etwa gleich groß. 3. Bei den "Kontaktdelikten" ist der Familienstand von Bedeutung. Alleinstehende sind bei Kontaktdelikten deutlich über-, Paare/Verheiratete unterrepräsentiert. Bei den übrigen Delikten spielt der Familienstand offenbar keine entscheidende Rolle. 4. Bei Nicht-Gewalttaten (insbesondere Diebstahl) stehen Haushaltsgröße und -einkommen in Zusammenhang mit dem Opferrisiko. Haushalte mit drei oder mehr Personen und höherem Einkommen werden häufiger Opfer als kleine Haushalte/Haushalte mit geringem Einkommen. 5. Menschen werden überwiegend an ihrem Wohnort - zu Hause/in der näheren Umgebung - Opfer. Mit zunehmender Entfernung vom Wohnort nimmt das Viktimisierungsrisiko ab. Diebstahlsdelikte und Raubtaten werden allerdings häufig auch im Ausland (z. B. im Urlaub oder auf der Geschäftsreise) begangen. Menschen in Städten mit mehr als 100.000 Einwohnern tragen ein höheres Risiko als auf dem Land. In den nördlichen und östlichen Bundesländern ist das Opferrisiko wiederum höher als in den südlichen.

Viktimisierungstheorien

Die Viktimisierungstheorien versuchen die Frage zu beantworten, warum Menschen zu Opfern von Straftaten werden - sie versuchen einen Zusammenhang zwischen Merkmalen des Opfers und dessen Viktimisierungsrisiko herzustellen. Dafür kommen vor allem drei Ausgangspunkte in Betracht: das Opfer selbst, die Beziehungen des Opfers zum Täter und die Tatsituation. Weitere Ausgangspunkte können sozialstrukturelle Bedingungen (Machtlosigkeit der Opfer) oder kulturelle Einflüsse (Zugehörigkeit der Opfer zu einer Minderheit) sein.

a) Theorie der erlernten Hilflosigkeit: Eine Theorie, die auf einen Zusammenhang zwischen Viktimisierung und langfristigen Lernprozessen des Opfers abstellt, ist die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" (1975 entwickelt von Martin Seligman): Die Erfahrung, die Folgen einer Situation nicht vorhersehen und damit beeinflussen zu können, kann passives Verhalten ("erlernte Hilflosigkeit") zur Folge haben. Wer sich wiederholt oder über einen längeren Zeitraum in einer traumatisierenden, ausweglosen Situation befindet, ist nach der Beendigung dieser Situation oft nicht mehr in der Lage, zu seinem normalen Verhalten zurückzukehren. Sofern die Gefahr einer Viktimisierung durch eine Straftat droht, kann er dieser nicht ausweichen, weil er nicht gelernt hat, dass er Gefahren erfolgreich abwenden kann. Die "Theorie der erlernten Hilflosigkeit" kann vornehmlich erklären, warum jemand wiederholt zum Opfer wird oder an einer einmal bestehenden Opferrolle festhält. Sie eignet sich damit vor allem für die Erklärung von Mehrfach-Viktimisierungen, jedoch kaum für die Erklärung einmaliger oder nur gelegentlicher Viktimisierung.

b) Interaktionistische Theorie: Eine Theorie, die an die Beziehungen des Opfers zum Täter anknüpft, ist die "interaktionistische Theorie": Sie sieht Viktimisierung als das Ergebnis einer verfehlten Täter-Opfer-Interaktion. Dabei ist vor allem an solche Fälle zu denken, in denen die Tat eine "Vorgeschichte" hat und sich aus der Beziehung zwischen Täter und Opfer heraus entwickelt, oder in denen es infolge einer Situationsverkennung des Täters zur Tat kommt. Der interaktionistische Ansatz eignet sich nur zur Erklärung von Kontaktdelikten.

Auf die besondere Beziehung zwischen Opfer und Täter beziehen sich auch Theorien, die das Tatgeschehen auf eine Mitursächlichkeit des Opfers ("Opferpräzipitation"). Das Opfer wird dabei nicht nur als passiv erduldendes Objekt gesehen, sondern als ein auch einen aktiven Beitrag zur Entstehung und Entwicklung der Tat leistendes Subjekt. In einer Untersuchung über Tötungsdelikte wurde festgestellt, dass in 26% der Fälle der letztlich Getötete als erster Gewalt (Schläge oder Einsatz einer gefährlichen Waffe) angewandt hatte (Walfgang1958). In einer Untersuchung über das Ausmaß der Opferbeteiligung bei Vergewaltigungen wurde festgestellt, dass die Frauen in 19% der Fälle der sexuellen Handlung zunächst zugestimmt oder zumindest durch Sprache und Gestik provoziert hatten (Amir 1971).

Diese älteren Erklärungsansätze sind auch deshalb problematisch, weil hier die Mitursächlichkeit des Opfers leicht als Mitschuld erscheinen kann; der falsche Gedanke des "blaming the victim" ("selbst Schuld") wird begünstigt.

c) Situationsorientierte Ansätze: Diese Ansätze stellen auf die soziale Situation ab, in der Menschen zu Opfern werden. Das Viktimisierungsrisiko ist hier die Folge der Wahrscheinlichkeit, mit der sich Menschen zu bestimmten Zeiten unter bestimmten Umständen an bestimmten Orten aufhalten und auf tatgeneigte/nicht tatgeneigte Menschen treffen. Hervorzuheben sind zwei eng benachbarte Konzepte:

- Das Lebensstil-Konzept (englisch: "lifestyle concept") erklärt das unterschiedliche Viktimisierungsrisiko als Folge des unterschiedlichen Lebensstils von Opfern im Vergleich zu Nicht-Opfern, wobei der Lebensstil durch das berufliche und private Verhalten - beispielsweise ob man zu bestimmten Zeiten einen als riskant bekannten Ort aufsucht oder nicht - geprägt wird. Der Lebensstil hat Auswirkungen auf das Ausmaß, mit dem man sich bestimmten Risiken aussetzt, und auf die Wahrscheinlichkeit, mit der man auf tatgeneigte Menschen trifft.

- Das Routineaktivitäten-Konzept (englisch: "routine activity approach") erklärt das Viktimisierungsrisiko als Konsequenz eines in gewissem Maße ritualisierten Alltagsverhaltens ("Routineaktivitäten"), das die Gelegenheit zur Begehung von Straftaten beeinflussen. Von einer das Viktimisierungsrisiko erhöhenden Gelegenheit wird dann ausgegangen, wenn drei Faktoren zusammentreffen: Es muss eine Person geben, die zur Begehung einer Straftat bereit ist (englisch: "motivated offender"), das potentielle Opfer oder bestimmte Gegenstände müssen für den potentiellen Täter einen materiellen oder symbolischen Wert haben ("availability of suitable targets"), und ein Schutz, etwa schutzbereite Dritte, fehlen ("absence of a capable guardian"). Gegen die Erklärungsansätze der beiden Theorien spricht, dass es auch und gerade dann zu Straftaten kommt, wenn sich ein potentielles Opfer außerhalb üblichen Verhaltensroutinen aufhält und damit leichter in Situationen gerät, in denen keine ausreichenden Schutzmechanismen zur Verfügung stehen. Auch eine Viktimisierung im sozialen Nahbereich kann mit "Routineaktivitäten" kaum in Verbindung gebracht werden. Sinnvoll ist dagegen der Hinweis auf die situativen Bedingungen, also auf die Attraktivität des potentiellen Tatziels und das Fehlen wirksamen Schutzes - hierin liegt ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entwicklung von Präventionsstrategien. d) Tatbegünstigende Körpermerkmale: Bestimmte körperliche oder psychische Eigenschaften können - aufgrund geringerer Abwehrfähigkeiten - eine Opferdisposition im Sinne einer erhöhten Attraktivität für potentielle Täter begründen. Dieser Umstand ist vor allem bei bestimmten Deliktsformen wichtig: Die Eigenschaft "erkennbarer Ausländer" für rassistisch motivierte Gewalttaten, die Eigenschaft "alter Mensch" für Raub- und Betrugstaten und für Trickdiebstähle, die Eigenschaft "Kind/Jugendlicher" oder "Frau" für Gewalt- und Sexualdelikte. Auf der Täterseite müssen noch die fünf "Neutralisierungstechniken" (nach Sykes/Matza: Leugnung der eigenen Verantwortlichkeit für die Tat / Leugnung eines Schadens / Leugnung, jemanden zum Opfer gemacht zu haben / Herabwürdigung der Strafverfolger / Berufung auf höhere Wertmaßstäbe) genannt werden, bei deren Anwendung durch den potentiellen Täter sich die Wahrscheinlichkeit einer Viktimisierung ebenfalls erhöht.

Das Opfer nach der Tat

Im Mittelpunkt stehen hier die Tatfolgen für das Opfer sowie seine Interessen und Bedürfnisse nach der Tat. Wichtig ist die Reaktion des nahen sozialen Umfeldes (Familie, Freunde, Arbeitskollegen) auf das Tatgeschehen: Ob und inwieweit es dem Opfer bei der Bewältigung der Tatfolgen Hilfe und Unterstützung leistet - oder gar durch Desinteresse oder übertriebene Dramatisierung die Verarbeitung erschwert. Es besteht die Gefahr, dass das bereits durch die Tat selbst (erste, "primäre Viktimisierung") geschädigte Opfer durch unangemessene Reaktionen der Umwelt weitere Schädigungen erleidet (zweite, "sekundäre Viktimisierung").

Dabei ist nicht nicht nur das nahe soziale Umfeld, sondern auch die Berichterstattung in den Medien und die Position des Opfers im Strafverfahren von Bedeutung - vor allem die Art und Weise, in der Polizei und Justiz mit dem Opfer umgehen, kann im Einzelfall hinsichtlich einer späteren psychischen Belastung entscheidend sein - werden hier Fehler gemacht, kann es zu einer dritten, der "tertiären Viktimisierung" kommen.

Der Gesetzgeber hat die Stellung des Opfers im Strafverfahren mit dem Opferschutzgesetz (1986), dem Zeugenschutzgesetz (1998) und dem Opferrechtsreformgesetz (2004) erheblich verbessert. Auch das Opferentschädigungsgesetz (1976/1985), die Förderung der Wiedergutmachung im Strafverfahren durch Änderung des JGG (1990), das Gesetz zum Täter-Opfer-Ausgleich (1999) sowie das zivilrechtliche Gewaltschutzgesetz (2001) haben deutlich zur Verbesserung der Position des Opfers beigetragen.

a) Die Tatfolgen für das Opfer: Jedes Opfer wird durch die Tat unterschiedlich belastet und geht mit deren Folgen unterschiedlich um. Eine zentrale Rolle bei der Bewältigung der Tat scheint dem Umstand zuzukommen, ob zwischen Täter und Opfer vor der Tat eine Bekanntschaft mit einer Vertrauensbeziehung bestand - hier wird das Opfer durch die Tat oft in seinem Urvertrauen in die Zuverlässigkeit sozialer Beziehungen erschüttert. Darüber hinaus spielen Persönlichkeitseigenschaften wie das Selbstwertgefühl, aber auch Unterstützung im sozialen Umfeld oder durch die institutionalisierten Formen der Opferhilfe (Opferschutzorganisation "Weisser Ring"; Frauenhaus/-notruf) eine erhebliche Rolle.

Eigentums- und Vermögensdelikte haben typischerweise andere Folgen als Gewalt- und Sexualdelikte. Dabei ist schon der juristisch unzweifelhaft den Eigentumsdelikten zuzuordnende Einbruchsdiebstahls aus viktimologischem Blickwinkel kein eindeutiges Eigentumsdelikt mehr - sondern er liegt, wegen des Eindringens des Täters in die Privat- und Intimsphäre, an der Grenze zu den Gewaltdelikten. Nach einem Einbruch gaben beispielsweise ca. 30% der Befragten an, die Tat habe nicht zu materiellen, sondern vor allem zu seelischen Schäden geführt (Kilchling 1995).

Andererseits sind nicht alle Gewaltdelikte gleich: Bei den sog. Kontaktdelikten etwa kann das Spektrum von einer harmlosen Auseinandersetzung auf dem Schulhof bis hin zur lebensgefährlichen Körperverletzung reichen. So erklärten knapp 30% der von Kontaktdelikten Betroffenen, die Tat habe zu gar keinem Schaden geführt - dies deutet darauf hin, dass die Konfrontation mit dem Täter nicht zwingend als schädigend empfunden werden muss (Studie von Kilchling).

Wenn man nicht auf die Art des Schadens, sondern auf das Schwereempfinden abstellt, ergibt sich folgendes Bild: Etwas 75% der Opfer von Kontakt- und Einbruchsdelikten erwähnten hier eine subjektive Beeinträchtigung - während sich nur knapp 50% der Opfer von Nicht-Kontakttaten durch die Tat beeinträchtigt fühlten.

Die weitere Aufschlüsselung zeigte, dass das Schwereempfinden nicht so sehr von der Art des Delikts oder einem Kontakt mit dem Täter abhängt - sondern davon, ob das Opfer den Täter vor der Tat bereits kannte. War dies der Fall, so schilderten 83,7% die Tat als "belastend", darunter überwiegend sogar "sehr belastend". Waren Opfer und Täter nur flüchtig miteinander bekannt, reduzierte sich der Anteil auf 71,4%, wobei nur ein geringer Teil die Tat noch als "sehr belastend" einstufte. Bestand keine Vorbeziehung, war der Anteil derjenigen, die die Tat "belastend" empfanden, am geringsten (54,9%).

Bei den psychischen Schäden muss zwischen kurz- und langfristigen Folgen unterschieden werden: Zu den kurzfristigen, bis zu einigen Wochen anhalten Schäden können psychosomatische Beschwerden, Selbstvorwürfe und Angst gehören. Zu den langfristigen Störungen zählen solche, die durch das wiederholte Durchleben des Tatgeschehens, Schlafstörungen, Alpträume und Veränderungen im Sozialverhalten gekennzeichnet sind. Es kann vorkommen, dass das Opfer die Folgen der Viktimisierung nicht mehr allein und dauerhaft bewältigen kann - man spricht dann von einer "posttraumatischer Belastungsstörung" (englisch: "post-traumatic stress disorder").

Eine Opfererfahrung kann in seltenen Fällen sogar positive Wirkungen haben: Der mit der Viktimisierung verbundene Einschnitt in das bisherige Leben kann für das Opfer auch mit einem "Neubeginn" unter veränderten Vorzeichen verbunden sein, der langfristig als positiv erlebt wird (Trennung von Beziehungen, neue Kontakte). Erste Befunde deuten allerdings darauf hin, dass es vor allem auch von der Art des Delikts abhängt, ob so ein Effekt eintreten kann.

b) Interessen und Bedürfnisse des Opfers nach der Tat: Ebenso wie die Tatfolgen sind auch die Interessen/Bedürfnisse des Opfers nach der Tat individuell sehr unterschiedlich. Die meisten Opfer wollen nach der Tat vor allem über das Geschehen reden und benötigen einen verständnisvollen Zuhörer. Weitere typische Bedürfnisse, abhängig von der Art/Schwere des Delikts, sind: - Sicherheit - das Geschehene soll sich nicht wiederholen. - Keine Vorwürfe. - Die eigene Darstellung soll nicht in Zweifel gezogen werden. - Materieller Ersatz für erlittene Schäden. - Bestrafung des Täters bei gravierenden körperlichen oder seelischen Schäden. - Das Opfer möchte die Tat vergessen und zur Normalität zurückkehren.

Je weniger sich das Opfer durch die Tat beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Interesse am Ersatz des materiellen Schadens. Je stärker es sich beeinträchtigt fühlt, desto stärker ist sein Wunsch nach Bestrafung des Täters.

Nach einem Fahr- und Motorraddiebstahl gaben gut 60% als wichtigsten Wunsch den Ersatz des materiellen Schadens an. Nach einem Einbruch stand der Wunsch nach Schadensersatz (36,8%) ebenfalls an erster Stelle. Daneben gab es hier jedoch einen erheblichen Anteil (26,5%) von Personen, für die es am wichtigsten war, bei den polizeilichen Ermittlungen gegen den Täter behilflich zu sein. Anders stellt sich die Bedürfnislage bei den Kontaktdelikten dar: Fast gleichrangig standen im Vordergrund die Wünsche, die Tat zu vergessen (31,8% bei allen Kontaktdelikten; bei Sexualtaten sogar 66,7%) und den Täter zu bestrafen (28,4% bei allen Kontaktdelikten; bei tätlichem Angriff 43,8%). Nur bei den Kontaktdelikten gab es darüber hinaus eine vergleichsweise hohe Anzahl von Personen (17,0%), die sich persönliche Hilfe bei der Bewältigung wünschten (Daten aus der Studie von Kilchling).

c) Zusammenarbeit von Opfer und Strafverfolgungbehörden: Wichtig ist, ob - und wenn ja, warum - sich ein Opfer nach der Tat an die Strafverfolgungsorgane wendet. Es ist festzustellen, dass sich das Anzeigeverhalten im hohen Maße an Kosten-Nutzen-Überlegungen orientiert. Die meisten Opfer nehmen von einer Strafanzeige Abstand, wenn sie denken, dass die mit einem Strafverfahren verbundenen Belastungen (wiederholte Zeugenaussagen bei Polizei und Gericht) in keinem lohnenden Verhältnis zu den möglichen Ergebnis (Sicherheit, Schadensersatz, Bestrafung) stehen. Auch Opfer, die noch unmittelbar nach der Tat ein erhebliches Verlangen nach einer Bestrafung des Täters haben, sehen deshalb häufig von einer Anzeige ab. Bei den Nicht-Kontaktdelikten, bei denen das Interesse nach wirtschaftlicher Wiedergutmachung im Vordergrund stand, wurde von knapp zwei Dritteln der Befragten (62,6%) Anzeige erstattet (bei Einbruch sogar 76,9%). Hier spielt sicher eine große Rolle, dass die Versicherungen meistens nur dann Ersatz leisten, wenn zuvor auch eine Anzeige erstattet wurde. Anders bei den Kontaktdelikten: Hier wurde nur in knapp einem Drittel der Fälle (31,8%) Anzeige erstattet, wobei die Quote bei Sexualdelikten auffällig niedrig lag (13,3%). Gründe für die Nichtanzeige waren der Bagatellcharakter der Tat, Resignation ("Polizei kann ja doch nichts machen"), und - in geringem Umfang - die Angst vor Bedrohung durch den Täter. Daneben spielt auch eine gewisse "Schwellenangst" gegenüber der Justiz eine Rolle. Für die meisten Opfer von Kontaktdelikten (54,5%) war die Vorstellung, im Rahmen einer Gerichtsverhandlung einen öffentlichen Zeugenauftritt haben zu können, unangenehm (Daten aus der Studie von Kilchling).

d) Viktimisierung und spätere Delinquenz: Kinder, an denen Missbrauchs- oder Gewalthandlungen verübt oder die vernachlässigt wurden, dürften im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung häufiger als Straftäter in Erscheinung treten als Kinder, die keine derartigen Viktimisierungserfahrungen gemacht haben. Dieser Zusammenhang scheint unabhängig vom Geschlecht zu bestehen: Sowohl viktimisierte Jungen als auch Mädchen werden später in erhöhtem Maß auffällig, wobei die Prävalenzrate der Frauen deutlich geringer ist als die der Männer.

Die entsprechenden Viktimisierungserfahrungen begründen also lediglich einen Risikofaktor für Kriminalität, und nicht jede Gewaltanwendung/Misshandlung im Kindesalter führt später zu kriminellem Verhalten. Vermutlich wird die Art der Reaktion nicht nur durch die Qualität (Art, Schwere, Häufigkeit, Dauer), sondern auch durch die Disposition sowie durch die Verfügbarkeit hilfreicher sozialer Beziehungen bestimmt. Delinquenz als Reaktion auf erlittene Traumata ist somit zwar möglich, aber keinesfalls sicher.

Ausdrücke wie "Gewalt schafft Gewalt" legen nahe, dass gewalttätige Eltern zu gewalttätigen Kindern führen. Ein derartiger Zusammenhang ist zwar empirisch nachweisbar, doch es bleibt unklar, ob daneben nicht noch andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Offenbar lösen Misshandlungen bei den Betroffenen selbst eher keine Lernprozesse aus (im Sinne von: "Gewalt lohnt sich"), sondern sie schwächen vielmehr die Bindungen des Betroffenen an die Gewalt ausübenden Bezugspersonen - womit späteres abweichendes Verhalten ganz allgemein begünstigen wird (siehe kriminologische Lern- und Kontrolltheorien).

Misshandlungen können auch durch das Verhalten des Kindes zumindest begünstigt werden. Sie müssen deshalb immer - wie andere Faktoren auch - in einem von Wechselwirkungen geprägten innerfamiliären Beziehungssystem gesehen werden.

Opfer im Hell- und Dunkelfeld

Das "Hellfeld" stellt Art und Ausmaß der den Strafverfolgungsorganen bekannt gewordenen Viktimisierungen dar. Das Opfer hat zumindest bei den sich nicht im öffentlichen Raum stattfindenden Kriminalität großen Einfluss darauf hat, ob die Tat der Polizei/Justiz bekannt wird. Nach älteren Untersuchung gehen bei Diebstahl, Betrug, Unterschlagung, Raub und Vergewaltigung etwa 80% aller Strafverfahren auf eine Anzeige des Opfers, aber nur 9-18% auf Anzeigen Dritter und sogar nur 3-6% auf polizeieigene Erkenntnisse zurück.

Erstattet das Opfer keine Anzeige, besteht somit eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei keine Kenntnis von der Tat bekommt und erst gar keine Strafverfolgung stattfindet - das Opfer wird deshalb auch als "Torwächter des Strafverfahrens" (englisch: "gatekeeper") bezeichnet.

Für die Hellfelddaten bedeutet dies, dass sie nur einen Ausschnitt aus allen erlebten Viktimisierungen darstellen - und dieser Ausschnitt zusätzlich noch durch die individuellen Interessen und Bedürfnisse des Opfers verzerrt ist.

Als Quelle für die im Hellfeld erfassten Viktimisierungen steht einzig und allein die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) zur Verfügung.

Um die Belastung der einzelnen Alters- und Opfergruppen zu ermitteln, müssen Opfergefährdungszahlen (OGZ) berechnet werden, die die Anzahl der polizeilich registrierten Opfer pro 100.000 Personen der Wohnbevölkerung (incl. Ausländern) angeben. Dabei zeigt sich, dass vor allem männliche Jugendliche und Heranwachsende von Körperverletzungsdelikten - und leicht verringert auch von Raub/räuberischer Erpressung - betroffen sind. Sexualdelikte werden vor allem gegenüber Mädchen und jungen Frauen verübt, mit einem hohen Anteil sexuellen Missbrauchs sechs- bis vierzehnjähriger Mädchen.

Die Opferbelastung ist sowohl im Hell- als auch im Dunkelfeld bei Jugendlichen und Heranwachsenden am höchsten. Erwachsene sind, bezogen auf ihren Bevölkerungsanteil, deutlich seltener betroffen.

Das aus der Dunkelfeldforschung bekannte hohe Viktimisierungsrisiko im sozialen Nahbereich spiegelt sich im Hellfeld nicht wieder - unter den angezeigten Delikten gibt es nur bei der "Misshandlung von Schutzbefohlenen" einen hohen Anteil (ca. 75%) von Taten, bei denen Täter und Opfer verwandt sind. Bei allen anderen Delikten - außer bei Tötungsdelikten (32%) - spielen Verwandte in der PKS keine besondere Rolle. Dies gilt auch für den Tatbestand des "sexuellen Missbrauchs von Kindern" - die PKS-Verteilung bestätigt damit den Befund der Dunkelfeldforschung, dass Opfer eine Anzeige gegen Täter aus der eigenen Familie scheuen.