Verbrecher aus Schuldgefühl: Unterschied zwischen den Versionen

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Verbrecher aus Schuldgefühl
==Definition==
Der „Verbrecher aus Schuldgefühl“ ist jemand, der eine Straftat begeht, weil in ihm ein ihm nicht bewusstes Schuldgefühl wirkt, das nach Entlastung drängt. So führt  derjenige  sozusagen einen realen Anlass dafür herbei, dass er als schuldig erkannt und zur Rechenschaft gezogen wird. Es handelt sich dabei um eine psychoanalytische Konzeption, die auf Sigmund Freud zurückgeht.
==Herkunft==
1915 (GW X, 370-74) veröffentliche Sigmund Freud eine kleine Schrift, in der er „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit“ beschrieb, darunter  „Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein“. Darin macht er auf Fälle aufmerksam, bei denen ansonsten „anständige Personen“ Vergehen begingen, auch solche, die sich in seiner Behandlung befanden. Solche Taten seien vor allem darum begangen worden, „weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war“ (S. 371). Freud fand bei einer solchen Person ein drückendes Schuldbewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, sei der Druck gemildert und das Schuldbewusstsein  „wenigstens irgendwie untergebracht“ (S. 371).Freud behauptete, dass in solchen Fällen das Schuldbewusstsein früher da gewesen sei als die Tat, und damit die Verhältnisse von Schuldgefühl und Tat quasi auf den Kopf gestellt. „Diese Personen durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein bezeichnen. Die Präexistenz des Schuldgefühls hatte sich natürlich durch eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wirkungen nachweisen lassen“ (S. 371).
Freud stellt die Fragen, woher dieses stammen mag, und, ob es wahrscheinlich sei, das diese Art von Verursachung von Verbrechen häufig sei. Die erste der Fragen beantwortet er so, dass der Ödipus-Komplex den Hintergrund des Schuldgefühls sei: „Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lautete, daß dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit diesen beiden waren allerdings die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen Erleichterungen für den Gequälten. Man muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden.“ (S. 372)
Bei der Beantwortung der zweiten Frage meint er, man müsse die Zahl der Verbrecher abziehen, die „ohne Schuldgefühl Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen Hemmungen entwickelt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem Tun berechtigt glauben“. Für den Rest der Verbrecher könnte sein Modell zutreffen.
==Entwicklung des Konzepts==
Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“(1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt. Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat,  den Startschuss für die Entwicklung einer  ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt  wurde. Hier sind insbesondere Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweit hat, sowie vor allem Thoedor Reik und Franz Alexander. Theodor Reik hat 1925  das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich
„akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von 
„chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten.
Letztere werden in
# organisch Kranke Verbrecher,
# Neurotische Verbrecher
# Normale Verbrecher und
#  Genuine „geborene“ Verbrecher
Unterteilt. Der „Verbrecher aus präexistentem Schuldgefühl“, wie er dort genannt wird,  zählt zu den neurotischen Verbrechern.
In der Schrift von Alexander und Staub  findet sich eine ausführlichere Darstellung eines Falles eines „Verbrechers aus Schuldgefühl“ (S. 346 ff), der unten vorgestellt wird.
Das Verhältnis von Schuldgefühl und Strafbedürfnis wird in einer großen Zahl psychoanalytischer Fallberichte beschrieben, es muss nicht regelhaft mit Delinquenz in Verbindung stehen, sondern kann sich auch beispielsweise im Scheitern am Erfolg äußern, und ist eine Konstellation, die Analytikern aus ihrer Praxis vertraut ist.
Dieses Beispiel mag auch helfen, die für Nicht-Psychoanalytiker etwas schwer zugänglichen Gedankengänge über das Wirken des Unbewussten plausibler zu machen.
===Beispiel===
Alexander berichtet über einen 34-jährigen Mann, der sich jahrelang mit Erfolg mittels eines gefälschten ärztlichen Diploms als Arzt ausgegeben hatte und dabei wegen hervorragender Kenntnisse auf medizinischem Gebiet durchaus Anerkennung erworben hatte. Zuletzt war er in einer gynäkologischen Klinik tätig gewesen. Er war wegen Diebstählen zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil er Fachbücher, Teile eines Mikroskops und Porzellan gestohlen hatte. Zunächst hatte man ihn nur bei Bücherdiebstählen erwischt und ihn  freilassen wollen, bis er wegen  des Einräumens der anderen Diebstähle in Haft genommen wurde. Während der Haft erschien er glücklich und zufrieden, und studierte eifrig Fachbücher. Der Verdacht lag nahe, das es sich bei den Taten um ein neurotisches Agieren gehandelt hatte.
Bereits mit 17 hatte der Mann einen Diebstahl von Süßigkeiten begangen und war dafür aus einem Kadettenkorps entlassen worden. Kurz zuvor hatte er Besuch seiner schwangeren  Mutter gehabt, was ihm furchtbar peinlich gewesen war. Die Autoren legen dar, dass der Mann bereits damals aufgrund des Schuldgefühls wegen der Schwangerschaft der  Mutter, für die er sich selbst unbewusst verantwortlich gefühlt hatte, den Diebstahl begangen hatte, um bestraft zu werden.  Es wird eine Linie gezogen von seiner von der Mutter schon, als er Kind war, heimlich unterstützen Leidenschaft für Süßes, die vom Vater drakonisch geahndet worden war, zu einer vom Vater verhinderten sinnlichen Bindung an die Mutter, verbunden mit  dem ödipalen Wunsch der Beseitigung des Vaters. Der Hausarzt der Familie, der häufig bei der oft kranken Mutter war, riet den Eltern davon ab, ihren Sohn Medizin studieren zu lassen. Der Arztberuf, der ihm daher verwehrt wurde, war bei ihm unbewusst  mit einer infantilen Schaulust verbunden. Wegen des heimlichen Triumphes, sich das Verbotene dennoch auf unlauterem Wege zu verschaffen, hatte der Mann so starke unbewusste Schuldgefühle, dass er durch seine Diebstähle eine Situation herbeiführte, in der seine Geschichte aufflog. Damit war die Ordnung wieder hergestellt, und er erleichtert. Er hatte sein unbewusstes Strafbedürfnis befriedigt.
==Gegenwärtige Bedeutung des Konzepts==
Es gab durchaus Stimmen, die den „Verbrecher aus Schuldgefühl“ als Prototypen für viele Täter (z. B. Reiwald 1948) nehmen wollten, doch bereits Freud hatte ja die Reichweite des Konzepts eingeengt, und bei Alexander und Staub ist er ein Typus unter mehreren. Das Konzept sieht  psychogenetisch  einen Trieb - Über-Ich – Konflikt als Ursache des Phänomens,  und behält in diesem Zusammenhang seinen Erklärungswert. Allerdings hat sich die psychoanalytisch begründete Kriminologie in jüngere Zeit sowohl inhaltlich vom neurotischen Verbrecher abgewandt als auch theoretisch von Über-Ich – Pathologien. Blickt man heute auf dieses  (insgesamt eher schlecht bestellte) Feld wissenschaftlicher und therapeutischer Aktivitäten, findet man als Inhalte Dissozialität (Rauchfleisch, Dammann),  Gewalt (Fonagy), Sexualstörungen (Berner, Pfäfflin), Drogenkriminalität (Böllinger), und damit zusammenhängend als Gegenstand theoretischen Interesses  eher Störungen des Ich, frühkindliche Entwicklungsstörungen und Bindungsstörungen  als psychogenetische Konzepte. Was die Therapie von Delinquenten auf psychoanalytischer Grundlage betrifft, werden für die genannten Täter-Gruppen als Abwandlungen der klassischen psychoanalytischen Therapie Konzepte entwickelt, die sich an der Behandlung von Personen  mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere  vom Borderline-Typus orientieren.
==Kritik des Konzepts==
Von psychoanalytischer Seite ist vor allem die Begrenztheit des Konzepts kritisiert worden, sowie die Einengung auf den ungelösten Ödipus-Konflikt als Ursache. So sind beispielsweise durch die sog. „Environmentalisten“ unter den Psychoanalytikern,  z. B. Erich Fromm,    Anschlüsse an die Sozialpsychologie gesucht worden, und damit auch  soziale Faktoren in Begründungszusammenhänge aufgenommen worden. Die Erforschung der frühkindlichen Entwicklung, hier sei als Beispiel die  Bindungsforschung erwähnt, die auf den Analytiker  Bowlby zurückgeht,  führte zu  neuen, die Eltern der Kinder einschließenden  Konzeptualisierungen der Entwicklung der  Persönlichkeit und deren Störungen, die auch für Gruppen von Delinquenten Anwendung finden. Kritisch zu diskutieren wäre allerdings, ob und inwieweit man Kriminalität überhaupt analog zur Krankheit  verstehen und behandeln kann und soll.
Nicht zuletzt wurde daher gegen die Psychoanalyse seitens der Soziologie eingewandt, sie vernachlässige die sozialen Faktoren der Kriminalitätsentstehung. Ein Blick auf die unterschiedlichen  Kriminalitätstheorien macht  deutlich, dass sich Ursachen von Kriminalität nicht auf innerpsychische und auch nicht auf familiäre Begründungszusammenhänge reduzieren lassen.
==Literatur==
Alexander/Staub
Berner
Böllinger
Bowlby
Dammann
Fonagy
Freud
Freud
Fromm
Pfäfflin
Rauchfleisch
Reik
Reiwald
==Links==

Version vom 24. November 2009, 16:41 Uhr

Wird bearbeitet von Peter M. Verbrecher aus Schuldgefühl

Definition

Der „Verbrecher aus Schuldgefühl“ ist jemand, der eine Straftat begeht, weil in ihm ein ihm nicht bewusstes Schuldgefühl wirkt, das nach Entlastung drängt. So führt derjenige sozusagen einen realen Anlass dafür herbei, dass er als schuldig erkannt und zur Rechenschaft gezogen wird. Es handelt sich dabei um eine psychoanalytische Konzeption, die auf Sigmund Freud zurückgeht.

Herkunft

1915 (GW X, 370-74) veröffentliche Sigmund Freud eine kleine Schrift, in der er „Einige Charaktertypen aus der psychoanalytischen Arbeit“ beschrieb, darunter „Die Verbrecher aus Schuldbewußtsein“. Darin macht er auf Fälle aufmerksam, bei denen ansonsten „anständige Personen“ Vergehen begingen, auch solche, die sich in seiner Behandlung befanden. Solche Taten seien vor allem darum begangen worden, „weil sie verboten und weil mit ihrer Ausführung eine seelische Erleichterung für den Täter verbunden war“ (S. 371). Freud fand bei einer solchen Person ein drückendes Schuldbewusstsein unbekannter Herkunft, und nachdem er ein Vergehen begangen hatte, sei der Druck gemildert und das Schuldbewusstsein „wenigstens irgendwie untergebracht“ (S. 371).Freud behauptete, dass in solchen Fällen das Schuldbewusstsein früher da gewesen sei als die Tat, und damit die Verhältnisse von Schuldgefühl und Tat quasi auf den Kopf gestellt. „Diese Personen durfte man mit gutem Recht als Verbrecher aus Schuldbewußtsein bezeichnen. Die Präexistenz des Schuldgefühls hatte sich natürlich durch eine ganze Reihe von anderen Äußerungen und Wirkungen nachweisen lassen“ (S. 371). Freud stellt die Fragen, woher dieses stammen mag, und, ob es wahrscheinlich sei, das diese Art von Verursachung von Verbrechen häufig sei. Die erste der Fragen beantwortet er so, dass der Ödipus-Komplex den Hintergrund des Schuldgefühls sei: „Das regelmäßige Ergebnis der analytischen Arbeit lautete, daß dieses dunkle Schuldgefühl aus dem Ödipuskomplex stamme, eine Reaktion sei auf die beiden großen verbrecherischen Absichten, den Vater zu töten und mit der Mutter sexuell zu verkehren. Im Vergleich mit diesen beiden waren allerdings die zur Fixierung des Schuldgefühls begangenen Verbrechen Erleichterungen für den Gequälten. Man muß sich hier daran erinnern, daß Vatermord und Mutterinzest die beiden großen Verbrechen der Menschen sind, die einzigen, die in primitiven Gesellschaften als solche verfolgt und verabscheut werden.“ (S. 372) Bei der Beantwortung der zweiten Frage meint er, man müsse die Zahl der Verbrecher abziehen, die „ohne Schuldgefühl Verbrechen begehen, die entweder keine moralischen Hemmungen entwickelt haben oder sich im Kampf mit der Gesellschaft zu ihrem Tun berechtigt glauben“. Für den Rest der Verbrecher könnte sein Modell zutreffen.

Entwicklung des Konzepts

Freud, der in diesem Zusammenhang die Begriffe „Schuldbewußtsein“ und „Schuldgefühl“ synonym benutzte (z. B. in der „Neuen Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse“ (1933), hat insbesondere in „Das Ich und das Es“(1923) das Verhältnis von Ich, Es und Über-Ich und damit auch des Schuldgefühls bestimmt. Mit dem unter 2. genannten kleinen Kapitel gab er, der sich insgesamt mit der Kriminologie eher marginal befasst hat, den Startschuss für die Entwicklung einer ganzen eigenständigen Forschungsrichtung, der psychoanalytischen Kriminologie, die von einigen seiner Schüler in Gang gesetzt wurde. Hier sind insbesondere Wilhelm Stekel zu nennen, der sich später mit Freud entzweit hat, sowie vor allem Thoedor Reik und Franz Alexander. Theodor Reik hat 1925 das in psychoanalytischen Kreisen beachtete Buch „Geständniszwang und Strafbedürfnis“ publiziert, in dem das Strafbedürfnis des Neurotikers einen zentralen Platz einnimmt. Franz Alexander hat zusammen mit dem Strafverteidiger Hugo Staub eine psychoanalytische Würdigung des Justizsystems geleistet (der Verbrecher und sein Richter, 1928), worin unter anderem eine über Freud hinausgehende Typologie des Verbrechers enthalten ist. Diese Typologie unterscheidet grundsätzlich „akzidentelle Verbrecher“, deren Taten nicht persönlichkeitsadäquat sind, und durch Fahrlässigkeit oder Situationsdruck entstehen, von „chronischen Verbrechern“ mit Ihrer Persönlichkeit adäquaten Taten. Letztere werden in

  1. organisch Kranke Verbrecher,
  2. Neurotische Verbrecher
  3. Normale Verbrecher und
  4. Genuine „geborene“ Verbrecher

Unterteilt. Der „Verbrecher aus präexistentem Schuldgefühl“, wie er dort genannt wird, zählt zu den neurotischen Verbrechern.

In der Schrift von Alexander und Staub findet sich eine ausführlichere Darstellung eines Falles eines „Verbrechers aus Schuldgefühl“ (S. 346 ff), der unten vorgestellt wird. Das Verhältnis von Schuldgefühl und Strafbedürfnis wird in einer großen Zahl psychoanalytischer Fallberichte beschrieben, es muss nicht regelhaft mit Delinquenz in Verbindung stehen, sondern kann sich auch beispielsweise im Scheitern am Erfolg äußern, und ist eine Konstellation, die Analytikern aus ihrer Praxis vertraut ist. Dieses Beispiel mag auch helfen, die für Nicht-Psychoanalytiker etwas schwer zugänglichen Gedankengänge über das Wirken des Unbewussten plausibler zu machen.

Beispiel

Alexander berichtet über einen 34-jährigen Mann, der sich jahrelang mit Erfolg mittels eines gefälschten ärztlichen Diploms als Arzt ausgegeben hatte und dabei wegen hervorragender Kenntnisse auf medizinischem Gebiet durchaus Anerkennung erworben hatte. Zuletzt war er in einer gynäkologischen Klinik tätig gewesen. Er war wegen Diebstählen zu über einem Jahr Gefängnis verurteilt worden, weil er Fachbücher, Teile eines Mikroskops und Porzellan gestohlen hatte. Zunächst hatte man ihn nur bei Bücherdiebstählen erwischt und ihn freilassen wollen, bis er wegen des Einräumens der anderen Diebstähle in Haft genommen wurde. Während der Haft erschien er glücklich und zufrieden, und studierte eifrig Fachbücher. Der Verdacht lag nahe, das es sich bei den Taten um ein neurotisches Agieren gehandelt hatte. Bereits mit 17 hatte der Mann einen Diebstahl von Süßigkeiten begangen und war dafür aus einem Kadettenkorps entlassen worden. Kurz zuvor hatte er Besuch seiner schwangeren Mutter gehabt, was ihm furchtbar peinlich gewesen war. Die Autoren legen dar, dass der Mann bereits damals aufgrund des Schuldgefühls wegen der Schwangerschaft der Mutter, für die er sich selbst unbewusst verantwortlich gefühlt hatte, den Diebstahl begangen hatte, um bestraft zu werden. Es wird eine Linie gezogen von seiner von der Mutter schon, als er Kind war, heimlich unterstützen Leidenschaft für Süßes, die vom Vater drakonisch geahndet worden war, zu einer vom Vater verhinderten sinnlichen Bindung an die Mutter, verbunden mit dem ödipalen Wunsch der Beseitigung des Vaters. Der Hausarzt der Familie, der häufig bei der oft kranken Mutter war, riet den Eltern davon ab, ihren Sohn Medizin studieren zu lassen. Der Arztberuf, der ihm daher verwehrt wurde, war bei ihm unbewusst mit einer infantilen Schaulust verbunden. Wegen des heimlichen Triumphes, sich das Verbotene dennoch auf unlauterem Wege zu verschaffen, hatte der Mann so starke unbewusste Schuldgefühle, dass er durch seine Diebstähle eine Situation herbeiführte, in der seine Geschichte aufflog. Damit war die Ordnung wieder hergestellt, und er erleichtert. Er hatte sein unbewusstes Strafbedürfnis befriedigt.

Gegenwärtige Bedeutung des Konzepts

Es gab durchaus Stimmen, die den „Verbrecher aus Schuldgefühl“ als Prototypen für viele Täter (z. B. Reiwald 1948) nehmen wollten, doch bereits Freud hatte ja die Reichweite des Konzepts eingeengt, und bei Alexander und Staub ist er ein Typus unter mehreren. Das Konzept sieht psychogenetisch einen Trieb - Über-Ich – Konflikt als Ursache des Phänomens, und behält in diesem Zusammenhang seinen Erklärungswert. Allerdings hat sich die psychoanalytisch begründete Kriminologie in jüngere Zeit sowohl inhaltlich vom neurotischen Verbrecher abgewandt als auch theoretisch von Über-Ich – Pathologien. Blickt man heute auf dieses (insgesamt eher schlecht bestellte) Feld wissenschaftlicher und therapeutischer Aktivitäten, findet man als Inhalte Dissozialität (Rauchfleisch, Dammann), Gewalt (Fonagy), Sexualstörungen (Berner, Pfäfflin), Drogenkriminalität (Böllinger), und damit zusammenhängend als Gegenstand theoretischen Interesses eher Störungen des Ich, frühkindliche Entwicklungsstörungen und Bindungsstörungen als psychogenetische Konzepte. Was die Therapie von Delinquenten auf psychoanalytischer Grundlage betrifft, werden für die genannten Täter-Gruppen als Abwandlungen der klassischen psychoanalytischen Therapie Konzepte entwickelt, die sich an der Behandlung von Personen mit Persönlichkeitsstörungen, insbesondere vom Borderline-Typus orientieren.

Kritik des Konzepts

Von psychoanalytischer Seite ist vor allem die Begrenztheit des Konzepts kritisiert worden, sowie die Einengung auf den ungelösten Ödipus-Konflikt als Ursache. So sind beispielsweise durch die sog. „Environmentalisten“ unter den Psychoanalytikern, z. B. Erich Fromm, Anschlüsse an die Sozialpsychologie gesucht worden, und damit auch soziale Faktoren in Begründungszusammenhänge aufgenommen worden. Die Erforschung der frühkindlichen Entwicklung, hier sei als Beispiel die Bindungsforschung erwähnt, die auf den Analytiker Bowlby zurückgeht, führte zu neuen, die Eltern der Kinder einschließenden Konzeptualisierungen der Entwicklung der Persönlichkeit und deren Störungen, die auch für Gruppen von Delinquenten Anwendung finden. Kritisch zu diskutieren wäre allerdings, ob und inwieweit man Kriminalität überhaupt analog zur Krankheit verstehen und behandeln kann und soll. Nicht zuletzt wurde daher gegen die Psychoanalyse seitens der Soziologie eingewandt, sie vernachlässige die sozialen Faktoren der Kriminalitätsentstehung. Ein Blick auf die unterschiedlichen Kriminalitätstheorien macht deutlich, dass sich Ursachen von Kriminalität nicht auf innerpsychische und auch nicht auf familiäre Begründungszusammenhänge reduzieren lassen.

Literatur

Alexander/Staub Berner Böllinger Bowlby Dammann Fonagy Freud Freud Fromm Pfäfflin Rauchfleisch Reik Reiwald


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