Verbrechen: Unterschied zwischen den Versionen

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Ein '''Verbrechen''' ist eine schwere Straftat. Weniger schwere Straftaten werden in Deutschland als [[Vergehen]] bezeichnet.
Eine schwere Straftat wird unter Juristen ebenso wie in der Öffentlichkeit als '''Verbrechen''' bezeichnet (speziell unter Juristen häufig in Abgrenzung zum [[Vergehen]] als dem Fachausdruck für weniger schwere Straftaten). Dabei kommt es nicht auf die einzelne Aktion, sondern auf die abstrakt bestimmte Schwere des Tatbestands an, der mit der Handlung erfüllt wird.


== Etymologie ==
== Etymologie ==
Das mittelhochdeutsche Wort "verbrechen" bezeichnete ein bis zur Zerstörung oder Vernichtung intensiviertes "Brechen". In der Rechtssprache entwickelten sich zunächst Ausdrücke wie das "Brechen des Friedens" (oder eines Eides oder eines Gesetzes). Ab dem 17. Jahrhundert gab es dann auch die Substantive "Verbrechen" und "Verbrecher" (die zunächst auch für leichtere Übertretungen benutzt wurden). Ab dem 18. Jahrhundert findet sich das Verb "verbrechen" nur noch mit einem allgemeinen Objekt ("etwas verbrechen").
Das mittelhochdeutsche Wort "verbrechen" bezeichnete ein bis zur Zerstörung oder Vernichtung intensiviertes "Brechen". In der Rechtssprache entwickelten sich zunächst Ausdrücke wie das "Brechen des Friedens" (oder eines Eides oder eines Gesetzes). Ab dem 17. Jahrhundert gab es dann auch die Substantive "Verbrechen" und "Verbrecher" (die zunächst auch für leichtere Übertretungen benutzt wurden). Ab dem 18. Jahrhundert findet sich das Verb "verbrechen" nur noch mit einem allgemeinen Objekt ("etwas verbrechen").


==Definitionen==
==Definitionen: Formelle Verbrechensbegriffe==
 


=== Deutschland===
=== Deutschland===
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*Das schweizerische Strafgesetzbuch (Stand Januar 2010) definiert Verbrechen als Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB). Vergehen sind Taten, die mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind (Art. 10 Abs. 3 StGB).
*Das schweizerische Strafgesetzbuch (Stand Januar 2010) definiert Verbrechen als Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB). Vergehen sind Taten, die mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind (Art. 10 Abs. 3 StGB).


=== Bedeutung ===
=== Einstufung als Verbrechen und Sanktionierung ===
Die Einstufung als Verbrechen hat Konsequenzen für die Art der Sanktionierung. Traditionell sind für Verbrechen die schwersten Strafen zulässig, für Vergehen nicht. Für besonders gravierende Verbrechen war das meist die Todesstrafe (daher auch die Bezeichnung Kapitalverbrechen; von lat. caput = das Haupt; Kapitalverbrechen = Verbrechen, das den Kopf kostet).
Die Einstufung als Verbrechen hat Konsequenzen für die Art der Sanktionierung. Traditionell sind für Verbrechen die schwersten Strafen zulässig, für Vergehen nicht. Für besonders gravierende Verbrechen war das meist die Todesstrafe (daher auch die Bezeichnung Kapitalverbrechen; von lat. caput = das Haupt; Kapitalverbrechen = Verbrechen, das den Kopf kostet).


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In einigen Rechtssystemen gibt es die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen nicht oder nicht mehr. Beispielsweise existieren in den ebenfalls vom französischen Modell ausgehend entwickelten Strafrechten Italiens, Spaniens und der Niederlande für Bagatellstraftaten zwar weiterhin die Übertretungen (contravvenzioni, faltas bzw. overtredingen), alle anderen Straftaten werden dagegen einheitlich als „Delikte“ oder „Vergehen“ (delitti, delitos bzw. misdrijven) bezeichnet. Trotzdem werden auch hier schwere und weniger schwere Tatbestände entsprechenden Unterkategorien zugeordnet. In den meisten Rechtsordnungen des Common Law gibt es die Unterscheidung zwischen schweren oder „kapitalen“ Verbrechen (felonies) und weniger schweren kriminellen Verfehlungen (misdemeanors), wobei der eigentliche Ausdruck „Verbrechen“ (crime) im Englischen als Oberbegriff dient und systematisch eher der „Straftat“ als solchen entspricht.
In einigen Rechtssystemen gibt es die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen nicht oder nicht mehr. Beispielsweise existieren in den ebenfalls vom französischen Modell ausgehend entwickelten Strafrechten Italiens, Spaniens und der Niederlande für Bagatellstraftaten zwar weiterhin die Übertretungen (contravvenzioni, faltas bzw. overtredingen), alle anderen Straftaten werden dagegen einheitlich als „Delikte“ oder „Vergehen“ (delitti, delitos bzw. misdrijven) bezeichnet. Trotzdem werden auch hier schwere und weniger schwere Tatbestände entsprechenden Unterkategorien zugeordnet. In den meisten Rechtsordnungen des Common Law gibt es die Unterscheidung zwischen schweren oder „kapitalen“ Verbrechen (felonies) und weniger schweren kriminellen Verfehlungen (misdemeanors), wobei der eigentliche Ausdruck „Verbrechen“ (crime) im Englischen als Oberbegriff dient und systematisch eher der „Straftat“ als solchen entspricht.


== Materielle Verbrechensbegriffe ==
== Definitionen: Materielle Verbrechensbegriffe ==
Materielle Verbrechensbegriffe lösen sich von den normativen Vorgaben des Strafrechts und sind im Vergleich zum formellen Verbrechensbegriff weniger scharf umschrieben und abgegrenzt. Für die Einordnung einer Tat als Verbrechen sind dabei u. a. folgende Kriterien von Bedeutung.


=== Naturrecht ===
"Nicht weil eine Tat ein Verbrechen ist, verurteilen wir sie, sondern weil
Im Naturrecht wird eine Trennung in moralisch an sich verwerfliche Delikte (mala delicta per se) und schlicht verbotene Delikte (mala prohibita) vorgenommen. Diese Unterscheidung von natürlichen und bloß konventionellen Verbrechen spielt im strafrechtlichen Denken des Common Law noch heute eine bedeutende Rolle. Allerdings ist der „natürliche“ Verbrechensbegriff wegen der ihm innewohnenden Gefahr der Willkür und der immanenten Subjektivität in der Dogmatik umstritten.
wir sie verurteilen, ist sie ein Verbrechen" (Durkheim 1893/1977: 123).


=== Rechtsgut ===
Die juristische Lehre vom Rechtsgut bezeichnet als Verbrechen solche Handlungen, die geeignet sind, geschützte Rechtsgüter in strafwürdiger Weise zu verletzen. Rechtsgüter sind dabei die rechtlich geschützten individuellen Interessen der Teilnehmer am Rechtsverkehr. Dieser „rechtsgutsbezogene“ Verbrechensbegriff ist enger als der natürliche Verbrechensbegriff und knüpft an die normativen Grundlagen einer Rechtsordnung (Gesellschaft) an. Er steht daher dem formellen Verbrechensbegriff schon recht nahe.


=== Sozialschädlichkeit ===
Für die Kriminologie ist es oft unbefriedigend, einfach darauf abzustellen, ob eine Handlung vom Gesetzgeber mit (einer gewissen Mindest-) Strafe bedroht ist oder nicht, ist der strafrechtliche Verbrechensbegriff doch laut Kürzinger (Kriminologie 1982, 14) der „willkürlichen Verfügungsgewalt des Gesetzgebers ausgeliefert. Der Gesetzgeber entscheidet letztendlich welches Handeln kriminalisiert werden soll (Neukriminalisieren) und welches nicht oder nicht mehr (Entkriminalisieren)".
Aus den Sozialwissenschaften stammt der Begriff des antisozialen Verhaltens, das im Kontext sozial unangepassten oder abweichenden Verhaltens (Devianz) definiert wird. Der daraus erwachsende Verbrechensbegriff stützt sich auf ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft und bezieht in besonders hohem Maße Erkenntnisse der Kriminalistik ein. Um einen handhabbaren Verbrechensbegriff zu liefern, benötigt jedoch auch dieser Ansatz eine normative Basis.


Materielle Verbrechensbegriffe lösen sich daher von den normativen Vorgaben des Strafrechts. Der Preis für diese Emanzipation ist allerdings hoch. Er besteht in der Schaffung einer Differenz zwischen dem, was das Gesetz als Verbrechen bezeichnet und dem, was die Nutzer eines materiellen Verbrechensbegriffs als Verbrechen bezeichnen. Und er besteht typischerweise auch in einer geringeren Bestimmbarkeit dessen, was denn nun als Verbrechen im materiellen Sinne anzusehen sei.


=== Naturrecht ===
Im Naturrecht wird eine Trennung in moralisch an sich verwerfliche Delikte (mala delicta per se) und schlicht verbotene Delikte (mala prohibita) vorgenommen. Diese Unterscheidung von natürlichen und bloß konventionellen Verbrechen spielt im strafrechtlichen Denken des Common Law noch heute eine bedeutende Rolle. Aber welche Handlungen sind "mala per se" und welche (nur) "prohibita"? Der Ehebruch und die Homosexualität, heute entkriminalisiert, galten lange Zeit als in sich verwerfliche und manchmal sogar als todeswürdige Straftaten. Ähnlich dramatisch der Wandel, den die Einstellung zur Gotteslästerung (entkriminalisiert seit 1969) und zur Pornographie (entkriminalisiert seit 1975) durchmachten. Welche Einstellung ist die richtige? Wie ließe sich bestimmen, ob der Ehebruch und die Homosexualität vielleicht doch "mala per se" darstellen? Wie ließe sich ein Naturrecht begründen, das unabhängig wäre vom souzio-kulturellen Wandel und vom Zeitgeist?


''materieller Verbrechensbegriff (soziologisch) und natürlicher Verbrechensbegriff:''
=== Rechtsgut ===
Die juristische Lehre vom Rechtsgut bezeichnet als Verbrechen solche Handlungen, die geeignet sind, geschützte Rechtsgüter in strafwürdiger Weise zu verletzen. Rechtsgüter sind dabei die rechtlich geschützten individuellen Interessen der Teilnehmer am Rechtsverkehr. Dieser „rechtsgutsbezogene“ Verbrechensbegriff ist enger als der natürliche Verbrechensbegriff und knüpft an die normativen Grundlagen einer Rechtsordnung (Gesellschaft) an. Er steht daher dem formellen Verbrechensbegriff schon recht nahe. Allerdings ist das Fundament der Rechtsgutslehre und damit die Bestimmbarkeit dessen, was legitimerweise Rechtsgut ist und was nicht, völlig unklar.


„Die Vertreter des (materiellen) Verbrechensbegriffs lehnen den strafrechtlichen (formellen) Verbrechensbegriff als für die wissenschaftliche Arbeit nicht ausreichend ab, weil dieser zu formal darauf abstellt, ob eine Handlung mit Strafe bedroht ist oder nicht“, Schwind (2004, 5); der strafrechtliche Verbrechensbegriff ist laut Kürzinger (Kriminologie 1982, 14) der „willkürlichen Verfügungsgewalt des Gesetzgebers ausgeliefert.
=== Sozialschädlichkeit ===
Der Gesetzgeber entscheidet letztendlich welches Handeln kriminalisiert werden soll (Neukriminalisieren) und welches nicht oder nicht mehr (Entkriminalisieren).
Aus den Sozialwissenschaften stammt der Begriff des antisozialen Verhaltens, das im Kontext sozial unangepassten oder abweichenden Verhaltens (Devianz) definiert wird. Der daraus erwachsende Verbrechensbegriff stützt sich auf ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft. Doch auch hier fehlt eine solide normative Basis, um einen handhabbaren Verbrechensbegriff zu liefern. Was der eine für sozialschädlich hält, ist für den anderen vielleicht sozial nützliche Provokation oder Innovation. Auch dafür gibt es zahllose Beispiele.
Die Orientierung am empirischen Status Quo des sozialen Unwerturteils ist auch nicht viel solider: "Das soziale Unwerturteil über eine Handlung muss nicht mit der Einschätzung durch das Strafrecht einhergehen. Es ist aber schwierig festzustellen, was man im soziologischen Sinne als Verbrechen  verstehen will, weil die Kriterien hierfür nicht eindeutig sind“ (Kürzinger, 1996, 19). Die Unterscheidung ist wiederum  normativ, das Problem wird also nur verlagert.


Beispiele:
Folgt man der Labeling-Auffassung, dass nur das ein Verbrechen sei, was von den sozialen Instanzen als solches definiert wird, dann wird nicht mehr auf die Qualität der Handlung selbst, sondern auf ihre soziale Bewertung abgestellt, die ihrerseits sehr unterschiedlich sein kann. Man entfernt sich auch leicht vom allgemeinen Sprachgebrauch und vom common sense, wenn man nur den entdeckten und verfolgten Mord als Verbrechen ansieht, nicht aber den unentdeckten (vgl. Kürzinger 1996, 19).
„Die Gotteslästerung und der Ehebruch sind seit 1969, die Pornographie seit 1975 grundsätzlich nicht mehr verboten (Entkriminalisierung);
Wirtschafts-, Umwelt- und Drogenkriminalität sind hingegen Beispiele für die Neukriminalisierung von Handlungen, die bis in die1970er Jahre hinein grundsätzlich straflos waren.
Die Entscheidung des Gesetzgebers wird durch (oft nicht vorhersehbare) Zeiteinflüsse bestimmt, insbesondere durch Veränderungen in der sozialen Bewertung von Handlungen: Was heute als „sozialschädlich“ bzw. als „moralisch verwerflich“ gilt, kann in einigen Jahren einer anderen Beurteilung unterliegen“, (Schwind, 2004, 4).
 
Aus diesen Gründen ist nach einem zeit- und raumunabhängigen Verbrechensbegriff gesucht worden.
   
Beispielsweise unternahmen die Vertreter des labeling approach einen  solchen Erklärungsversuch. Ausgangspunkt ihrer Betrachtungsweise ist die Tatsache, dass (nur) bestimmte abweichende Verhaltensweisen als „Verbrechen“ definiert werden. „Dabei ist es nicht immer so, dass sich die beiden Begriffe „Verbrechen“ und „strafrechtliche Bezeichnung“ auch decken. Das soziale Unwerturteil über eine Handlung muss nicht mit der Einschätzung durch das Strafrecht einhergehen. Es ist aber schwierig festzustellen, was man im soziologischen Sinne als Verbrechen verstehen will, weil die Kriterien hierfür nicht eindeutig sind“ (Kürzinger, 1996, 19).
Die Unterscheidung ist wiederum  normativ, das Problem wird also nur verlagert.
 
Folgt man der Argumentation von Fritz Sack (der labeling approach wurde von ihm sozusagen eingeführt), dann ist nur das Kriminalität, was von den sozialen Instanzen als Kriminalität definiert wird. „Damit aber wird nicht mehr auf die Qualität einer Handlung selbst, sondern auf ihre soziale Bewertung abgestellt. Diese kann sehr unterschiedlich sein. Folgt man der Argumentation von Sack dann ist der entdeckte und verfolgte Mord ein Verbrechen, der unbemerkte aber keine Kriminalität. Insoweit versagen diese Kategorien soziologischer Verbrechensbestimmung  völlig, weil es nicht von der Handlung selbst abhängen soll, ob es sich um Kriminalität handelt, sondern von der Reaktion hierauf“, Kürzinger 1996, 19.
''Natürlicher Verbrechensbegriff:''
===Natürlicher Verbrechensbegriff===
Im Jahre 1885 hatte Garofalo in seinem Buch „Criminologia“ (die Lehre vom natürlichen Verbrechen, „delitto naturale“) versucht, einen „natürlichen Verbrechensbegriff“ zu schaffen.  
Im Jahre 1885 hatte Garofalo in seinem Buch „Criminologia“ (die Lehre vom natürlichen Verbrechen, „delitto naturale“) versucht, einen „natürlichen Verbrechensbegriff“ zu schaffen. Hierunter waren Handlungen zu verstehen, die zu allen Zeiten und bei nahezu allen Völkern und Kulturen als verwerflich bzw. sozialschädlich eingestuft und entsprechend bestraft worden waren. Gemeint war hier die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgüter, insbesondere Handlungen, die gegen tiefste Empfindungen gegen die Redlichkeit und des Mitleids verstoßen. Delikte wie z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung und  Diebstahl. Diese „kriminellen Handlungen“ wurden „delicta mala per se“ (Verbrechen, die in sich schlecht sind) genannt -  im Gegensatz zu „delicta mere prohibita“. Das sind Handlungen, die nur deshalb als verwerflich gelten, weil sie verboten sind. Garofalo stand mit seinen Überlegungen auch in der Tradition der katholischen Theologie.
Hierunter waren Handlungen zu verstehen, die zu allen Zeiten und bei nahezu allen Völkern und Kulturen als verwerflich bzw. sozialschädlich eingestuft und entsprechend bestraft worden waren. Gemeint war hier die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgüter, insbesondere Handlungen, die gegen tiefste Empfindungen gegen die Redlichkeit und des Mitleids verstoßen. Delikte wie z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung und  Diebstahl. Diese „kriminellen Handlungen“ wurden „delicta mala per se“ (Verbrechen, die in sich schlecht sind) genannt -  im Gegensatz zu „delicta mere prohibita“. Das sind Handlungen, die nur deshalb als verwerflich gelten, weil sie verboten sind. Garofalo stand mit seinen Überlegungen auch in der Tradition der katholischen Theologie.


''kriminologischer Verbrechensbegriff:''
===Kriminologischer Verbrechensbegriff===


In den USA und Großbritannien  wurden Längsschnittstudien unternommen, die nach den Unterschieden zwischen Tätern und Nichttätern in ihrem Sozialprofil, ihrem Sozialverhalten oder in ihrer psychischen und selbst physischen Konstitution suchten.
In den USA und Großbritannien  wurden Längsschnittstudien unternommen, die nach den Unterschieden zwischen Tätern und Nichttätern in ihrem Sozialprofil, ihrem Sozialverhalten oder in ihrer psychischen und selbst physischen Konstitution suchten.
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Es ging um gesellschaftlich definierte Verhaltensdifferenz – die Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen. „Diese Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen war nicht neu, denn  so hatten ja auch schon manche Einwände gegenüber Lombroso  in dessen eigener Schule gelautet. Neu aber war die systematisch erarbeitete Konzeption eines normativ begründeten Verhältnisses zwischen Konformität und Abweichung bzw. Kriminalität“, SESSAR 1998, 434.
Es ging um gesellschaftlich definierte Verhaltensdifferenz – die Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen. „Diese Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen war nicht neu, denn  so hatten ja auch schon manche Einwände gegenüber Lombroso  in dessen eigener Schule gelautet. Neu aber war die systematisch erarbeitete Konzeption eines normativ begründeten Verhältnisses zwischen Konformität und Abweichung bzw. Kriminalität“, SESSAR 1998, 434.
SESSAR (1998, 435) beschreibt den kriminologischen Verbrechensbegriff als einen Prozess – ein Prozess des Beobachtens. „Die Kriminologie etwa untersucht, wie Kriminalität durch aufwendige Prozesse von Zuschreibung und Nichtzuschreibung zustande kommt. Sie kann dabei nichts als rechtlich vorgegeben hinnehmen, sondern wird das Strafrecht als Schablone oder Rahmen begreifen, um zu beobachten, was hineingepasst  wird und was nicht bzw. wie solche Rahmen verändert werden, damit Verhaltensweisen hineinpassen oder nicht. Und vielleicht hat sie Glück und kommt hinter das „warum“ und das „warum nicht“.
SESSAR (1998, 435) beschreibt den kriminologischen Verbrechensbegriff als einen Prozess – ein Prozess des Beobachtens. „Die Kriminologie etwa untersucht, wie Kriminalität durch aufwendige Prozesse von Zuschreibung und Nichtzuschreibung zustande kommt. Sie kann dabei nichts als rechtlich vorgegeben hinnehmen, sondern wird das Strafrecht als Schablone oder Rahmen begreifen, um zu beobachten, was hineingepasst  wird und was nicht bzw. wie solche Rahmen verändert werden, damit Verhaltensweisen hineinpassen oder nicht. Und vielleicht hat sie Glück und kommt hinter das „warum“ und das „warum nicht“.
Präzise gesagt: Es geht nicht nur um die Norm, sondern um die Unterscheidung zwischen Norm und ihrer Durchsetzung.
Strafnormen geben nicht von vornherein zu erkennen, ob oder wie sie verletzt sind. Es bedarf einer Kommentierung in dem Strafgesetzbuch. „Darüber hinaus ist von ihnen nicht zu erfahren, ob ihre Verletzungen auch entsprechende Reaktionen im Sinne einer irgendwie gearteten Kongruenz von Erwartung und Enttäuschung auslösen. Daher – und dies hat nur sehr eingeschränkt mit den Bedingungen des förmlichen Strafprozesses zu tun – wird die Norm durch einen zweiten Satz von Regeln ergänzt, der ihr im Anwendungsfalle (also auch im Nichtanwendungsfalle) die entscheidungsleitende Grammatik einsetzt“ Sessar 1998, 435.
In diesem Zusammenhang wir von einem „second code“ gesprochen. Dieser verfolgt eigene Gesetzmäßigkeiten, wonach die Gesellschaft „Recht durch ihr Handeln und nicht durch ihre Erlasse schafft“. Hier kommt der labeling approach ins Spiel.
„Differenziert wurde zwischen Definierern und Definierten, Erkenntnisgegenstand  wurden die zwischen ihnen ablaufenden Interaktionsprozesse, in denen soziale Ereignisse in der Weise verarbeitet werden, dass sich hieraus abweichendes oder kriminelles Verhalten ergibt oder nicht ergibt. Bedarf es also jeweils definitorischer Anstrengungen, dann haben wir es auch nicht mehr mit reinen Beschreibungen zu tun, sondern – und eben dies macht den zweiten Code aus – mit Zuschreibungen oder Zurechnungen (oder Zutrauen)“, SESSAR, 1998, 435.
„Festzuhalten ist, dass die Kriminologie ihr Heil nicht in der Abweichung als neuem Referenzbegriff gesucht hat, sondern dass sie mit dessen Hilfe dem Verbrechen seinen Prozesscharakter gegeben hat; in den Mittelpunkt rückte die Kriminalisierung“, SESSSAR, S. 437.
„Die Differenzierung zwischen der Schwere der strafbaren Handlung geht weit in die Rechtsgeschichte hinein. Schon in der Constitutio Criminalis Carolina wird zwischen causae maiores und causae minores getrennt; diese Trennung war für die Form der Bestrafung ausschlaggebend: Lebens-, Leibes- und Ehrenstrafen oder Geldbuße und kurzzeitiges Gefängnis.
Das Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871 unterschied zwischen 3 Stufen der Schwere der Straftat: Verbrechen, Vergehen und Übertretung. Dabei orientierte es sich an dem französischen Code Pénal (crime, délit, contravention). Dabei hatte diese Differenzierung wiederum Einfluss auf die Strafarten; für Verbrechen konnten u.U. auf Todesstrafe oder Zuchthaus erkannt werden, für Vergehen Gefängnis und für Übertretungen in der Regel nur Geldstrafen oder mit kurzer Haft.
Mit der Strafrechtsreform von 1975 ging die Trichotomie (Dreiteilung) in die Dichotomie (Zweiteilung) auf; fortan gab es nur noch Verbrechen und Vergehen als Straftaten. Die Übertretungen wurden abgeschafft und das Ordnungswidrigkeitenrecht wurde als teilweiser Ersatz geschaffen. Strafen wie Zuchthaus oder Gefängnis wurden ebenfalls abgeschafft und eine einheitliche Freiheitsstrafe wurde geschaffen, so dass die Bedeutung der Zweiteilung stark abgenommen hat. Auch Verbrechen können nun durch Geldstrafen gesühnt werden.
Die Aufrechterhaltung der Zweiteilung ist daher umstritten. Die praktische Bedeutung ist gering“ (www.wikipedia.de)
Die Problematik betrifft die Wandlungen des von Gesetzgeber und Strafrechtspflege erachteten Verhaltens. Prozesse der Über- Ent- und Neukriminalisierung und ihre Ergebnisse werden nicht zuletzt an der Zahl und Zusammensetzung der Rechtsbrecher sowie des Umfanges und der Struktur der Kriminalität beeinflusst.<br>
In neuerer Zeit bilden vornehmlich Selbstverletzung, Selbsttötung und Sterbehilfe, Umwelt und Verkehrsdelikte, Drogenmissbrauch, Schwangerschaftsabbruch, Familien- und Sexualdelikte einerseits sowie Staatsschutz- und Demonstrationsdelikte andererseits den Gegenstand rechtspolitischer Auseinandersetzung um die Reichweite der Kriminalisierung.<br>
Generell kann man die Tendenzen in der Bewegung des Verbrechensbegriffs danach unterscheiden, ob der Bereich der Strafbarkeit erweitert oder eingeschränkt wird. Je nach Entwicklungsrichtung spricht man von Neu- oder Entkriminalisierung. Problematischer Ausgangspunkt ist die häufige Klage, dass der Bereich des für strafbar erklärten Verhaltens übermäßig zugenommen habe. Man spricht deshalb von Überkriminalisierung.<br>
<br>Überkriminalisierung
Die Schwächung der dem Recht vorgelagerten sozialen Normensysteme, das Versagen herkömmlich-informeller Sozialkontrolle in Familie und Gemeinde, aber auch neue sozialkulturelle Bedürfnisse haben die Verrechtlichung (vgl. Kaufmann 1985, 185 f.; Bock 1988, 11 ff., 20 ff., zit. nach Kaiser 1997) und deren Absicherung mit den Mitteln des Strafrechts notwendig gemacht.
„Das Straßenverkehrsrecht und dessen strafrechtliche Bewehrung sind dafür kennzeichnend.
Sinngemäß das gleiche gilt für die moderne Wirtschaft und die Stützung wirtschaftspolitischer Ziele durch das Wirtschaftsstrafrecht. Vor allem deshalb steigt die Zahl der strafrechtlich bewährten Normen fortlaufend, auch wenn der Kernbestand des Verbrechens zeitüberdauernd verhältnismäßig gleich bleibt.<br>
Eine der gravierendsten Ursachen dieser Erscheinung, so Kaiser, 1997,  liegt in dem schon angedeuteten Sachverhalt, dass in einer Welt wachsender Verstädterung, Mobilität und Anonymität das Recht als eines der wichtigsten Mittel erscheint, um in der Unübersichtlichkeit und mangelnden Durchschaubarkeit sozialer Verhältnisse als Steuerungsinstrument zu wirken.
Das Gefährdungsstrafrecht gilt geradezu als „Merkmal der Risikogesellschaft" (Müller-Dietz 1992, 104, zit. nach Kaiser, 1007,133). Das Recht verspricht überdies einen hohen Grad an Rationalität, Gleichheit und Verlässlichkeit (Rechtssicherheit).
Überdies wird seit mehr als einhundertfünfzig Jahren auf den notwendig fragmentarischen Charakter des Strafrechts hingewiesen. Denn das Strafrecht stößt bei massenhafter Begehung von Delikten an die eigene Funktionsgrenze. Gleichwohl sehen wir uns in der Gegenwart einer Erscheinung gegenüber, die man als Überkriminalisierung bezeichnen kann (Kadish 1967, zit. nach Kaiser 1997, 133). Dieses Phänomen widerspricht der Behauptung, wonach die Geschichte des Strafrechts die seiner Abschaffung sei. Doch in dem Übermaß an Strafe leidet das Strafrecht Not.
Entkriminalisierung<br>
Durch die Tendenz zur Überkriminalisierung, die einen Kriminalitätsanstieg mit einschließt, werden die Träger der Verbrechenskontrolle fortlaufend überfordert.
Der Gesetzgeber versucht zwar, durch Entkriminalisierung der Lage Herr zur werden – dies geschieht aber regelmäßig mit einiger Verzögerung bzw. Verspätung.
„Denn seit langem zählt zu dem gesicherten Bestand der Strafrechtswissenschaft und den festen Erfahrungen der Rechtspolitik, dass im Übermaß des Strafens das Strafschwert stumpf wird“, Kaiser 1997, 134. <br>
Über die notwendige Beschränkung des Strafrechts besteht prinzipiell Einigkeit. Auch fehlt es nicht an strafrechtlichen Analysen und rechtspolitischen Vorstellungen, in welcher Weise die strafrechtlichen Tatbestände, und d.h. der Umfang strafbaren Verhaltens, einzuschränken seien. „Dies um so mehr, als Migration, Straßenverkehr, Umwelt und Wirtschaft sowie die Intensivierung der internationalen Kommunikation mit der wellenartigen Verbreitung von Rauschmitteln für neue Verbrechensprobleme gesorgt und die Praxis an die Grenzen ihrer Kontrollmöglichkeiten erinnert haben. Im Hinblick auf die begrenzte Kapazität der Verfolgungsbehörden hat man schon in den fünfziger Jahren nach neuen Lösungsmöglichkeiten gesucht. Begriff und Forderung der Entkriminalisierung waren alsbald geboren, in der Bundesrepublik Deutschland zunächst auf den Bereich der Verkehrsdelinquenz bezogen. Weitere Anwendungsfälle lieferten Sexual-, Demonstrations- und Drogendelinquenz sowie Schwangerschaftsabbruch und ganz allgemein die Jugendkriminalität (eingehend Roos 1981; ferner Schöch 1993, jeweils m.N.). Außerdem wurde die Verfolgung der Kleinkriminalität vom Antrag der Verletzten abhängig gemacht“, Kaiser 1997, 134.<br>
Aber der Gesetzgeber scheint nur schleppend und wenig flexibel der Entwicklung zu folgen.
Neukriminalisierung
„Das Grundproblem jeder Neukriminalisierung besteht darin, dass anfangs die Strafverfolgungsbehörden gegen eine häufige Ignorierung des Verbots ankämpfen müssen (z.B. bei der Verkehrstrunkenheit oder im Verwaltungsrecht bei der Pflicht, in Kraftfahrzeugen während der Fahrt einen Sicherheitsgurt anzulegen). Deshalb geht es zunächst einmal um die Entwicklung einer gemeinsamen Wertüberzeugung, wonach das neukriminalisierte Verhalten mit einem hohen Unwerturteil belegt wird.<br>
Dies allerdings zu verdeutlichen, fällt besonders schwer, wenn es an einem konkreten Opfer fehlt (Arzt 1981, 82, zit. nach Kaiser 1997).
„Die Gründe zur Neukriminalisierung liegen hauptsächlich in dem Versagen herkömmlich informeller Kontrollstrukturen und dem daraus folgenden Bestreben nach Verrechtlichung sowie gezielt politischer Steuerung, namentlich im Drogen-, Straßenverkehrs-, Wirtschafts- und Umweltstrafrecht sowie im Minderheitenschutz. Es ist nicht ersichtlich, wie die moderne Gesellschaft mit Industrialisierung, Urbanisierung, wirtschaftlicher Verflechtung und dichtem Straßenverkehr sowie mit ihrer grundsätzlichen Angewiesenheit auf „Systemvertrauen" zumindest temporär ohne die Normen und Mittel des Strafrechts auskommen könnte. Selbst wenn man in diesen Feldern auf die Funktion der Normverdeutlichung und schmerzlichen Sanktionen des Kriminalrechts verzichten könnte, so doch ohne Gefährdung des Ganzen offenbar nur dann, wenn fühlbar disziplinierende Sanktionen anderer Subsysteme der Sozialkontrolle als funktionale Äquivalente zur Verfügung stehen“, Kaiser 1997, 135
„Die häufige Rechtsgutferne äußert sich gesetzestechnisch in der Verwendung abstrakter Gefährdungstatbestände. Hier bleiben die Rechtsgüter nicht nur äußerst vage, sondern riskieren durch Verzicht auf das Individualopfer auch mangelnde Kontrolle und Durchsetzung der entsprechenden Strafrechtsnormen. Hier setzt denn auch die neuere Kritik am Gefährdungsstrafrecht an.<br>
Im übrigen geht es darum, auch im Bereich des kriminalisierten Verhaltens die Chancengleichheit herzustellen. Das Strafgesetzbuch soll nicht nur auf unerwünschte Verhaltensweisen der sozialen Unterschicht zugeschnitten sein, sondern auch sozialschädliche Handlungen der Mittel- und Oberschicht erfassen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang besonders an die sogenannte „Kriminalität der Mächtigen", partiell auch als Staats- und Regierungskriminalität bezeichnet. Sie hat Wissenschaft und Praxis mitunter beschäftigt und gelegentlich zur Neukriminalisierung wie im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts oder im Falle der Geldwäsche zur Bekämpfung organisierten Verbrechens Anlass geboten. Doch äußern sich Widersprüche und Strukturkonflikte, insbesondere die Überbürdung des strafrechtlichen Kontrollsystems mit immer neuen Aufgaben, ebenso in Neukriminalisierung wie in De-jure- und De-facto-Entkriminalisierung“, Kaiser 1997,136.
====Zusammenhang mit der Realität====
Konzepte setzten sich gebrochen in Kriminalisierungsprozessen der Praxis fort, werden verstärkt, umgeleitet und Theorien der Kriminalisierung und deren partielle Übertragung in gesetzgeberische abgeschwächt. Sie gewinnen eigene Strukturen. Dafür erscheinen die folgenden 5 Determinanten bedeutsam:
*Art und Umfang der Strafanzeigen als „input“
*Kapazität der Strafverfolgungsbehörden und die Verfahrensökonomie
*Entscheidungsverhalten von Verbrechensopfer, Polizei und Staatsanwaltschaft
*Handlungsleitende Prinzipien wie Legalität oder Opportunität, Gleichheit,  Fairness, Verhältnismäßigkeit und
*Ewartbare Konsequenzen für Tat (-geographie), Täter (Schicht), Opfer und Gesellschaft
Sie prägen die Strategien, insbesondere der Tataufklärung, und die Ergebnisse der Verbrechensverfolgung. Dabei geht es hier im Unterschied zu anderen Lehrtexten nicht um die Ausbreitung der Befunde von Polizei- und Justizforschung per se oder gar um die Beschreibung des Gesamtsystems der Strafjustiz, sondern um den „Ablauf der Strafverfolgung“ insoweit, als er für unser Wissen über das Verbrechen relevant erscheint.
====Kriminologische Relevanz====
Das Verbrechen wird in zwei Haupttypen der (soziologischen) Theorie des Verbrechens unterschieden: <br>
Typ I orientiert sich vornehmlich an DURKHEIM, <br>
Typ II an SUTHERLAND <br>
(Knospe/Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie, 1985)
I. Nicht nur unter Kriminologen ist  die Ansicht weit verbreitet, dass das Verbrechen etwas Pathologisches sei. Im Gegensatz zu dieser Ansicht wird der Standpunkt vertreten, dass das Verbrechen etwas durchaus Normales sei; ein integrierender Bestandteil jeder funktionierenden Gesellschaft. Durkheim schreibt: „Wenn eine verbrechensfreie Gesellschaft also eine Unmöglichkeit ist, dann ist das V. nicht nur ein normales, sondern ein notwendiges, sogar nützliches Phänomen.“                Die Existenz des Verbrechens ist gleichsam der Preis, den man für ein dynamisches, sich entwickelndes Gemeinwesen und die Freiheit des Individuums zahlen muss. Die Bedingungen, an die es geknüpft ist, sind ihrerseits für eine normale Entwicklung des Rechts und der Sitte unentbehrlich.<br>
„Es habe noch nie eine Gesellschaft gegeben, in der kein Verbrechen existiere.  Es habe überall und jederzeit Menschen gegeben, die durch die Begehung eines V. eine Strafe als Repressionsmittel bekommen haben.“
<br>II. Die zweite Theorie des Verbrechen beruht auf dem Prinzip, verbrecherisches Verhalten und Handeln sei erlernt und Produkt eines Vergesellschaftungsprozesses, des Zusammenlebens und Zusammenarbeitens mit Personen, die Verbrechen begehen. <br>
Negativ ausgedrückt: das V. lässt sich aus den Wechselbeziehungen zwischen dem Verbrecher und seiner sozialen Umwelt erklären und nicht aufgrund biologischer oder psychologischer Kategorien.
(Die Frage „Wie wird das Individuum zum Verbrecher?“ versucht die Theorie in 7 Hauptsätze zu beantworten; siehe hierzu Knospe/Bernsdorf, Wörterbuch der Soziologie. <br>
Die Beantwortung der o. g.  Frage erklärt jedoch nicht das Phänomen, warum A. Schulze und H. Schmidt hehlen und stehlen und ihre Brüder Ernst und Gustav, die dem gleichen Milieu angehören, nicht.
Definition und Wahrnehmung des Verbrechens in ihrer Bedeutung für die Konstituierung der Verbrechensrealität (Kaiser, 1997,)
„Die Relevanz von Selektionen und Auswahlprozessen liegt vor allem in den kriminologischen, aber auch rechts- und sozialpolitischen Konsequenzen.
Diese bestehen
*in den Selektionskriterien und
*in dem Problem der Gleichheit, ferner
*in der Aussagekraft der Kriminalstatistik, in
*der Funktion des Strafverfahrens, einschließlich
*der Tätigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft für die 
*kriminologische Untersuchung.
Sie sind schließlich wichtig wegen der mit ihnen angedeuteten Dynamisierung der kriminologischen Betrachtungsweise, verglichen mit der Statik kriminologischer Frühforschung.
Die Wahrnehmung der Selektionsaufgaben wird von verschiedenen Gesichtspunkten bestimmt.
Neben Opferbelangen, Resozialisierungsnotwendigkeiten beim Täter und generalpräventiven Interessen schlagen auch verfahrensökonomische Gesichtspunkte, insbesondere solche der begrenzten Kapazität, durch.<br>
Diese vielschichtigen Kriterien bestimmen die differentielle Wahrscheinlichkeit kriminalrechtlicher Sanktionierung. Kennt die Strafrechtspflege sowohl regional und national als auch international unterschiedliche Handlungsmuster, so versucht sie doch überall, unter den Rechtsbrechern auszulesen. Dabei lassen sich Regelhaftigkeiten erkennen. Je leichter und harmloser das festgestellte Delikt erscheint, desto mehr gehen zusätzliche Merkmale in den Selektionsprozess ein und desto größer ist die Selektionsmacht (vgl. Kürzinger 1978, 158 ff. zu den deliktstypischen Unterschieden von Gewalt- und Eigentumsstraftaten).
Je schwerer und eindeutiger hingegen die Straftat zu beurteilen ist, desto mehr treten ausserdeliktische Faktoren, die in Persönlichkeit und Bezugsbereichen des Rechtsbrechers begründet liegen, zurück. (Eine wichtige Ausnahme bilden lediglich die quantitativ geringen Fälle des § 20 StGB.) <br>
Nur auf diese Weise lässt sich wohl der Sachverhalt deuten, dass trotz auseinandergehender Kontrollstile im innerdeutschen wie im europäischen Vergleich die relativen Anteile der Strafgefangenen verhältnismäßig dicht beieinander liegen. Da vor allem im breiten Mittelfeld der Rechtsbrecher diagnostische Zuschreibungsprozeduren und darauf gestützte Prognosen über die kriminalrechtliche Handhabung entscheiden, wächst das Bedürfnis nach Kontrolle derartiger Entscheidung und nach Festigung der rechtsstaatlichen Garantien. Die differentiellen Handlungsmuster der Kontrollinstanzen reichen nicht so weit und prägen nicht so stark, dass sie das Gefälle in der Kriminalitätsbelastung von Männern zu Frauen, von jungen zu alten Menschen sowie von stark urbanisierten Bereichen zum Land völlig umgestalten würden. Vielmehr deuten die gleichförmigen Strukturen, unabhängig von Zeit und Raum, an, dass es offenbar systemneutrale und selektionsindifferente Faktoren in der Kriminalität gibt. Diesen müssen auch Polizei und Strafrechtspflege Rechnung tragen, wenn sie im Gesamtsystem der Verbrechenskontrolle nicht dysfunktional wirken wollen.“


== Literatur==
== Literatur==
*Durkheim, Émile (1893/1977) Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt: Suhrkamp.


* Bernd-Dieter Meier: Kriminologie, C.H. Beck, München 2003
* Bernd-Dieter Meier: Kriminologie, C.H. Beck, München 2003
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Aktuelle Version vom 21. Oktober 2012, 07:05 Uhr

Eine schwere Straftat wird unter Juristen ebenso wie in der Öffentlichkeit als Verbrechen bezeichnet (speziell unter Juristen häufig in Abgrenzung zum Vergehen als dem Fachausdruck für weniger schwere Straftaten). Dabei kommt es nicht auf die einzelne Aktion, sondern auf die abstrakt bestimmte Schwere des Tatbestands an, der mit der Handlung erfüllt wird.

Etymologie

Das mittelhochdeutsche Wort "verbrechen" bezeichnete ein bis zur Zerstörung oder Vernichtung intensiviertes "Brechen". In der Rechtssprache entwickelten sich zunächst Ausdrücke wie das "Brechen des Friedens" (oder eines Eides oder eines Gesetzes). Ab dem 17. Jahrhundert gab es dann auch die Substantive "Verbrechen" und "Verbrecher" (die zunächst auch für leichtere Übertretungen benutzt wurden). Ab dem 18. Jahrhundert findet sich das Verb "verbrechen" nur noch mit einem allgemeinen Objekt ("etwas verbrechen").

Definitionen: Formelle Verbrechensbegriffe

Deutschland

Die Legaldefinition des Verbrechens nach § 12 Absatz 1 StGB lautet:

  • "Verbrechen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind." (In § 12 Absatz 2 und 3 heißt es dann erläuternd: "Vergehen sind rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit einer geringeren Freiheitsstrafe oder die mit Geldstrafe bedroht sind. Schärfungen oder Milderungen, die nach den Vorschriften des Allgemeinen Teils oder für besonders schwere oder minder schwere Fälle vorgesehen sind, bleiben für die Einteilung außer Betracht.").

Als Verbrechen gelten deshalb in Deutschland z.B.: § 80 StGB: Vorbereitung eines Angriffskrieges; § 81 Hochverrat gegen den Bund; § 82 Hochverrat gegen ein Land; § 83 Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens; § 94 Landesverrat; § 96 Landesverräterische Ausspähung; § 100 Friedensgefährdende Beziehungen; § 105 Nötigung von Verfassungsorganen; § 129a Bildung terroristischer Vereinigungen; § 129b Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland; § 146 Geldfälschung; § 152b Fälschung von Zahlungskarten mit Garantiefunktion und Vordrucken für Euroschecks; § 154 Meineid; § 176a Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern; § 176b Sexueller Missbrauch von Kindern mit Todesfolge; § 177 Sexuelle Nötigung, Vergewaltigung; § 178 Sexuelle Nötigung und Vergewaltigung mit Todesfolge; § 211 Mord; § 212 Totschlag; § 213 Minder schwerer Fall des Totschlags, § 226 Schwere Körperverletzung; § 227 Körperverletzung mit Todesfolge; § 234 Menschenraub; § 234a Verschleppung; § 239a Erpresserischer Menschenraub; § 239b Geiselnahme; § 244a Schwerer Bandendiebstahl; § 249 Raub; § 250 Schwerer Raub; § 251 Raub mit Todesfolge; § 252 Räuberischer Diebstahl; § 255 Räuberische Erpressung; § 260a Gewerbsmäßige Bandenhehlerei; § 306 Brandstiftung; § 306a Schwere Brandstiftung; § 306b Besonders schwere Brandstiftung; § 306c Brandstiftung mit Todesfolge; § 307 Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie; § 308 Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion; § 309 Missbrauch ionisierender Strahlen; § 310 Vorbereitung eines Explosions- oder Strahlungsverbrechens; § 313 Herbeiführen einer Überschwemmung; § 314 Gemeingefährliche Vergiftung; § 316a Räuberischer Angriff auf Kraftfahrer; § 316c Angriffe auf den Luft- und Seeverkehr; § 339 Rechtsbeugung; § 343 Aussageerpressung; § 344 Verfolgung Unschuldiger; § 345 Vollstreckung gegen Unschuldige. Im Völkerstrafrecht: Völkermord (§ 6 VStGB).

Als Verbrechen gelten aber auch folgende, im Nebenstrafrecht geregelte Tatbestände: Unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln (§ 29 a Betäubungsmittelgesetz (BtMG), Gewerbsmäßiger unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln (§ 30 BtMG) Bandenmäßiger gewerbsmäßiger unerlaubter Handel mit Betäubungsmitteln (§ 30 a BtMG), Verbreitung und Herstellung von Selbstladewaffen (§ 52 a Waffengesetz), Gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen von Ausländern (§ 92 b Ausländergesetz), Gewerbs- und bandenmäßige Verleitung zur missbräuchlichen Asylantragstellung (§ 84 a Asylverfahrensgesetz), Gewerbs- oder bandenmäßige Steuerhinterziehung in großem Ausmaß (§ 370a AO), § 34 Abs. 4 Außenwirtschaftsgesetz in Verbindung mit § 69 Buchst, h Abs. 1 Nr. 2 Außenwirtschaftsverordnung §§ 19 bis 20a Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) § 22a KWKG.

Österreich und Schweiz

  • Nach § 17 des österreichischen Strafgesetzbuches (Einteilung der strafbaren Handlungen) sind Verbrechen „vorsätzliche Handlungen, die mit lebenslanger oder mit mehr als dreijähriger Freiheitsstrafe bedroht sind“ (§ 17 StGB); alle übrigen strafbaren Handlungen sind Vergehen. Im Unterschied zur deutschen Regelung sind in Österreich auch der Versuch und die Bestimmung („Anstiftung“) eines Vergehens strafbar. Weiters ist die Zuständigkeit der Gerichte anders geregelt.
  • Das schweizerische Strafgesetzbuch (Stand Januar 2010) definiert Verbrechen als Taten, die mit Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren bedroht sind (Art. 10 Abs. 2 StGB). Vergehen sind Taten, die mit bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bedroht sind (Art. 10 Abs. 3 StGB).

Einstufung als Verbrechen und Sanktionierung

Die Einstufung als Verbrechen hat Konsequenzen für die Art der Sanktionierung. Traditionell sind für Verbrechen die schwersten Strafen zulässig, für Vergehen nicht. Für besonders gravierende Verbrechen war das meist die Todesstrafe (daher auch die Bezeichnung Kapitalverbrechen; von lat. caput = das Haupt; Kapitalverbrechen = Verbrechen, das den Kopf kostet).

  • Die Peinliche Halsgerichtsordnung (1532) unterschied zwischen causae maiores (= Lebens-, Leibes- oder Ehrenstrafen) und causae minores (Geldbußen, kurze Haft).
  • Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) von 1871 unterschied zwischen drei Stufen der Schwere der Straftat: Verbrechen, Vergehen und Übertretung. Das entsprach dem unter Napoleon entstandenen französischen Code Pénal Impérial (1810), dessen Dreiteilung (crime - délit - contravention) das französische Strafrecht und die eng an das französische angelehnten Systeme (bspw. Belgiens) bis heute bestimmt. Für Verbrechen gab es u.U. die Todes- oder die Zuchthausstrafe, für Vergehen Gefängnis, für Übertretungen in der Regel Geldstrafe oder eine kurze Haftstrafe. Seit in Deutschland die Kategorie der Übertretungen ebenso wie die Institution des Zuchthauses abgeschafft wurde - und seit auch Verbrechen mit Geldstrafe gesühnt werden können - ist die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen zurückgegangen. Was bleibt, sind folgende Unterschiede: bei Verbrechen ist der Versuch immer strafbar (bei Vergehen hingegen nur, wenn das Gesetz es ausdrücklich bestimmt; vgl. § 23 Abs. 1 StGB); bei Verbrechen ist die versuchte Anstiftung grundsätzlich strafbar - die versuchte Anstiftung zu einem Vergehen hingegen nicht; strafbar ist auch die Androhung eines Verbrechens, nicht aber die eines Vergehens (§ 241 StGB); auch für den Verlust von Amtsfähigkeit und Wählbarkeit spielt nach § 45 Abs. 1 StGB die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen eine Rolle. Strafprozessual gilt: ein Angeklagter, dem ein Verbrechen vorgeworfen wird, hat nach § 140 Abs. 1 Nr. 2 der Strafprozessordnung (StPO) immer Anspruch auf einen Pflichtverteidiger, wenn er selbst keinen Verteidiger benennt; die Möglichkeiten, das Strafverfahren durch einen Strafbefehl (§ 407 StPO) oder wegen Geringfügigkeit etc. (§§ 153, 153a, 154d StPO) einzustellen, bestehen nur bei Vergehen, nicht bei Verbrechen.

Rechtssysteme ohne Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen

In einigen Rechtssystemen gibt es die Unterscheidung zwischen Verbrechen und Vergehen nicht oder nicht mehr. Beispielsweise existieren in den ebenfalls vom französischen Modell ausgehend entwickelten Strafrechten Italiens, Spaniens und der Niederlande für Bagatellstraftaten zwar weiterhin die Übertretungen (contravvenzioni, faltas bzw. overtredingen), alle anderen Straftaten werden dagegen einheitlich als „Delikte“ oder „Vergehen“ (delitti, delitos bzw. misdrijven) bezeichnet. Trotzdem werden auch hier schwere und weniger schwere Tatbestände entsprechenden Unterkategorien zugeordnet. In den meisten Rechtsordnungen des Common Law gibt es die Unterscheidung zwischen schweren oder „kapitalen“ Verbrechen (felonies) und weniger schweren kriminellen Verfehlungen (misdemeanors), wobei der eigentliche Ausdruck „Verbrechen“ (crime) im Englischen als Oberbegriff dient und systematisch eher der „Straftat“ als solchen entspricht.

Definitionen: Materielle Verbrechensbegriffe

"Nicht weil eine Tat ein Verbrechen ist, verurteilen wir sie, sondern weil wir sie verurteilen, ist sie ein Verbrechen" (Durkheim 1893/1977: 123).


Für die Kriminologie ist es oft unbefriedigend, einfach darauf abzustellen, ob eine Handlung vom Gesetzgeber mit (einer gewissen Mindest-) Strafe bedroht ist oder nicht, ist der strafrechtliche Verbrechensbegriff doch laut Kürzinger (Kriminologie 1982, 14) der „willkürlichen Verfügungsgewalt des Gesetzgebers ausgeliefert. Der Gesetzgeber entscheidet letztendlich welches Handeln kriminalisiert werden soll (Neukriminalisieren) und welches nicht oder nicht mehr (Entkriminalisieren)".

Materielle Verbrechensbegriffe lösen sich daher von den normativen Vorgaben des Strafrechts. Der Preis für diese Emanzipation ist allerdings hoch. Er besteht in der Schaffung einer Differenz zwischen dem, was das Gesetz als Verbrechen bezeichnet und dem, was die Nutzer eines materiellen Verbrechensbegriffs als Verbrechen bezeichnen. Und er besteht typischerweise auch in einer geringeren Bestimmbarkeit dessen, was denn nun als Verbrechen im materiellen Sinne anzusehen sei.

Naturrecht

Im Naturrecht wird eine Trennung in moralisch an sich verwerfliche Delikte (mala delicta per se) und schlicht verbotene Delikte (mala prohibita) vorgenommen. Diese Unterscheidung von natürlichen und bloß konventionellen Verbrechen spielt im strafrechtlichen Denken des Common Law noch heute eine bedeutende Rolle. Aber welche Handlungen sind "mala per se" und welche (nur) "prohibita"? Der Ehebruch und die Homosexualität, heute entkriminalisiert, galten lange Zeit als in sich verwerfliche und manchmal sogar als todeswürdige Straftaten. Ähnlich dramatisch der Wandel, den die Einstellung zur Gotteslästerung (entkriminalisiert seit 1969) und zur Pornographie (entkriminalisiert seit 1975) durchmachten. Welche Einstellung ist die richtige? Wie ließe sich bestimmen, ob der Ehebruch und die Homosexualität vielleicht doch "mala per se" darstellen? Wie ließe sich ein Naturrecht begründen, das unabhängig wäre vom souzio-kulturellen Wandel und vom Zeitgeist?

Rechtsgut

Die juristische Lehre vom Rechtsgut bezeichnet als Verbrechen solche Handlungen, die geeignet sind, geschützte Rechtsgüter in strafwürdiger Weise zu verletzen. Rechtsgüter sind dabei die rechtlich geschützten individuellen Interessen der Teilnehmer am Rechtsverkehr. Dieser „rechtsgutsbezogene“ Verbrechensbegriff ist enger als der natürliche Verbrechensbegriff und knüpft an die normativen Grundlagen einer Rechtsordnung (Gesellschaft) an. Er steht daher dem formellen Verbrechensbegriff schon recht nahe. Allerdings ist das Fundament der Rechtsgutslehre und damit die Bestimmbarkeit dessen, was legitimerweise Rechtsgut ist und was nicht, völlig unklar.

Sozialschädlichkeit

Aus den Sozialwissenschaften stammt der Begriff des antisozialen Verhaltens, das im Kontext sozial unangepassten oder abweichenden Verhaltens (Devianz) definiert wird. Der daraus erwachsende Verbrechensbegriff stützt sich auf ein sozialwissenschaftliches Verständnis vom Handeln des Einzelnen in der Gesellschaft. Doch auch hier fehlt eine solide normative Basis, um einen handhabbaren Verbrechensbegriff zu liefern. Was der eine für sozialschädlich hält, ist für den anderen vielleicht sozial nützliche Provokation oder Innovation. Auch dafür gibt es zahllose Beispiele. Die Orientierung am empirischen Status Quo des sozialen Unwerturteils ist auch nicht viel solider: "Das soziale Unwerturteil über eine Handlung muss nicht mit der Einschätzung durch das Strafrecht einhergehen. Es ist aber schwierig festzustellen, was man im soziologischen Sinne als Verbrechen verstehen will, weil die Kriterien hierfür nicht eindeutig sind“ (Kürzinger, 1996, 19). Die Unterscheidung ist wiederum normativ, das Problem wird also nur verlagert.

Folgt man der Labeling-Auffassung, dass nur das ein Verbrechen sei, was von den sozialen Instanzen als solches definiert wird, dann wird nicht mehr auf die Qualität der Handlung selbst, sondern auf ihre soziale Bewertung abgestellt, die ihrerseits sehr unterschiedlich sein kann. Man entfernt sich auch leicht vom allgemeinen Sprachgebrauch und vom common sense, wenn man nur den entdeckten und verfolgten Mord als Verbrechen ansieht, nicht aber den unentdeckten (vgl. Kürzinger 1996, 19).

Natürlicher Verbrechensbegriff

Im Jahre 1885 hatte Garofalo in seinem Buch „Criminologia“ (die Lehre vom natürlichen Verbrechen, „delitto naturale“) versucht, einen „natürlichen Verbrechensbegriff“ zu schaffen. Hierunter waren Handlungen zu verstehen, die zu allen Zeiten und bei nahezu allen Völkern und Kulturen als verwerflich bzw. sozialschädlich eingestuft und entsprechend bestraft worden waren. Gemeint war hier die Verletzung fundamentaler Gemeinschaftsgüter, insbesondere Handlungen, die gegen tiefste Empfindungen gegen die Redlichkeit und des Mitleids verstoßen. Delikte wie z. B. Mord, Raub, Vergewaltigung und Diebstahl. Diese „kriminellen Handlungen“ wurden „delicta mala per se“ (Verbrechen, die in sich schlecht sind) genannt - im Gegensatz zu „delicta mere prohibita“. Das sind Handlungen, die nur deshalb als verwerflich gelten, weil sie verboten sind. Garofalo stand mit seinen Überlegungen auch in der Tradition der katholischen Theologie.

Kriminologischer Verbrechensbegriff

In den USA und Großbritannien wurden Längsschnittstudien unternommen, die nach den Unterschieden zwischen Tätern und Nichttätern in ihrem Sozialprofil, ihrem Sozialverhalten oder in ihrer psychischen und selbst physischen Konstitution suchten. Die Soziologie abweichenden Verhaltens, die in den USA gegen Ende des zweiten Weltkrieges aufkam und die Ende der 1960er Jahre nach Europa kam, schien eine Konzeption zu bieten. Kriminalität wurde zum (zentralen) Teil von Abweichung, zu der Alkoholismus, Drogenkonsum, Prostitution, Homosexualität, Selbstmord, Obdachlosigkeit usw. gerechnet wurden. „Allerdings wurde der Verhaltensaspekt damit nicht aufgegeben, da viele der genannten Beispiele ebenfalls mit defizitären Persönlichkeitsmerkmalen assoziiert wurden und man die Forschung auf die Suche nach Antisozialität umstellte; ausgegangen wurde von substantiellen Gemeinsamkeiten zwischen Abweichung und Kriminalität mit der Möglichkeit des Übergangs oder von sie beide erklärenden Faktoren“ (SESSAR, 1998, 434). Durkheim (der Vater der modernen Kriminologie) hatte nicht nur die Normalität des Verbrechens herausgearbeitet, sondern dadurch auch ein soziales Verhaltesspektrum bewusst gemacht, das von konformem über abweichendes bis zu kriminellem Verhalten reichte. „Wesentlich war nun, dass die jeweiligen Definitionen auf gemeinsamen Wertvorstellungen, dem Kollektivbewusstsein beruhen sollten; sie konnten damit nicht dem Verhalten als solchem entnommen werden“, Sessar 1998, 434. Es ging um gesellschaftlich definierte Verhaltensdifferenz – die Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen. „Diese Abhängigkeit des Verbrechens von sozialen Wertentscheidungen war nicht neu, denn so hatten ja auch schon manche Einwände gegenüber Lombroso in dessen eigener Schule gelautet. Neu aber war die systematisch erarbeitete Konzeption eines normativ begründeten Verhältnisses zwischen Konformität und Abweichung bzw. Kriminalität“, SESSAR 1998, 434. SESSAR (1998, 435) beschreibt den kriminologischen Verbrechensbegriff als einen Prozess – ein Prozess des Beobachtens. „Die Kriminologie etwa untersucht, wie Kriminalität durch aufwendige Prozesse von Zuschreibung und Nichtzuschreibung zustande kommt. Sie kann dabei nichts als rechtlich vorgegeben hinnehmen, sondern wird das Strafrecht als Schablone oder Rahmen begreifen, um zu beobachten, was hineingepasst wird und was nicht bzw. wie solche Rahmen verändert werden, damit Verhaltensweisen hineinpassen oder nicht. Und vielleicht hat sie Glück und kommt hinter das „warum“ und das „warum nicht“.

Literatur

  • Durkheim, Émile (1893/1977) Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt: Suhrkamp.
  • Bernd-Dieter Meier: Kriminologie, C.H. Beck, München 2003
  • Hermann Mannheim: Vergleichende Kriminologie, Enke, Stuttgart 1966
  • Duden (2001), Das Herkunftswörterbuch, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich
  • Grimm (1956), Deutsches Wörterbuch, Leipzig
  • Knospe/Bernsdorf (1985), Wörterbuch der Kriminologie, Stuttgart
  • Kaiser G. (1997), Kriminologie, 10. Auflage, Heidelberg
  • Schwind H. D. (2004), Kriminologie / Eine praxisorientierte Einführung mit Beispielen, 14. Auflage, Heidelberg
  • Sessar (1998), Internationale Perspektiven in Kriminologie und Strafrecht, Berlin
  • Kürzinger J. (1995), Kriminologie / Eine Einführung in die Lehre vom Verbrechen, Stuttgart

VdP (Verlag Deutsche Polizeiliteratur) , 2002, Hilden

Weblinks


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