Soziale Kontrolle

Etymologie

"Kontrolle" (und das engl. control) gehen auf das frühneuzeitliche französische Verb "conteroller" (regulieren) und das Substantiv "contrerolle" (später "contre-rôle", "contrôle") zurück - also auf Bezeichnungen für die Zweit- oder Gegenrolle zum Abgleich von Soll und Haben in der Buchhaltung. In die Kriminologie gelangte der Begriff der Sozialkontrolle bzw. der sozialen Kontrolle aus der amerikanischen Soziologie (Albion W. Small und George E. Vincent erwähnten ihn schon 1894; zum etablierten Begriff wurde S. durch Edward Alsworth Ross und sein Buch "Social Control" von 1901). - Die Übersetzung von "social control" mit "sozialer Kontrolle" oder "Sozialkontrolle" ist allerdings nicht unproblematisch. "Sozial" ist nicht gleich "social". In "sozial" schwingt ein Element von Mildtätigkeit, Wohlfahrt und Solidarität mit, das sich in "social" nicht ohne weiteres wiederfindet. "Sozialstaat" und "Sozialhilfe" werden deshalb ja auch nicht unter Verwendung von "social", sondern von "welfare" übersetzt. Ähnliches gilt für "control" und "Kontrolle": "Im Englischen hat das Wort control eine positiv gefärbte ... Im Deutschen hat ... Kontrolle eine vorwiegend negative Bedeutung" (Boudon, Bourricaud 1992, S. 475). Manche der zahlreichen Kontroversen über Begriff und Gegenstand der S. sind vor dem Hintergrund dieser Unterschiede besser zu verstehen (zur "False-Friend-Problematik": vgl. Nogala in Peters 2000).


Definition(en)

Viele Missverständnisse rühren daher, dass derselbe Begriff von verschiedenen Wissenschaftlern in jeweils unterschiedlichen Bedeutungen benutzt wird. Manche beziehen den Begriff nur auf Reaktionen auf abweichendes Verhalten, andere hingegen auch auf präventive Maßnahmen wie die Erziehung; während manche eher an die interpersonale Interaktionsebene denken, beziehen andere auch die Makrophänomene der Ideologie und Herrschaft mit ein. Die folgende Auflistung zeigt die ganze Bandbreite der Bedeutungen, in denen S. gebraucht wird:

  • Nr.1: "Social control - the art of so combining social forces as to give society at least a trend towards an ideal" (Vincent 1895/96, S. 488);
  • Nr.2: "By Social Control, on the other hand, I mean that ascendancy over the aims and acts of the individual which is exercised on behalf of the group. It is a sway that is not casual or incidental, but is purposive and at its inception conscious. It is kept up partly by definite organs, formally constituted an supported by the will of society, and partly by informal spontaneous agencies that, consciously or unconsciously, serve the social interest and function under constant supervision from above" (Ross 1895/96, S. 519) - "A CONTROL that we have any right to call social has behind it practically the whole weight of society" (Ross 1901, S. 77); * Nr.3: Soziale Kontrolle bezeichnet die Methoden, mit denen eine Gesellschaft "widerspenstige Mitglieder auf Vordermann bringt" (Berger/Luckmann 1969, S. 80);
  • Nr.4: Social control is "whatever any individual or group does (in order) to have any other individual or group do something" (Lumley 1925, S. 6f.);
  • Nr.5: "The theory of social control is the obverse of the theory of the genesis of deviant behavior tendencies. It is the analysis of those processes in the social system which tend to counteract the deviant tendencies, and of the conditions under which such pressure will operate" (Parsons 1951, S. 297);
  • Nr.6: "Soziale Kontrolle stellt nicht einen getrennten Sektor des Gruppenlebens dar, ... sondern Kontrolle wohnt in größerem oder geringerem Maße allen Alltagsbeziehungen zwischen den Mitgliedern einer Gruppe inne ...Der Prozess, durch den Konformität erreicht wird, nennen wir soziale Kontrolle, wenn wir die Erfüllung von Normen im Auge haben" (Homans 1960, S. 94, 271);
  • Nr.7: "Wir definieren Soziale Kontrolle als: soziale Reaktion auf Verhalten, das als abweichend definiert wird, und zwar sowohl Überanpassung an wie Verletzung von Normen" (Clark, Gibbs 1982, S. 157; org. 1965);
  • Nr.8: "Soziale Kontrolle ist ein Handeln, das darauf zielt, abweichendes Verhalten künftig zu verhindern" (Peters 1989, S. 133); * Nr.9: "Social control is what gives a social order its power. When effective, social control ritually reduces, expels, or constrains what is 'other' to the dominant organization of power within a specific historical period" (Pfohl 1998, S. 1).

Ein weiter Begriff der S. erscheint dann zweckmäßig, wenn man die Absicht hat, aus der Analyse gesellschaftlicher Bemühungen um die Herstellung von Konformität (und ihrer Lücken und Paradoxien) zur Erklärung von Abweichung, Kriminalität und Kriminalisierung zu gelangen. Dann wäre es gut, unter S. alle Ideologien, Wert- und Normsysteme sowie sozialen und technischen Arrangements einschließlich aller positiven und negativen Sanktionen zu verstehen, die der Verhinderung der Entstehung oder der Wiederholung von unerwünschtem Verhalten dienen (vgl. Scheerer, Hess 1997, S. 103 f.).


Vergangenheit

In der Geschichte der Verwendung des Begriffs ist eine derartige "analytische", von präjudizierenden Elementen weitgehend freie Definition, immer mal wieder vorgeschlagen und benutzt worden. Überwiegend hatte man den Wert des Begriffs jedoch gerade in den positiven oder negativen Bewertungen gesehen, die man mit ihm verband. In der ersten und dritten Phase der Geschichte des Begriffs war das am deutlichsten. Die erste Phase reicht vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Zu der Zeit sah man in "social control" das ideale Mittel zur Harmonisierung individueller Interessen, um das Gemeinwohl zu befördern. Im Gegensatz zur unbewußten "natural" und zur autoritären "class" control bezeichnete "social control" (Def. 1 und 2) die Kunst, Menschen unterschiedlichster Herkunft, Überzeugungen und Zielvorstellungen dazu zu bringen, "to live closely together, and to associate their efforts with that degree of harmony we see about us" (Ross 1901, S. 3). - Unter der Ägide des Strukturfunktionalismus (Parsons) wurde S. nicht mehr explizit idealisiert; die implizit positive Bewertung von S. als eines Faktors der Stabilisierung des sozialen Systems, welche die zweite Phase in der Begriffsgeschichte charakterisierte, endete mit der Hegemonie des Strukturfuntkionalismus Mitte der 60er Jahre. Mit Herbert Marcuses Arbeit über "Neue Formen der sozialen Kontrolle" begann eine Phase, in der die umgekehrte Bewertung dominierte. Wer von sozialer Kontrolle sprach, bezog sich auf (meistens verschleierte) Herrschaftsmechanismen und (illegitime) Unterdrückungszusammenhänge. Anders als im Diskurs der Progressive Era war soziale Kontrolle nicht mehr die Bezeichnung eines von Reformkräften angestrebten Ideals, sondern der Höhepunkt der Anklage in einem Entlarvungsdiskurs. S. bezeichnete (illegitime) Mittel der Herrschafts- und Systemstabilisierung. Zu sagen, dass ein bestimmter Vorgang der sozialen Kontrolle diene, bedeutete zugleich, seine Herrschaftsfunktion zu entlarven ("Sozialpolitik als soziale Kontrolle" etc.). S. meinte die Eigenschaft der industriellen Gesellschaft, "dass sie diejenigen Bedürfnisse wirksam drunten hält, die nach Befreiung verlangen" (Marcuse 1964/67, S. 27). Oft waren es die Wissenschaftler, die den Begriff in diesem Sinne inflationär gebraucht und zu Schanden geritten hatten, die des Wortes in einer vierten Phase dann überdrüssig werden und es u.a. als Micky-Maus-Konzept verächtlich machen sollten. In den 80er Jahren wurde häufig vorgeschlagen, das Konzept aufzugeben und zu ersetzen durch Ausdrücke wie "Sozialdisziplinierung" bzw. "Exklusion". Es sollte sich aber zeigen, dass das mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war, die sich nicht ohne weiteres überwinden ließen. Einfacher war es da schon, den Begriff von polemischen Konnotationen aller Art zu befreien und ihn als rein analytisches Instrument zu benutzen. Das war immer mal wieder auch früher schon gefordert worden. Aber nun, in der fünften Phase, wurde diese Idee revitalisiert. Heute bezeichnet S. deshalb wieder öfter als früher "die Gesamtheit aller sozialen Prozesse und Strukturen, die abweichendes Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft ... verhindern oder einschränken" (Hartfiel 1972, S. 355) oder "die in der Hand einer Gesellschaft liegende Menge materieller und symbolischer Ressourcen zur Sicherstellung der Konformität des Verhaltens ihrer Mitglieder im Hinblick auf eine Menge von verbindlichen und sanktionierten Regeln und Prinzipien" (Boudon, Bourricaud 1992, S. 476). Die Untersuchung der S. interessiert sich für die Methoden, Funktionen und Lücken der Bemühungen um die Herstellung von Konformität und um die Prozesse und Kämpfe, die zur Entstehung von Kriminalität und Kriminalisierung führen. Die Erforschung der S. kreist um Fragen wie diese: wer definiert wessen Verhalten als unerwünscht, wer versucht dieses Verhalten warum und wie und mit welchen ungewollten Auswirkungen zu verhindern oder einzuschränken?


Zusammenhänge mit anderen Begriffen

Versteht man unter S. einen hochgradig abstrakten Sammelbegriff für alle sozialen Ordnungsmechanismen, dann ist "Sozialdisziplinierung" ein Begriff geringerer Allgemeinheit, der eine bestimmte Form sozialer Kontrolle bezeichnet. (Das wäre anders, wenn man unter S. nur Reaktionen auf abweichendes Verhalten verstünde; vgl. dazu St. Breuer, Sozialdisziplinierung, in: Sachße, Tennstedt, Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung, 1987.) Ebenso lassen sich soziale Sanktionen, Strafen und Mechanismen und Aktionen der Exklusion als Elemente sozialer Kontrolle ansehen.


Zusammenhänge in der Wirklichkeit

Menschliches Zusammenleben ist ohne soziale Normen und soziale Kontrolle nicht möglich. Allerdings haben sich die vorherrschenden Methoden der S. im Laufe der Menschheitsgeschichte stark verändert. In evolutionär frühen Phasen gab es keine formelle S., dafür aber ein extrem dichtes Netz informeller Kontrollen und hochgradig effektiver Sanktionen (Klatsch, Tratsch, Verlust des Ansehens, Ausschluss aus der Gemeinschaft). Abstrakter gesagt: retributive Reziprozität und pazifizierende Reintegration waren die Prinzipien der informellen S., die während dieser frühen Phase der Menschheit für das Funktionieren der "regulierten Anarchie" (Max Weber) sorgten. In herrschaftlich organisierten Gesellschaften ging es dann nicht mehr nur darum, Gegensätze zwischen Individuen und Kollektiv zu regeln, sondern zusätzlich darum, die "behavior control in society" (Hollingshead 1941) auf die Sicherung der Privilegierten gegenüber den Unterworfenen auszudehnen. Seither ist das Element der Herrschaft aus der S. nicht mehr hinwegzudenken. Seither bedarf es auch spezieller Zwangsstäbe zur Ausübung formeller S., also einer eigens zu diesem Zweck geschaffenen "machinery of coercion necessary to hold the refractory and recalcitrant elements in check" (Ward 1903, S. 133f.). Diese Kontrolle war im Feudalismus durch offene, ebenso brutale wie selektive Gewalt gekennzeichnet. Grund: der Kontrollapparat war noch recht schwach und musste sich auf exemplarische Aktionen verlassen. Der Absolutismus brachte dann die Fundamentaldisziplinierung und der Kapitalismus eröffnete über die Arbeitsdisziplin und das Einbehalten des Mehrwerts neue und weniger gewaltförmige Methoden der S.; diese Mechanismen standen hinter dem von Foucault ("Überwachen und Strafen" ) dargestellten Dreischritt von den Gesellschaften der Souveränität über diejenigen der Disziplin zu denen des therapeutischen Ideals. Während sich unschwer die Rudimente aller früheren Kontrolltypen punktuell auch in dieser Entwicklungsstufe auffinden lassen, verlassen sich alle kapitalistischen Gesellschaften grundsätzlich auf eine Kombination von verallgemeinerter sozialer Disziplinierung und allumfassender bürokratischer Kontrolle. Gegenwärtig nimmt innerhalb dieses Rahmens die Verwendung technischer Elemente als Teil eines generellen Schubes in Richtung auf immer stärkere Rationalisierung und Kommodifizierung der sozialen Kontrolle zu. Dabei sind allerdings widersprüchliche Aspekte und Tendenzen zu erkennen. Gegenwärtig scheint es allerdings, als hätte die stärkste konformitätsgenerierende Macht in westlichen Gesellschaften weniger mit irgendeiner Religion, Kirche oder Ideologie zu tun, als vielmehr mit einem komplexen System der Schaffung von "Bedürfnissen" und der Lenkung der Versuche ihrer Befriedigung. Diese soziale Kontrolle mittels einer "Politik des Verlangens" in tief verwurzelt in der kapitalistischen Produktionssphäre und in der damit zusammenhängenden Konsumethik ("consumerist ethos", Campbell 1987), die ihrerseits eng, wenn auch widersprüchlich, mit einer Tendenz zu immer weiterer Rationalisierung, Routinisierung und Entzauberung der Welt verbunden ist. Bekanntlich erfordert die Kommodifizierung die permanente Stimulierung des Konsums, um neue Märkte zu erschließen und immer neue Produkte abzusetzen. Die damit einhergehende Tendenz zur Überstimulierung und Abstumpfung der Konsumenten kann dazu führen, dass tiefere Gefühlerfahrungen nur noch durch extrem starke Stimuli zugänglich werden. Die warenförmig angebotene Antwort auf diese verallgemeinerte Suche nach "excitement", nach Aufregung und Sensationen, wird in der "Erlebnisgesellschaft" selbst zu einem profitablen Marktsegment. Man denke an Jahrmärkte mit ihren Adrenalin-Sensationen, an Bungee-Sprünge, Abenteuer-Urlaube und ähnliches, aber auch an psychoaktive Substanzen der Stimulanzien-Klasse). Daraus folgt dann der scheinbar paradoxe Befund, dass die Konsumethik in dem Maße an Bedeutung gewinnt, in dem andererseits die kapitalistischen Kosten-Nutzen-Kalküle, der Shareholder-Value, die Rationalisierung der Lohnarbeit und so weiter in den Vordergrund rücken. Diese Konsumethik wird von den Massenmedien und der Jugendkultur konstruiert und transportiert - und sie zeigt nicht nur eine mit Wunschbildern verquickte Welt von Gütern und Diensten, die Spaß, Abenteuer, Glück und Genuss verheißen, sondern baut auch ein erstaunlich einflussreiches System sozialer Kontrolle durch die Weckung und Lenkung positiver Gefühle ("Opiatisierung"). Zumindest bis vor kurzem war es somit vor allem anderen wohl die Hoffnung auf eine immer befriedigendere Teilnahme am Abenteuer- und Erlebnis-Konsum (oder: am Abenteuer namens Konsum), die Menschen dazu veranlasste, sich nicht zu Normbrüchen hinreißen zu lassen, an deren Ende der Ausschluss von solchen Partizipationschancen stehen könnte. Einfach gesagt: Lebenssinn und Selbstentfaltung sind heute eng mit dem Erwerb von Waren der unterschiedlichsten Art assoziiert. Daneben freilich führt die Globalisierung zur Produktion unüberschaubarer Massen, die nur über Mauern, Zäune, Lager und drastische Exklusionsmethoden unter Kontrolle gehalten werden können (Deleuze).


Kriminologische Relevanz

Die kriminologische Relevanz der S. sehe ich in der Bedeutung, die die Kontrolle für die Entstehung von Strafgesetzen und Strafen, aber auch von abweichendem Verhalten und Kriminalität hat. Insofern ist die Analyse der S. die Basis für jede theoretische und empirische Beschäftigung mit der Sinnprovinz der Kriminalität ("Kontrolltheorien der Kriminalität und Kriminalisierung").


Literatur

  1. Boudon, Raymond/Bourricaud, François, 1992: "Soziale Kontrolle". S. 475-481 in: dies., Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. Opladen: Westdeutscher Verlag
  2. Hess, Henner, 1983: Probleme der sozialen Kontrolle. S. 3-24 in: Kerner, H.-J./Goeppinger, H./Streng, F. (Hrsg.), Festschrift für Heinz Leferenz. Heidelberg: C. F. Müller
  3. Nogala, Detlef, 2000, Erscheinungsformen und Begriffswandel von Sozialkontrolle eingangs des 21. Jahrhunderts, in: Peters, Helge, 2000: Soziale Kontrolle. Zum Problem der Normkonformität in der Gesellschaft. Opladen: Leske + Budrich, S. 111-131
  4. Ross, Edward A., 1969: Social Control. A Survey of the Foundations of Order. With an Introduction by Julius Weinberg, Gisela J. Hinkle, and Roscoe C. Hinkle. Cleveland and London: The Press of Case Western Reserve University (Reprint. Orig. New York: Macmillan 1901)
  5. Scheerer, Sebastian, 1996, Zwei Thesen zur Zukunft des Gefängnisses - und acht über die Zukunft der sozialen Kontrolle, in: T. v. Trotha, Hg., Politischer Wandel, Gesellshcaft und Kriminalitätsdiskurse. Baden-Baden: Nomos, 321-334
  6. Scheerer, Sebastian/Hess, Henner, 1997: Social Control: A Defence and Reformulation. S. 96-130 in: Bergalli, R.; Sumner, C. (Hrsg.), Social Control and Political Order. London: Sage.