Suizid

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Etymologie

Lateinisch: sui caedere. Das heißt sich selbst (sui: seiner, gegen sich) totschlagen (caedere: entspricht dem heutigen Wortteil –zid und hat die Bedeutung „tötend“). Suicidium ist das Hauptwort und heißt Selbsttötung.

Definitionen

Selbstmord, Selbsttötung, Freitod oder Suizid ist die Beendigung des eigenen Lebens durch eine eigene Handlung oder durch das Unterlassen einer Handlung (z.B. Nichteinnahme lebenswichtiger Medikamente), bei der die sich selbst tötende Person der tödlichen Konsequenzen dieser Handlung bzw. deren Unterlassung bewusst ist. Diese Definition ist in Anlehnung an den soziologischen Klassiker Durkheim (ausführlicher unter Punkt 4.) zu verstehen. Suizid und Suizidversuch kann man unter den Oberbegriff Suizidalität (Neigung, Selbstmord zu begehen) fassen. Der Suizid hat ein letales Ende (tödlich), der Suizidversuch hat keinen letalen Ausgang. Heute scheiden sich die Meinungen, ob die häufigste Ursache für Suizid psychische Erkrankungen sind oder eher reale Lebensprobleme (z.B. Schmerzpatienten mit chronischen Schmerzen, Konsequenz einer Lebenskrise oder eines Gesichtsverlustes). Eine weitere Ursache kann große psychische Belastung sein, z.B. durch lang andauernden, übergroßen Stress. Beim Suizid von Kindern und Jugendlichen gibt es die Vermutung, dass die eigentliche Ursache Erziehungsfehler in der frühen Kindheit sind, die das Selbstwertgefühl des Kindes aushöhlen (mehr zu Ursachen siehe Haenel: Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizodologie, S. 84-130) Suizide sind im europäischen Kulturkreis und weltweit nicht selten. Suizid ist eine ernst zu nehmende Todesursache. Selbstmord steht als Todesart nach internationalen Statistiken an fünfter Stelle. Demnach bringen sich genauso viele Menschen um, wie sie an Verkehrsunfällen sterben (vgl. Lindner-Braun 1990). (Tabellarische Suizidraten nach Ländern weltweit siehe anderer Krimpedia-Artikel zu Suizid)

Begriffsgeschichte

In der wissenschaftlichen Fachsprache und bei dem professionellen Umgang mit Betroffenen wird meist das Wort Suizid benutzt. In der juristischen Fachsprache wird der Begriff Selbsttötung bevorzugt. Hier wird das Motiv unterstellt, man wolle sich wirklich töten, damit werden suizidale Handlungen, welche als Appell oder Erpressung dienen sollen ausgeschlossen. Mit dem juristischen Begriff der Selbsttötung soll nur der Vorgang, nicht das Motiv des Aktes (das steht ja schon fest) beschrieben werden. Selbstentleibung ist ein älterer, ähnlich juristisch neutraler Begriff wie Selbsttötung. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird oft das Wort Selbstmord benutzt. Der Ausdruck stammt aus einer Zeit, als im deutschsprachigen Raum die (versuchte) Selbsttötung noch moralisch verurteilt wurde, vergleichbar mit einem Mord, vor allem durch die katholische Kirche. Der Suizident würde sich demnach eines (moralischen) Verbrechens schuldig machen. Wissenschaftler lehnen diesen Ausdruck heute im Allgemeinen ab (vgl. auch Furrer/Widmer 1997), da bei einem Selbstmord die juristischen und moralischen Eigenschaften eines Mordes fehlen (Suizid ist heute straflos). Die Bezeichnung Freitod impliziert den Gedanken der freien Wahl des Individuums zwischen Leben und Tod. Was zunächst sinnvoll erscheint (freie Wahl des Individuums) wird ebenfalls von vielen Wissenschaftlern abgelehnt, da davon ausgegangen wird, dass Menschen, die einen Suizid beabsichtigen insofern in ihrer Wahl eingeschränkt sind, dass sie den Tod als einzig möglichen Ausweg sehen.

Benutzung des Begriffs in der Vergangenheit

Es wird sich hier auf die wissenschaftlich einlfußreiche Bearbeitung des Phänomens Suizid von Durkheim beschränkt. Bezüglich einer historischen Betrachtung von Selbstmord im Kontext von Religion und Philosophie siehe anderer Krimpedia-Artikel (Suizid), bzw. Furrer/Widmer: „Aspekte suizidaler Handlungen in den westlichen Gesellschaften, S. 3-5.

Durkheim und der Selbstmord als soziologisches Phänomen: „Der Selbstmord“ (1897)

Durkheim verstand schon damals Suizid als soziales Phänomen. Damit befreite der den Blick auf das Problem von dem ausschließend engen Fokus auf die individuelle Psyche und deren pathologischen Zustand. Er ermöglichte so Erklärungsansätze aus dem gesellschaftlichen, sozialen Feld. Der Eindeutigkeit der Alltagssprache in Bezug auf den Begriff Selbstmord begegnete Durkheim mit Skepsis. Seine Definition sollte eine wissenschaftliche sein. Der allgemein gebräuchliche Selbstmordbegriff sollte erweitert werden. Selbstmord verstand er als selbstbestimmte und bewusste Handlung des Täters. Der Tod des Selbstmörders sei die Folge seiner eigenen Handlung. Der Tod müsse nicht direkt auf die Selbstmordhandlung folgen. Der Selbstmörder müsse nicht identisch sein mit der Person, die die lebensbeendende Handlung durchführt. Die bewusst in Kauf genommene Todesstrafe könne z.B. dann auch als eine Form von Selbstmord bezeichnet werden (vgl. auch heute: „victim-precipitated homicide“(1) „Suizide-by-Cop“(2) ). Durkheim wollte in seine Definition von Selbstmord auch das Kriterium Wille zum Tod des Opfers (als soziologisch beobachtebare Kategorie in Form des Verzichts auf Leben) mit einbeziehen, um die Kategorie des Selbstmordes stärker von anderen menschlichen Todesfällen abzugrenzen, welche ebenfalls auf ein bestimmtes Handeln des Opfers zurückzuführen sind. Durkheims vollständige Definition von Selbstmord lautet:

„Man nennt Selbstmord jeden Todesfall, der direkt oder indirekt auf eine Handlung oder Unterlassung zurückzuführen ist, die vom Opfer selbst begangen wurde, wobei es das Ergebnis seines Handelns im voraus kannte.“ (Durkheim: Der Selbstmord, S.27)

Durkheim beobachtete, dass in verschiedenen europäischen Ländern unterschiedliche, aber langfristig relativ konstante Selbstmordraten zu verzeichnen waren. Nachdem er empirisch nachwies, dass Selbstmord nicht mit psychologischen oder anderen nicht-sozialen Faktoren zusammenhängt, also weder mit „Geisteskrankheit“, noch mit „Rasse“(Erblichkeit), noch mit „kosmischen Faktoren“(Klima und jahreszeitliche Temperaturen), noch mit „Nachahmung“, sah er die Abhängigkeit des Selbstmordes vom sozialen Umfeld als nachgewiesen. Von nun an spricht Durkheim von sozialer Selbstmordrate welche unabhängig von individualpsychologischen Faktoren zu verstehen ist. Sie variiert lediglich in Abhängigkeit von der sozialen Umwelt. Die Tendenz einer Gruppe zum Selbstmord (also ihre Selbstmordrate) ist als Kollektiverscheinung zu verstehen, welche in verschiedenen Variationen auftreten kann. Die Erklärung des Phänomens sucht Durkheim durch eine Typisierung von Selbstmord zu verdeutlichen, abhängig von der sozialen Umwelt bzw. vom sozialen Milieu. Der Grad der sozialen Integration der Gesellschaft (Grad der Verflechtung sozialer Netzwerke) und der Grad der gesellschaftlichen Regulierung (Maß, in dem Wünsche und Emotionen der Menschen durch gesellschaftliche Normen geregelt werden) sind für Durkheim leitend in der Typisierung des Phänomens Selbstmord. Er nimmt einen kurvenlinearen Zusammenhang (also U-förmig) zwischen dem Grad Sozialer Integration und Selbstmord an, sowie zwischen dem Grad gesellschaftlicher Regulierung und Selbstmord. Bei extrem hoher oder extrem niedriger sozialer Integration der Gesellschaft trete Suizid häufiger auf: „altruistischer Selbstmord“ bei zu hoher sozialer Integration (nicht genügend ausgeprägte Individualität als Folge, z.B. in „primitiven“ Gesellschaften, wo Selbstmord als gut betrachtet wird, bzw. die Nicht-Tötung mit Sanktionen belegt ist), „egoistischer Selbstmord“ bei zu niedriger Integration (z.B. in protestantischen Gemeinden, weniger stark sozial vernetzt, zu viel Individualität und dadurch individueller Drang zu Bildung und Wissenschaft ). Der Zusammenhang gelte ebenfalls für den Grad gesellschaftlicher Regulierung: extrem starke Regulierung fördere den „fatalistischen Selbstmord“ (z.B. bei Sklaven; überhöhte Regulierung des Lebens des Individuums), extrem schwache Regulierung provoziere den „anomischen Selbstmord“ (keine gesellschaftlich vorgegebene Begrenzung der zur Entgrenzung neigenden individuellen Bedürfnisse und Wünsche, diese können nicht erfüllt werden in der Realität => Anomie => Selbstmord, häufiger in modernen Industriegesellschaften). Auf Grund dieser soziologischen Differenzierungen bezüglich der Ursachen für Selbstmordraten versuchte Durkheim die national, bzw. gruppen-, kultur- oder gesellschaftsspezifisch unterschiedlichen Selbstmordraten zu erklären.

(1)Marvin Wolfgang (1958): Das Verhalten eines Mord-Tatopfers ist durch unbewusste Suizidwünsche motiviert; die Opfer provozieren andere zur Tötung um auf diesem Weg ihre unbewussten Wünsche zu befriedigen.

(2)Ähnliche psychische Dynamik wie„victim-precipitated homicide“; Personen die oft eindeutig suizidgefährdet sind, verhalten sich so, dass sie die zum Tatort gerufenen Polizisten dazu provozieren, zu töten, z.B. zur Selbstverteidigung. Die Opfer greifen die Polizisten an und bedrohen ihr Leben, den tödlichen Folgen ihrer Handlungen sind sie bewusst.

Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Sterbehilfe

Sterbehilfe oder Euthanasie bedeutet ursprünglich „schöner, leichter Tod“ (Haenel 1998). Im 19. Jhd. wurden darunter die Methoden verstanden, die den Todeskampf abkürzen und den Menschen von einer qualvollen Krankheit erlösen sollen. Um die Jahrhundertwende bildete sich die Differenzierung zwischen Tötung auf Verlangen (passive Sterbehilfe) und Tötung ohne Einwilligung (aktive Sterbehilfe) heraus. Heute existieren zahlreiche Sterbehilfegesellschaften in mehr als 30 Ländern (vgl. Haenel 1989), welche die passive Sterbehilfe unterstützen, zusammengeschlossen in einer „World Federation“ (Sitz: New York). Die Befürworter der passiven Sterbehilfe gründen ihre Meinung auf das Recht des Patienten, jede medizinische Maßnahme abzulehnen, also auf das Recht zur passiven Sterbehilfe (vgl. EXIT, Vereinigung für humanes Sterben, Schweiz). Die Vereinigungen sichern sich strafrechtlich über entsprechende Patientenverfügungen ab, da hier rechtlich die Grenzen zum Mord verschwimmen. Passive Sterbehilfe ist sowohl für Patienten bei Bewusstsein, als auch für bewusstlose Patienten vorgesehen: Text der Patientenverfügung der Vereinigung EXIT:

„sämtliche lebenserhaltende Maßnahmen sind zu unterlassen bzw. abzubrechen, wenn: der Sterbeprozess eingetreten ist oder unmittelbar bevorsteht; nur eine geringe Aussicht besteht, dass ich mein Bewusstsein wieder erlange; mein Gehirn mit großer Wahrscheinlichkeit schwer geschädigt bliebe; ich mit großer Wahrscheinlichkeit körperlich hilflos würde.“

Die passive Sterbehilfe weist Parallelen zum Suizid auf, immerhin hat der Patient seine Einwilligung zur Tötung gegeben. Die Schweizer Vereinigung für humanes Sterben EXIT bietet ihren Mitgliedern zudem eine „Freitodhilfe“ in Form einer Freitodanleitung (man beachte in diesem Kontext die Verwendung des Begriffes Freitod: es wird von der freien Entscheidung des Individuums für Leben oder Tod ausgegangen) an, welche nach einer 3-monatigen Mitgliedschaft abgegeben wird. Hierin werden Methoden für den Suizid empfohlen, z.B. medikamentös, durch physikalische Einwirkungen oder wie man das Scheitern eines Suizids verhindern kann. Suizid steht heute nicht unter Strafe, ebenso wenig die Hilfeleistung zum Suizid (vgl. Punkt 6). Schwierig wird es allerdings, wenn die Hilfeleistung aus eigennützigen Motiven erfolgt oder die freie Willensentscheidung des Suizidenten bezweifelt wird. EXIT sichert sich bezüglich ihrer Freitodanleitung juristisch ab, indem sie sicher geht, dass die letzte entscheidende Tathandlung beim Freitodwilligen liegt. Die tödliche Injektion wird z.B. zwar vom Arzt gesetzt, abdrücken muss aber der Patient selber. Würde der Arzt die Spritze betätigen wäre die Grenze zur Strafbarkeit überschritten.

Mord und Selbstmord

Mord ist die von der menschlichen Gemeinschaft insbesondere verurteilte, ungesetzliche und vorsätzliche Tötung von Menschen. Der Mord ist in der Regel Beziehungstat, besonders diese Beziehung ist Teil umfangreicher Behandlungen. Daneben ist aus psychologischer Sicht das Sinken der Hemmschwelle einen anderen Menschen zu töten ein relevanter Aspekt. Worauf bereits die Wortverwandtheit der beiden Ausdrücke hindeutet, wird von vielen Fachleuten als Tatsache betrachtet: zwischen Mord und Selbstmord besteht eine Beziehung. Es ließe sich durch Analysen des motivischen Hintergrunds nachweisen, dass sich Selbsttötung und Fremdtötung in weiten Bereichen überschneiden. Es fänden sich häufig gleiche Konfliktkonstellationen die die Tat hervorriefen. Der aggressive Gewaltakt löse den Konflikt/das belastende Problem indem sich die Spannung entlädt. Die Selbst- bzw. Fremdtötung bedeute das Ende eines unerträglichen Zustandes. Aggression wird von den Betroffenen als letztes Mittel der Kommunikation verstanden (vgl. Rasch: „Die Mord-Selbstmord-Alternative“ in: Schweizerisches Nationalkomitee für Geistige Gesundheit, Arbeitsgruppe für Kriminologie 1986). Durkheim (in: Der Selbstmord) beschäftigte sich bereits 1897 mit der Frage, ob die von ihm empirisch festgestellte, antagonistische Beziehung zwischen Mord und Selbstmord (-raten) darauf beruht, dass sich darin gegensätzliche Strebungen äußern, oder ob Mord und Selbstmord auf ein und dasselbe psychische Grundgeschehen zurückzuführen sind, das sich nur verschieden im Handeln manifestiert. Psychoanalytisch orientierte Forscher sprechen von einer engen Verflechtung von Mord und Selbstmord. Freud stellte fest, dass kein Neurotiker Selbstmordabsichten verspürt, der „solche nicht von einem Mordimpuls gegen andere auf sich zurückwendet.“ (Freud in: Trauer und Melancholie 1946). Auf ein Erlebnis des Objektverlustes (z.B. in Form des Verlassenwerdens durch den Partner) reagiere der Betroffene mit Hassgefühlen. Da das Objekt – trotz des Hasses und des Verlustes– unverzichtbar ist, wird es internalisiert. Der jetzt gegen das Objekt gerichtete Hass wende sich sowohl gegen die Person als auch gegen sich selbst. Das Mordobjekt würde in der eigenen Person getötet, nachdem es davor internalisiert wurde, da es abhanden gekommen ist. Zugleich sühne die Person ihre Tat durch den eigenen Tod. Der Selbstmord funktioniert so als Ersatz für die Ermordung eines anderen. Alexander (in: The need for punishment and the death-instinct 1929) geht davon aus, dass umgekehrt, viele neurotische Morde eigentlich verkappte Selbstmorde seien. Die Empirie scheint den Verdacht des Zusammenhangs zwischen Suizid und Mord zu bestätigen. Häufig wurde beobachtet, dass Mörder in ihrer Vergangenheit suizidgefährdet waren: in Dänemark hatten 29% der Mörder einer Stichprobe (Gottlieb und Gabrielson 1990) in ihrer Vergangenheit einen Suizidversuch unternommen. Nach der Haftentlassung begingen 10% vollendeten Suizid und 8% einen Suizidversuch (vgl. Lester 2002).

Erweiterter Suizid/Massensuizid

In seltenen Fällen geht einem Suizid die Tötung Dritter voraus. Es handelt sich hier meist um intime Partnerschaften wie Ehepartner, Eltern-Kind-Beziehungen oder Liebespaare. Immer häufiger treten solche Mord-Suizid-Fälle auch bei älteren Menschen auf. Motive sind hier oft tödliche Krankheiten oder große Schmerzen (vgl. Lester 2002). In diesen Fällen spricht man häufig von einem erweiterten Suizid oder Mitnahmeselbstmord (vgl. Pschyrembel 1993). Der Begriff ist umstritten, da die Tötung Anderer kein Suizid ist. Als Massensuizid (oft auch Massenselbstmord) wird die Selbsttötung einer größeren Gruppe von Menschen verstanden, die meist zeitgleich und mit denselben Motiven durchgeführt wird. Bei einigen als Massenselbsttötung bezeichneten Fällen ist es fraglich, ob es sich um Selbsttötung oder um Mord handelt Es gab Fälle von Massentötungen in jüngerer Vergangenheit, die auf einer Mischung aus Suizid und Mord beruhten (vgl. Lester 2002). Einige der beteiligten Personen verübten Suizid, während andere anscheinend davor getötet wurden (vgl. Jonestown, Guyana, November 1978, mehr als 900 Menschen starben). Es gibt aber auch einige Beispiele, wo sich Gruppen von Menschen das Leben nahmen, anscheinend in gemeinsamer Überzeugung. Die bisher größte bekannte Massenselbsttötung in der deutschen Geschichte ereignete sich in dem Mai 1945 in Demmin. Etwa 900 Einwohner beendeten vor und nach dem Einmarsch der russischen Armee ihr Leben. Gemeinsame Motive könnten hier z.B. Angst vor Folter, Verschleppung und Vergewaltigungen – Dinge die mit Menschen im Krieg passieren – sein. Vielleicht schien der Selbstmord kollektiv als die weniger leidvolle Alternative. In jüngerer Vergangenheit scheinen Massensuizide eher aus pseudoreligiösen Gründen begangen zu werden (vgl. Stepien 1984).1994 fand eine Massenselbsttötung von 61 Mitgliedern der Sonnentempler-Sekte in der Schweiz statt. Die Mitglieder starben durch eine rituelle Verbrennung, welcher danach weitere Anhänger der Sekte folgten. 39 Mitglieder der Sekte Heaven´s Gate nahmen sich bei San Diego in einem Haus gemeinsam das Leben. Motiv war, inspiriert durch die Diskussion um den Kometen Hale-Bopp und den generellen Glauben an außerirdische Lebewesen, eine nach ihrem „okkulten Leben bevorstehende Reise“. Eine „individual transition“ in eine bessere Zeit nach dem Tod sollte stattfinden. Die Sektenmitglieder nahmen starke Schlafmittel, vermischt mit Pudding und Apfelmus und tranken dazu Wodka. Dann legten sie sich auf ihre Betten, der Kopf wurde mit violetten Tüchern bedeckt, an den Fußenden stellten sie gepackte Koffer bereit. Alle Toten hatten neben dem Suizidrezept einen Fünfdollarschein in der Tasche und ein paar Fünfcentmünzen (vgl. Furrer/Widmer). Allgemein ließen sich Massensuizide meist vor, während oder nach Konflikten beobachten (vgl. Furrer/Widmer). Auf der Identifikationsseite einer menschlichen Gruppe seien Konflikt, Hoffnungslosigkeit (Hoffnung auf ein besseres „Leben“ nach dem Tod) und fehlende Fürsprache (keine nennenswerte Lobby der suizidalen Gruppen) jene Faktoren, die in extremer Mischung menschliche Gruppen zur suizidalen Masse werden ließen (vgl. Stepien 1984).

Kriminologische Relevanz

Jörg Schuh („Kriminologische Aspekte des Suizids“, in: Schweizerisches Nationalkomitee für Geistige Gesundheit, Arbeitsgruppe für Kriminologie 1986) ist der Meinung, dass suizidales Verhalten gleicher Natur ist wie abweichendes bzw. kriminelles Verhalten. Folgt man Schuhs Standpunkt innerhalb der Kriminologie, durchläuft jeder Mensch einen Sozialisationsprozess innerhalb seiner Gesellschaft, während dessen er gültige Normen erlernt und verinnerlicht, somit ein Gewissen ausbildet und dadurch eine Orientierung seiner eigenen Verhaltensweisen an den „normalen“ Verhaltensweisen der Gesellschaft entwickelt. Suizid und kriminelles Verhalten gelten innerhalb des geltenden Normgefüges nicht als „normales“ Verhalten, sondern als Konfliktlösungsmöglichkeiten außerhalb der gesellschaftlichen Normen. Diese „anormalen“ Konfliktlösungsmöglichkeiten bilden einen starken Reiz, wobei „krisenanfällige“ (vgl. Schuh) Menschen auf diese Reize ganz besonders ansprächen, wenn diese eine Lösung ihrer Probleme versprächen. Dies verbinde den Suizid mit Konfliktlösungstechniken durch kriminelle Mittel. Schuh plädiert für Gesellschaftssysteme, welche genügend Konfliktlösungspotentiale innerhalb des Normbereiches anbieten und den Individuen ausreichend Gelegenheiten bieten, diese zu erlernen und zu verinnerlichen, z.B. durch ein gesundes Maß an sozialer Kontrolle und gegenseitige Rücksichtnahme.

Strafrechtlich wird der Suizid in Deutschland nicht verfolgt. Auch der Suizidversuch und die Teilnahme (Beihilfe, Anstiftung) sind prinzipiell straffrei. Die "Anstiftung" eines Schuldunfähigen oder die "Anstiftung" anhand einer Täuschung kann dennoch zur „Tötung in mittelbarer Täterschaft“ (§ 25 Abs. 1 Alt. 2 StGB) führen. Haupttäter des Tötungsdeliktes ist dann der Einfluss nehmende Hintermann, da er das Geschehen durch sein Verhalten maßgeblich beeinflusst. Wer aufgrund seiner Garantenstellung verpflichtet ist (z.B. Angehörige, Ärzte etc.), eine Selbsttötung zu verhindern, kann bestraft werden, wenn er die Handlung, zu der er rechtlich verpflichtet ist, unterlässt. Der Gehilfe kann, wenn er, nach dem der Täter die Tatherrschaft verloren hat (z. B. weil er bewusstlos, aber noch nicht tot ist), keine Hilfe leistet, ebenso wegen Unterlassen der Hilfeleistung nach § 323c StGB bestraft werden, da der Suizidversuch einen Unglücksfall in dem Sinne des § 323c StGB darstellt. Die Rechtsordnung gibt ihre Neutralität gegenüber dem Suizid auf, wenn sie die Möglichkeit zum freiverantwortlichen Willensentschluss beeinträchtigt sieht.

International und über die Zeit nimmt die Strafbarkeit der Suizidalität interessante Formen an. Sowohl der Versuch als auch der vollzogene Suizid, sowie die Angehörigen der Suizidanten wurden in der Vergangenheit teils drastisch sanktioniert. In England war der Suizidversuch bis 1961 unter Strafe gestellt. Die Leiche konnte geschändet und geächtet werden z.B. durch Verweigerung einer kirchlichen Bestattungszeremonie oder Abhacken der ausübenden Hand. Bis 1823 wurde dem Leichnam ein Pfahl durch das Herz getrieben (Brauch zurückzuführen auf die Germanen). Noch 1768 stellte Christian VII von Dänemark den Selbstmordversuch unter Strafe und ordnete an, dass „ewige harte Arbeit mit jährlichem Staupenschlage an dem Ort des Delicti den Selbstmörder treffen solle“ (Haenel : Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie 1989). Das komplexe und mysteriöse Phänomen Suizid öffnete dem Aberglauben lange Zeit Tür und Tor. Körperteile und Kleidungsstücke eines Selbstmörders galten in verschiedenen afrikanischen Stämmen als zauberkräftig (Warzen und Kröpfe konnten mit der Hand eines Erhängten geheilt werden), während der Selbstmörder selbst als Unglücksbringer galt. Der Leichnam eines Selbstmörders wurde auf verschiedene Arten „entehrt“, so entstanden auf Friedhöfen separate „Selbstmörderecken“, die Leiche durfte nicht über die Schwelle des Hauses getragen werden, sondern musste durch ein Loch unter der Schwelle durchgezogen werden (vgl. Haenel 1989). Die Selbsttötung ist heute weltweit straflos, nach traditioneller Lehre sogar tatbestandslos (vgl. Kaiser 1985). Allerdings wird sie in fast allen Gesellschaften als Form abweichenden Verhaltens angesehen (vgl. Schuh 1986) und nach wie vor sozial missbilligt. Weitere kriminologische Relevanz: Suizid in Institutionen: siehe anderer Krimpedia-Artikel (Suizid) bzw. Furrer/Widmer: Aspekte suizidaler Handlungen in den westlichen Gesellschaften



Literatur

  • Lindner-Braun, Christa: Soziologie des Selbstmordes; Darmstadt: Westdeutscher Verlag 1990.
  • Haesler, Walter T./Schuh, Jörg (Hrsg.): Der Selbstmord/Le Suicide; Bern: Rüegger1986.
  • Haenel, Thomas: Suizidhandlungen. Neue Aspekte der Suizidologie; Berlin, Heidelberg, New York, London, Paris, Tokyo: Springer 1989.
  • Lester, David: „Suizid“ in: Heitmeyer, Wilhelm/Hagan, John (Hrsg.): Internationales Handbuch der Gewaltforschung; Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002.
  • Furrer, Susann/Widmer, Reto: Aspekte suizidaler Handlungen in den westlichen Gesellschaften; Zürich 1997.
  • Clarke, R.V./Lester, David: Suicide: Closing the Exits; New York, Berlin, Heidelberg, London, Paris, Tokyo, Hong Kong: Springer 1989.
  • Durkheim, Emile: Der Selbstmord; Neuwied, Berlin 1973.
  • Bennefeld-Kersten, Katharina: Suizide in Justizvollzugsanstalten des Landes Niedersachsen in den Jahren 2005 und 2006. Nach Angaben/Unterlagen des Landes zusammengestellt von Nicole Ansorge im November 2007. Text (doc-Datei), Vorblatt (doc.Datei)



Weitere Informationen zum Stichwort Selbstmord finden Sie im Kriminologie-Lexikon ONLINE unter Selbstmord.